Eine neue Ordnung

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Eine neue Ordnung
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Armageddon, die Suche nach Eden

Band 10

Eine neue Ordnung

© 2013 Begedia Verlag

© 2013 Dave Nocturn

ISBN: 978-3-95777-022-6 (epub)

Idee und Exposé: D. J. Franzen

Umschlagbild: Lothar Bauer

Layout und Satz: Begedia Verlag

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Die Situation im Lager des Majors normalisiert sich. Jörg, Marion und die Kinder werden vorerst in den Tross integriert, hegen aber weiterhin Ausbruchspläne.

Nach der Flucht aus dem Bunker sind die Pilger erneut auf der Suche nach einen Quartier für den Winter. Auf der Fahrt nach Süden entdecken sie das Flugzeugwrack, mit dem Jörg Hilfe für Sandra holen wollte. Sandra und Erich machen sich auf den Weg, den Spuren der vermissten Gruppe zu folgen, während Martin und die Kinder weiterfahren.

Im Lager spitzt sich die Lage zu, als Hauptmann Klingenberger Jörg und seine Truppe bei einem Gespräch belauscht. Jörg muss handeln und schwärzt Klingenberger beim Major an. Doch der Preis dafür ist hoch.

Sandra und Erich haben das Einkaufszentrum erreicht und entdecken, dass ihre Freunde noch leben. Sie helfen den anderen bei ihren Fluchtplänen, während in der Zombie-Arena ein Kampf auf Leben und Tod in vollem Gange ist.

Was nach purer Lust an Gewalt und Härte des Majors gegenüber seiner Armee aussieht, hat jedoch am Ende ein höheres Ziel:

Eine neue Ordnung.

Kapitel I

Untrautes Heim

Liebes Tagebu

Ach, fuck! Was soll das eigentlich? Niemand wird dieses Tagebuch, unsere Chronik, jemals lesen. Trotzdem muss ich mir den Scheiß der letzten Tage einfach von der Seele schreiben. Und damit fängt das Drama schon an. Habe ich überhaupt noch eine Seele? Wenn ja: Betrüge ich Gott und Teufel gerade gleichzeitig? Ich weiß es nicht, und ich hätte nie gedacht, dass mich solch theologische Fragestellungen einmal so beschäftigen könnten.

»Das hilft dir auch nicht«, sagte Jörg und legte Bernhard eine Hand auf die Schulter.

Der Junge zitterte und hielt sich die Faust, die er gerade mit voller Wucht gegen die Tür ihres Gefängnisses geschlagen hatte. Diese hatte sich keinen Millimeter bewegt, doch den anderen Insassen ihrer provisorischen Zelle klingelten immer noch die Ohren von Bernhards Schmerzens- und Wutschrei.

»Lass mal sehen«, brummte Lemmy. Er griff nach der Hand des Jungen und untersuchte sie vorsichtig, was ihrem Besitzer ein Wimmern entlockte.

»Nicht gebrochen«, murmelte der große Zottel, »aber wohl verstaucht.«

Bernhard zog die Hand zurück und barg sie unter seinem linken Arm.

»Was sollen wir denn jetzt machen?«, kam zaghaft Belindas Stimme aus der Ecke, in der sie kauerte.

Der gerade überstandene Kampf mit den Untoten, den sie und Bernhard nur durch die Hilfe ihrer Freunde hatten überstehen können, zeigte jetzt seine volle Wirkung. Die beiden waren erschöpft, und das mehr als bloß körperlich. Nur die Wut hielt Bernhard aufrecht, die Wut über die Behandlung, die ihnen der Major hatte angedeihen lassen, indem er sie hier in diesem ehemaligen Vorratsraum einsperren ließ, ohne Nahrung, Wasser oder eine Toilette. Und das nach diesem unwürdigen Schauspiel in der Arena. Anders konnte man den Käfig, in dem Bernhard und Belinda alleine und unbewaffnet gegen zehn lebende Tote hatten kämpfen müssen, nicht nennen. Die perverse Zurschaustellung als Unterhaltung für die Truppe des Majors machte das Erlebte nur umso schlimmer. Dabei ging es nicht um Gerechtigkeit, auch wenn der Major es gerne so darstellte. Es ging darum, seinen Untergebenen ein Ventil zu bieten, damit sie ruhig und friedlich blieben, und um sie – hier stutze Jörg in seinen Überlegungen, zufriedener? – zu machen.

