Loe raamatut: «Sjoerd Gaastra 1921-2013», lehekülg 2

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Der Vater – Gerrit Gaastra


Vor der Abreise nach Indonesien.

Mein Großvater war das „Schwarze Schaf“ der Familie, tief schwarz, schwärzer ging nicht. Aber nicht durch eigenes Verschulden, sondern durch die Umstände seiner ersten Lebensjahre. Er wurde nicht kriminell, abgesehen von einer vielleicht kreativen Kassenführung für die niederländische Nazipartei. Ein Testament zu unterschlagen war auch unnötig, das absolut nichts zu vererben war, nicht mal das Ansehen seiner Person.

Die Niederlande waren schon immer das am dichtesten besiedelte Land Europas, das hieß Wohnraum war schon immer knapp. Das junge Ehepaar fand keine geeignete und bezog vorerst ein möbliertes Zimmer. Der neugeborene Stammhalter wurde seiner Großmutter in Obhut gegeben. Dort blieb er für mehr als ein halbes Jahr. Wenige Wochen, nachdem er zu seinen Eltern zurückgekehrt war, stand der Großvater vor der Tür und bat um die Rückgabe des Enkels weil seine Frau seelischem Schaden drohte zu nehmen. Die junge Mutter war erneut schwanger und vermutlich war auch finanzielle Unterstützungen der Grund, dass dem Wunsch nachgegeben wurde. Mein Großvater blieb acht Jahre bei seinen Großeltern, bis zum Tode seines Großvaters und dem Umzug der Witwe in ein sehr mondänes Altersheim. Als Achtjähriger kam der Junge zurück in seine Familie, wo er plötzlich fünf Geschwister hatte und nicht mehr die erste Geige spielte. Vorkommnisse sind nie nach außen gedrungen, aber es muss sie reichlich gegeben haben. Das Verhältnis zu den Eltern und Geschwistern blieb auf ewig gestört. Das Problem war nur, er war der Älteste, er war der Kronprinz und würde eines Tages das Familienoberhaupt werden.

Über die Schulbildung ist nichts bekannt, oder vorsätzlich nichts bekannt geworden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass seine Intelligenz oder sein Sozialverhalten eine höhere Schulbildung verhinderten. Die Brüder haben alle eine gymnasiale Ausbildung erhalten und dadurch auch bessere Berufschancen gehabt. Nach der achtjährigen Grundschule trat er eine Konditorlehre an, die er mit mäßigem Erfolg abschloss. Den Beruf hat er aber nie ausgeübt. Während der Lehrzeit lernte er seine spätere Frau kennen, die als Verkäuferin im benachbarten Milchgeschäft arbeitet. Es muss wohl sehr früh schon eine innige Beziehung gewesen sein, jedenfalls musste die Schwester ihren Bruder nach der Arbeit immer in der Konditorei abholen um ein Zusammensein mit den Mädchen zu verhindern. Aber wo ein Wille ist, ist bekanntlich auch ein Gebüsch. Nach diversen beruflichen Fehlstarts ließ sich mein Großvater von der Eisenbahn zum Telegrafisten ausbilden. Seinerzeit eine wichtige Aufgabe, da es noch kein Telefon gab und Nachrichten zwischen den Bahnhöfen mittels Morsegeräten übertragen wurden. Seine Bahnstation war ein winziger Bahnhof in einem Dorf, 16 km von Leeuwarden entfernt, an der eingleisigen Strecke nach Groningen, den einmal pro Stunde ein Zug passierte sowie gelegentliche Güterzüge. Viel zu tun war dort nicht und dort hat er sich wohl auch das Arbeiten abgewöhnt. Jedenfalls atmete die Familie auf, als er 1920 beschloss nach Indonesien auszuwandern. Besonders wohl auch, weil damit die endgültige Trennung von der Frau möglich war. Romeo und Julia nahmen also Abschied, aber so intensiv, dass es nicht folgenlos blieb.

Mein Großvater muss wohl ein schwieriger Charakter gewesen sein und einen Hang zum Choleriker gehabt haben. Die häufigen Wechsel der Bahnstationen über ganz Java von Batavia bis Surabaya waren wohl eher Querelen mit den Mitarbeitern geschuldet als beruflicher Aufstieg. Mein Großvater hat