Jörg blickte sorgenvoll von einem zum anderen. Besonders lange verweilte sein Blick auf Lemmy, der seit ihrer Begegnung mit dem Anführer dieser seltsamen Armee aus Menschen und Untoten sehr besorgt und irgendwie ... geschlagen aussah. Ja, »geschlagen« war das Wort, das seinen Gesichtsausdruck am ehesten bezeichnete, so, als hätte Lemmy alle Hoffnung verloren.

»Mach das nich’ nochma’, Bursche«, sagte Lemmy mit seiner brummeligen Stimme zu Bernhard. »Wir können getz keine zusätzlichen Blessuren brauchen tun.«

Bernhard setze zu einer Erwiderung an, doch Jörg brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Lemmy, komm doch bitte mal mit«, forderte der ehemalige Luftwaffenhauptmann den Ex-Roady auf.

Der sah ihn fragend an.

»Komm bitte hier herüber, wir müssen etwas besprechen.«

»Hey, was soll das?«, beschwerte sich Thilo, der bisher schweigend neben Belinda gesessen hatte. »Wir gehören auch zu unserer Gruppe. Warum willst du uns ausschließen?«

»Ja, genau«, stieß Mareike ins selbe Horn. »Wir haben ein Recht darauf, dass hier über alles offen gesprochen wird. Wir sind schließlich keine kleinen Kinder mehr!«

Jörg hob die Hände in einer beschwichtigen Geste. »Okay, okay. Ich hab’s verstanden. Also gut, Lemmy, dann in aller Offenheit: Was meinte der Major, als er von den Alten sprach? Und warum scheint er dich zu kennen?«

Der große Mann mit dem zotteligen Haar sah ihn ohne jeden Ausdruck im Gesicht an. Die übrigen im Raum verteilten Menschen ließen ihre Blicke von ihm zu Jörg und wieder zurückspringen, eine bizarre Imitation des Publikums bei einem Tennisspiel. Lemmy schwieg weiter.

»Nun?«, fragte Jörg mit mehr Nachdruck und einem ersten Anflug von Wut in der Stimme. »Willst du es uns nicht sagen? Willst du nicht wenigstens einen Teil deiner Geheimnisse mit uns teilen? Uns, die wir zusammen durch die Scheiße gerobbt sind?« Während er sprach, wurde Jörg immer lauter.

Lemmy sah ihn unverwandt an. Sein Gesicht blieb ohne Ausdruck, doch Jörg schien es, als läge etwas Flehendes in seinem Blick.

»Wir haben ein Recht, alles zu erfahren, verdammt!«, ließ sich Bernhard vernehmen. »Schließlich vertrauen wir uns gegenseitig unser Leben an. Also, was meint Jörg? Was sollst du uns sagen, Lemmy? Warum spüren wir dich nicht richtig?«

Lemmy ließ seinen Blick über die anderen wandern. Seine Kiefer mahlten jetzt.

»Ich ...«, setzte er an, doch dann versagte ihm die Stimme. Er räusperte sich. »Ich … ich kann es euch nicht sagen. Ihr ...«

»Was?«, füllte Jörg die plötzlich entstandene Stille mit lauter Stimme auf. »Was kannst du uns nicht sagen? Jetzt rede endlich! Wir alle hier spüren, dass etwas Besonderes an dir ist. Doch wir können nicht erkennen, um was es sich dabei handelt. Und das macht uns Angst. Du hast uns … mir … unglaublich geholfen. Aber jetzt musst du uns reinen Wein einschenken. Wir kommen hier nur raus, wenn wir zusammenhalten und uns vorbehaltlos vertrauen. Also?«

Marion hatte den Wortwechsel bisher stumm verfolgt, doch jetzt machte sie sich bemerkbar: »Wovon redet ihr da? Was soll denn mit Lemmy sein?«

Auf dem Gesicht des großen Mannes zeichnete sich der Kampf widerstreitender Gefühle ab. Angst, Qual, Trotz, alles zeigte sich.

Jörg sah ihn nach wie herausfordernd an. Mittlerweile hatten sich alle im Raum Befindlichen hinter und neben ihn gestellt. Lemmy stand ihnen alleine gegenüber. Jörg blickte kurz zur Seite und sah die Entschlossenheit im Gesicht der anderen. Scheinbar hatte sich in den Wochen, in denen sie mit Lemmy durch Deutschland gereist waren, unbewusst etwas aufgestaut. Jetzt, unter dem Eindruck der gerade zurückliegenden Ereignisse und der überlebten Gräuel, wollten sie vor allem eines: die Gewissheit, dass sie Lemmy vertrauen konnten. Der Major und Lemmy kannten sich offensichtlich. Und keiner aus der Gruppe konnte abschätzen, was das bedeuten mochte. Lemmy mussten ihnen hier und jetzt Rede und Antwort stehen, andernfalls verspielte er das Vertrauen der Gruppe ein für alle Mal.

Jörg las all das im Gesicht des anderen, und innerlich beschwor er ihn, endlich zu reden. Lemmys Schweigen kondensierte langsam zu einem Unwohlsein in der Gruppe, das nach und nach zu offenem Misstrauen wurde.

Sprich endlich, sandte Jörg einen Gedanken mit aller Macht in Richtung des zotteligen Mannes.

Lemmys Augen weiteten sich einen kleinen Moment, und er schnupfte vernehmlich. Dann nickte er. »Also gut« ließ er schließlich seine raue Stimme ertönen. »Ihr habt recht. Ich kenne den Major – oder das, was er früher einmal war, in einem anderen Leben, einem Leben vor dem Tod. Ihn und mich verbindet eine gemeinsame ...«

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Ein Trupp Bewaffneter stand draußen.

»Mitkommen!«, schnarrte einer der Männer und deutete mit seiner Waffe auf den Gang.

Jörg stellte sich vor ihn. »Was soll das, Soldat? Wir sind müde, erschöpft und haben weder etwas zu essen noch zu trinken bekommen. Und jetzt wollt ihr uns wer weiß wohin bringen?«

Ansatzlos stieß der andere seinen Gewehrlauf in Jörgs Bauch. Stöhnend ging Jörg in die Knie.

Marion entfuhr ein Entsetzensschrei: »Jörg!« Sie eilte zu ihm und kniete neben ihm nieder. »Sag was!«

Jörg stöhnte und krümmte sich vor Schmerzen zusammen.

Marion starte zu dem Soldaten hoch. »Musste das sein?«

Der Soldat grinste und deutete mit dem Gewehr den Gang hinunter. »Der Major will Sie sehen.«

»Was will er von uns?«, wollte Lemmy wissen.

Der Mann hob kurz die Schultern und wiederholte seine Aufforderung mit dem Gewehr.

»Nicht sehr gesprächig, was, Jungchen?«, grantelte Lemmy, bedeutet den anderen aber, ihm zu folgen.

Er trat auf den Flur und sah den Soldaten intensiv an. Dessen Lächeln erstarb unter diesem Blick, wurde regelrecht weggebrannt. Der Mann schluckte vernehmlich und drehte sich dann um. Ein kurzes Lächeln huschte über Lemmys Gesicht. Bernhard sah es und runzelte die Stirn. Die Gefühle, die er schwach von Lemmy erspüren konnte, sagten etwas anderes. Bernhard spürte Angst – ja, Angst.

 

Langsam und zögerlich erhoben sich die Mitglieder der Pilgergruppe und traten hinter Lemmy hinaus auf den Gang. Marion stützte Jörg, der immer noch mit den Folgen des Stoßes in die Magengrube zu kämpfen hatte.

Als alle auf dem Flur standen, wurden sie von den Männern des Majors umringt. Die Truppe setzte sich in Richtung auf die Haupthalle in Bewegung. Niemand sagte ein Wort, doch die Gesichter sprachen Bände. Die der Soldaten wirkten entschlossen, auf denen der Pilger lag Sorge.

Belinda schaute sich verstohlen um und suchte den Blickkontakt mit Bernhard. Der nickte ihr kaum merklich zu und lächelte ganz leicht. Sie las in seinem Blick neben der Sorge auch den Willen, nicht kampflos unterzugehen.

***

In der Haupthalle des Einkaufszentrums angekommen ließ der Anführer der Bewaffneten alle anhalten. Die Pilgergruppe stand eng zusammengedrängt, bewacht von drei Posten, die ihre Gewehre im Hüftanschlag hielten. Jörg hatte sich mittlerweile einigermaßen erholt und betrachtete ihre Peiniger genauer. Die Männer trugen keine einheitliche Uniform, doch war ihre Kleidung offensichtlich nach militärischen Überlegungen ausgesucht worden. Sie schien viel Bewegungsfreiheit zu geben. Es gab keine Schlaufen oder Riemen, mit denen man sich irgendwo verheddern konnte, und die Taschen besaßen alle eine dicht schließende Klappe.

Die Männer hatten sich so aufgestellt, dass sie sich nicht versehentlich gegenseitig unter Feuer nahmen, sollten sie schießen müssen. Wer sie auch waren, ihre Ausbilder hatten auf jeden Fall den Drill in einer Kampfeinheit genossen.

Während die Gruppe um Jörg unruhig darauf wartete, wie es weitergehen sollte, zogen sich die übrigen Männer ihrer »Eskorte« neben der Eingangstür aufgehängte dicke Mäntel an. Jörg konnte im Halbdunkel vor der Tür Schneeflocken sehen, die um das Gebäude tanzten.

Ihre Wachen wurden abgelöst, damit auch sie sich umziehen konnten. Schließlich waren alle ausgerüstet und nahmen die Pilger wieder in ihre Mitte.

»Los, nach draußen«, befahl der Gewehrschläger.

»Was? Und wo sind unsere Mäntel?«, protestierte Marion.

»Schnauze! Los, geht schon!« Der Anführer stieß Marion den Kolben seines Gewehres in den Rücken, um sie anzutreiben.

Marion stolperte ein paar Schritte, um den Stoß abzufangen, und prallte gegen den vor ihr gehenden Soldaten. Der geriet aus dem Tritt und fiel gegen die noch geschlossene Tür. Sofort richteten sich die Waffen der übrigen Wachen auf die Gruppe.

»Stopp! Nicht schießen! Das war ein Versehen!«, schrie Jörg, die Hände erhoben. Er drehte sich zu den Pilgern um und bedeutete ihnen, ebenfalls die Hände zu heben. Nur Lemmy kam der stummen Aufforderung nicht nach.

Der Mann, der gegen die Tür gefallen war, rappelte sich auf. Er betastet vorsichtig seine Nase, aus der ein dünner Blutfaden rann. Seine Gesicht verzog sich vor Scherzen, als er ein wenig am Nasenbein drückte. »Schlampe«, zischte er und schlug Marion mit der flachen Hand ins Gesicht.

Die schrie erschrocken auf und hielt sich die Wange. Tränen schossen ihr in die Augen. Bernhard knurrte und wollte sich auf den Schläger stürzen, doch Thilo hielt ihn eisern fest.

Der Anführer der Männer nickte. »Seid froh, dass der Major mit euch reden will, sonst ...«

Das anzügliche Grinsen sowie das schäbige Gelächter seiner Kameraden ließen nur erahnen, was den Pilgern geblüht hätte, wären sie nicht zum Major einbestellt worden.

Jörg nahm Marion in den Arm und sprach leise und beruhigend auf sie ein. Dabei ließ er den Schläger nicht aus den Augen. Dieser grinste frech, verzog dann aber wieder das Gesicht, als die Grimasse erneut Schmerzen in seiner Nase auslöste.

»Los jetzt, genug Spaß für heute. Der Major wartet!« brüllte der Anführer und riss die Tür auf.

Kälte sickerte zunächst langsam, dann mit der Gewalt eines tobenden Flusses in die Halle. Die Pilger begannen sofort zu zittern.

»Dann mal los, bevor ihr hier festfriert«, sagte eine der Wachen und lachte.

Die Männer in den Mänteln bestimmten das Tempo, das für die nur unzureichend gekleideten Menschen der Pilgergruppe viel zu langsam erschien. In sich zusammengezogen trotteten sie dahin, Schneeflocken ließen sich auf ihren Haaren, ihrer Kleidung und ihrer Haut nieder.

Nach ein paar Minuten, die ihnen wie gefühlte Tage vorkamen, hielt der Trupp an. Sie standen vor einem riesigen LKW, der sich schemenhaft im Schneegewirbel abzeichnete. Einer der Soldaten ging an der Seite des LKW entlang. Sein Umriss wurde von den tanzenden Schneeflocken langsam verwischt. Schließlich hörten die Wartenden Schritte auf einer Metallleiter und kurz darauf, wie der Mann gegen etwas klopfte.

Eine Tür wurde geöffnet und eine barsche Stimme erklang: »Was ist?«

»Melde mich mit den Gefangenen, Herr Hauptmann.«

»Sehr gut. Der Major wurde schon unruhig. Dann führen Sie die Leute mal her.«

»Jawohl, Hauptmann Klingenberger!«

Der Soldat kehrte zur Gruppe der zitternden Pilger zurück. »Los, mitkommen!«

Der Mann führte die Menschen zum LKW. Dort angekommen ließ er sie anhalten. Ein Murren wehte durch ihre Reihen. Ihr Führer stieg die Treppe hinauf und klopfte wieder gegen die Tür. Klingenberger öffnete und starrte auf die Schatten der Pilger. Sekunden dehnten sich, und der Schnee ließ sich auf den Haaren und Schultern der Wartenden nieder.

Schließlich nickte Klingenberger. »Los, rein hier«, herrschte er.

Die Pilger stiegen einer nach dem anderen die Metalltreppe hinauf und drängten sich in den schmalen Korridor, der nach rechts von einer Funkstation begrenzt wurde und nach links zwischen Aktenschränken hindurch in das Halbdunkel des LKW führte. Klingenberger schritt voran.

»Unheimlich«, flüsterte Mareike.

Bernhard, der vor ihr ging, nickte.

Nach ein paar Schritten blieb Klingenberger stehen und hob die Hand zum Zeichen, dass sie anhalten sollten. Vor ihnen erhellte eine kleine Tischlampe einen büroähnlichen Raum. Am Rande des Lichtkegels ließ sich eine Gestalt erahnen.

»Ah, meine lieben Gäste. Kommen Sie doch näher.«

Die Stimme besaß eine papierene Konsistenz, fand Marion, und sie ließ Gänsehaut über die Arme der Frau laufen.

Zögernd trat die Gruppe weiter vor. Schließlich blieben sie vor dem Tisch stehen, hinter dem sie die Gestalt des Majors erahnen konnten.

»Lassen Sie sich anschauen. Man sieht schließlich selten so viele außergewöhnliche Menschen auf einen Schlag.«

Blicke flackerten zwischen den Pilgern hin und her. In den meisten Augen stand Angst und Unsicherheit darüber, was der Major mit ihnen vorhatte und woher er ihr Geheimnis kannte. Nur Marions Augen zeigten neben der Angst auch Verwunderung.

Jörg fing sich als Erster und räusperte sich. »Warum sind wir außergewöhnliche Menschen? Weil wir die Apokalypse bis jetzt überlebt und uns durch den Winter nicht haben unterkriegen lassen?«

Der Major ließ ein heiseres Kichern hören. Er schien sich großartig zu amüsieren.

»Wie heißen Sie?«, fragte er schließlich, nachdem sein Heiterkeitsausbruch abgeklungen war.

Jörg zögerte einen Moment, bevor er antwortete »Jörg Weimer, Hauptmann der Luftwaffe der Bundesrepublik Deutschland.«

Der Major lachte erneut. »Die Bundesrepublik? Fühlen Sie sich wirklich noch der Republik verpflichtet, die Sie und Ihre Mitstreiter offensichtlich nicht schützen konnte? Sie überraschen mich, Herr Hauptmann.«

Jörg starrte auf die Silhouette, die sich hinter dem Tisch abzeichnete. Er schwieg.

»Nun gut, ich respektiere ihre Meinung, kann sie aber nicht gutheißen. Ich bin mir jedoch sicher, dass Sie sich bald meiner Auffassung anschließen, dass die alten Strukturen nicht mehr existieren und sich auch nicht mehr etablieren werden. Eine neue Ordnung wird an ihre Stelle treten.«

»Der Sie dann vorstehen?«

»Ich bin nur ein Diener meiner Schutzbefohlenen, Herr ... Hauptmann.«

»Ja, klar«, schnaubte Jörg.

Der Major lehnte sich ruckartig nach vorne in den Lichtkreis der Lampe. Graue Haut wurde sichtbar. Jörg hörte hinter sich ein kollektives überraschtes Einatmen.

Ein Totlebender!, durchzuckte es Jörg.

Der Major starrte ihn unverwandt an. »Zweifeln Sie etwa daran?«, wollte er mit schneidender Stimme wissen.

Der Angesprochene sagte nichts und betrachtete den vor ihm sitzenden Superzombie scheinbar ruhig und gelassen. Doch seine Gedanken rasten. Wie kann er ein Totlebender sein? Ich dachte, das ginge nur mit dem Virus von Steins?

» Ich warte auf Ihre Antwort, Herr Weimer«, drang die Stimme des Majors in Jörgs Gedankenchaos.

Der riss sich zusammen und erwiderte den fordernden Blick seines Gegenübers kühl. »Sie mögen recht haben. Die Gesellschaft, wie wir sie kannten, ist nicht mehr. Doch das heißt nicht, das zivilisiertes Handeln und Benehmen ebenfalls tot sind.«

»So spricht niemand mit dem Major!«

»Lassen Sie es gut sein, Klingenberger. Der Hauptmann spricht nur offen aus, was er denkt. Ich respektiere das. Er hat einen Standpunkt. Er vergisst nur, dass Standpunkte keine Menschen ernähren und sie am Leben halten. Das, was er als zivilisiertes Verhalten beschreibt, ist nur eine Tarnbemalung für das Tier, das immer noch unter der Oberfläche haust. Und zwar gar nicht so tief.«

Der Major hatte sich während seiner Rede erhoben und stand jetzt auf seine Arme gestützt leicht vorgebeugt. Er fing Jörgs Blick ein, und dieser spürte eine Welle unterschiedlichster Gefühlen, die vom Major zu ihm herüberschwappte. Wut, Berechnung, Neugier waren die beherrschenden Emotionen, die von dem untoten Anführer der Soldaten ausgingen. Der Sturm, der draußen tobte, ließ die Stille, die den Worten des Majors gefolgt war, noch intensiver wirken.

Jörg zögerte mit der Antwort. Sicherlich lag der Major mit seiner Einschätzung gar nicht so falsch. Der Zusammenbruch der Zivilisation hatte bei vielen Menschen alle gesellschaftlichen Ketten zerrissen. Doch gerade deshalb musste es Menschen geben, die an den Werten der Menschlichkeit festhielten. Jörg setzte zu einer Antwort an ...

***

»Da vorne geht’s nicht weiter. Wieder mal!« Roland schlug mit der flachen Hand auf das Armaturenbrett des Busses.

Ich zuckte zusammen. Unwillkürlich bleckte ich die Zähne. Erschrocken über mich selbst schloss ich schnell wieder den Mund. Ruhig, Sandra, rief ich mich selbst zur Ordnung, hoffentlich bevor jemand meine gefletschten Zähne hatte bemerken können.

Steins blickte Roland leicht missbilligend an. »Roland, bitte. Die Kinder haben sich erschreckt. Geht das nicht auch ein bisschen sanfter?«

Roland sprang förmlich auf den Doktor zu. Der wich keinen Zentimeter zurück. Auch, wenn er kleiner und leichter war als der kräftige Mann, war er ihm als Totlebender trotzdem weit überlegen.

Dicht vor Steins baute sich Roland auf und ließ seine Muskeln spielen. »Jetzt pass mal auf, Doc! Die Straßen sind beschissen. Das Wetter ist beschissen. Das Essen ist beschissen. Unser Sprit reicht auch nicht ewig. Einige unserer Freunde sind verschollen oder tot oder Schlimmeres. Wir haben immer noch keine Ahnung, wo Eden liegt oder was es ist. Da draußen laufen zirka fünf Milliarden Zombies rum und sehen in allen Lebenden nur Snacks auf zwei Beinen. Also lass mich gefälligst mit der Hand hauen, wann ich will!«

Die übrigen Insassen des Busses verfolgten den Disput zwischen Roland und Steins stumm. Bei Rolands Ausbruch wichen sie so weit wie möglich zurück. Es machte fast den Eindruck, als ob seine Lautstärke sie wegdrückte.

Steins stand nach wie vor ruhig vor Roland und sah zu ihm auf. Dann seufzte er. »Ich sehe ein, dass alle unter großem Stress stehen und die Situation wahrlich nicht toll aussieht. Eben darum sollten wir alles vermeiden, was zusätzliche Unruhe bringt. Entschuldige, wenn ich dich aufgeregt habe. Es tut mir leid.«

Roland atmete immer noch laut schnaufend ein und aus, dabei klang er wie der Bär, dessen Statur er ohnehin besaß. Dann richtete er sich auf und strich sich mit der Hand durch die kurzen, grauen Haare. Langsam beruhigte sich sein Atem, und seine Gesichtsfarbe wurde etwas weniger rot. Er funkelte einen Moment lang Steins an, dann fiel sein Blick auf die zusammengekauerten Kindern auf den hinteren Sitzbänken. Angst hatte einen Schatten auf ihre Gesichter gelegt, und mir schien es, als habe ich diese Gesichter nie anders als so gesehen. Es fiel mir plötzlich schwer, mir die Kinder unbeschwert vorzustellen.

 

Unwillkürlich ballte sich Rolands linke Faust. Ich legte meine Hände sanft auf die seine und drückte die Finger auseinander. Ich lächelte ihn an. »Bleib ruhig, Großer. Wir brauchen jetzt alle einen kühlen Kopf, deinen kühlen Kopf. Du musst dieses Scheißding von Bus nämlich weiterfahren, sonst kommen wir niemals in Eden an. Unser lebender Kompass«, ich deutete mit dem Kopf auf Martin, »wird uns schon führen. Mach dir da mal keine Sorgen.«

Rolands Blick flackerte ein bisschen, als er erst auf meine Hände und dann auf mein Gesicht sah. Ich konnte förmlich hören, was er dachte: Sandra war einmal eine so attraktive Frau. Aber jetzt? Graue Haut, ein Hauch von Verwesung als Parfum …

Langsam zog er seine Hand aus meiner, vorsichtig, als erwartete er, dass mich eine hastige Bewegung zum Zuschnappen verleiten könnte. Er lächelte, doch seine Augen blieben daran unbeteiligt. Ich spürte, wie mein Lächeln regelrecht versickerte. Ich zwang es zurück auf mein Gesicht und nickte ihm aufmunternd zu. Dann wandte ich mich ab und ging zu Steins. Der bemerkte die Trauer und auch die langsam aufflammende Wut, die sich in mir aufbauten. Beruhigend legte er seine Hand auf meinen Arm.

»Er kann nicht anders«, formten seine Lippen lautlos die Worte.

Ich schwieg, meine Augen zeigten sicherlich deutlich genug, was ich dachte und fühlte.

Roland ließ den Motor wieder an, und ich gab mir einen Ruck. Mein Zorn war verraucht, doch Steins wusste nur zu gut, dass er immer noch tief in mir loderte. Vermutlich dachte er das Gleiche wie ich. Er und ich, wir waren nur geduldete Monster, nützliche Verbündete, denen trotzdem immer nur Misstrauen entgegengebracht wurde. Spürte er, dass ein Teil meiner Wut ihm galt? Dafür, dass er mich zu diesem Monster gemacht hatte. Dafür, dass er mein Leben gerettet hatte, indem er mich in eine Untote verwandelte. Hatte er damit mein Leben gerettet? Ich lebte nicht mehr. Doch als Tod konnte man meinen Zustand auch nicht bezeichnen.

Ich sah, dass Steins’ Gedanken wegdrifteten, als uns ein Ausruf von Jessica aus unseren Gedanken riss: »Schnell, halt an, Roland! Doktor Kleinmann geht es nicht gut. Er hat gerade Blut gehustet!«

Steins löste sich gänzlich aus seiner Starre und eilte in den hinteren Teil des Busses, in dem Levi in Decken gehüllt auf einer der Sitzbänke lag. Tiefe Augenringe zeichneten sich deutlich auf dem bleichen Gesicht ab. Ein Hustenkrampf schüttelte den dürren Körper des Arztes.

»Verd… verd... verdammt...« Husten zerstückelte das Wort, das Levi gerade sprechen wollte.

»Verdammte Grippe«, kam ihm Mark zu Hilfe, ein sonst eher schweigsames Mitglied der Pilgertruppe.

Levi nickte, schwach und gezeichnet vom Fieber, mit dem die Grippe ihn heimsuchte.

Steins kniete sich neben dem Kranken nieder und legte eine Hand in dessen Nacken. »Auch, wenn ich nicht besonders gut fühlen kann, aber Levi glüht wie ein Backofen. Jessica, geh zu meiner Tasche und hol sie bitte her.«

Das Mädchen ging nach vorne und griff sich die große Leertasche, in der Steins die Medikamente mitführte, die sie bei ihrer Flucht aus der Suite 12/26 hatten retten können. Sie kehrte zu der Gruppe um Levi zurück und reichte Steins die Tasche.

»Danke. Mal sehen.«, Der untote Doktor kramte in den Tiefen der großen Arzttasche herum. Schließlich fand er, wonach er suchte. Er zog eine Spritze und eine Packung aus der Tasche. In der Packung klirrte es leise. Steins öffnete sie und holte eine Ampulle, gefüllt mir einer wasserklaren Flüssigkeit, heraus. Er brach den Kopf des Glasbehälters ab und zog den Inhalt des kleinen Fläschchens in die Spritze.

»So, dass wird jetzt gleich ein wenig wehtun, Herr Kollege. Aber keine Angst, nicht mir.«

Steins altbackener Scherz lockte nicht einmal ein müdes Kichern hervor. Er stieß dem Kranken die Nadel in den Oberarm und injizierte Levi langsam den Inhalt der Spritze.

»Es wird die Grippe nicht vertreiben«, flüsterte er dabei in Levis Ohr, »aber es wird das Fieber ein wenig senken.«

Ich stand hilflos daneben, und einen Moment lang hatte ich das Gefühl, einen Schatten über Levi schweben zu sehen, von dem dünne, dunkle Fäden zum Kopf und zur Brust des ehemaligen Dorfarztes liefen. Energisch schüttelte ich meinen Kopf. Scheinbar waren die Ratten, die ich heimlich fing, um mich zu ernähren, doch nicht genug, und der Mangel an Nährstoffen ließ mich Dinge sehen, die nicht da sein konnten. Ich kniff meine Augen zusammen und riss sie wieder auf. Der Schatten war verschwunden, wie ich es erwartet hatte. Leider. Mir wäre lieber gewesen, er schwebte noch über dem Kranken, dann hätte ich nicht darüber nachdenken müssen, was mit mir nicht stimmte – außer dass ich ein Zombie mit Vernunft war, potenziell unsterblich, und Ratten aß, damit ich meine Mitreisenden nicht anfiel.

Unwillkürlich schnaubte ich. Steins sah stirnrunzelnd zu mir hoch.

»Nichts, Doc. Mir ist nur gerade etwas eingefallen.«

Steins blickte mich noch einen Moment fragend an. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Levi zu. Er horchte mit einem Stethoskop die Lunge und das Herz ab. Dabei lächelte er nichtssagend. Schließlich steckte er das Instrument wieder in seine Tasche, gab Levi einen leichten Klaps auf den Arm und stand auf. Er wandte sich nach vorne und zog mich dabei mit sich. Als wir bei Roland ankamen, räusperte sich Steins. Roland wandte sich zu ihm um.

»Wir müssen dringend einen Unterschlupf finden. Levi ist nicht mehr transportfähig. Er braucht Ruhe. Wir müssen ihn in eine gleichmäßig geheizte Umgebung bringen, in der wir ihn außerdem mit leichter Kost und frischem Wasser versorgen könne.«

»Na prima«, sagte ich, bevor Roland reagieren konnte. »Wie wär’s dazu mit ein paar fürsorglichen Krankenschwestern und einem Sauerstoffzelt?«

»Sandra, ich verstehe deinen Sarkasmus«, erwiderte Steins, »aber der ist hier fehl am Platze. Levi stirbt. Wenn wir ihn besser versorgen können, stirbt er vielleicht nicht. Zumindest nicht so schnell.«

Steins musste nicht betonen, was der Tod für einen Menschen heutzutage bedeutete. Nicht jeder hatte die Möglichkeit, als Totlebender wiederzukehren.

»Das ist mir klar, Doc. Aber wo zum Teufel sollen wir denn hin? Selbst wenn wir eine Unterkunft auf dieser beschissenen Straße finden würden, wir hätten keine Heizung, leichte Kost auch nicht und frisches Wasser ist ebenfalls Mangelware. Oder hast du in letzter Zeit einen funktionierenden Wasserhahn gesehen?«

Ich fauchte regelrecht, aber es war mir egal. Steins sollte bloß nicht glauben, dass mir Levi gleichgültig war. Doch wir mussten auch berücksichtigen, was ein Halt bedeuten würde. Das alte Dilemma: ein Tod gegen den möglichen Tod oder zumindest eine rapide Verschlechterung der Situation Vieler, Levi oder alle anderen Lebenden der Gruppe.

Roland hatte bisher schweigend zugehört. Jetzt richtete er sich auf, legte mir eine seiner Pranken auf die Schulter. »Ruhig, Sandra. Wir machen uns alle Sorgen um Levi. Und um unser aller Wohl. Was das Wasser angeht, da draußen ist genug.« Er zeigte auf den Schnee, der draußen herumwirbelte. »Und einen Unterschlupf kann ich vielleicht auch bieten. Wenn die Karte stimmt, dann kommt bald ein Rasthof. Muss einmal ein Ausflugslokal gewesen sein, hier in dieser Region. Vielleicht finden wir dort, was wir suchen. Ich kann mir vorstellen, dass es da einen Kamin oder eine andere Holzheizung gibt. Die Gegend ist so verlassen, da haben sich die Wirtsleute sicherlich unabhängig von einer zentralen Versorgung wie Gas und Ähnlichem gemacht.«

»Und wenn es eine Ölheizung ist? Ohne Strom funktioniert die auch nicht.«

Martin hatte sich auch mal wieder zu Wort gemeldet. Der kleine Scheißer. Widerspruch regte sich in mir, alleine weil es Martin war. »Pass mal auf, du Kassandra! Wenn wir immer nur das Schlimmste annehmen würden, könnten wir uns alle gleich eine Kugel durch den Kopf jagen!« Mir war egal, ob ich ihn damit traf oder nicht. Im Moment konnten wir solche Pessimismusargumente nicht gebrauchen.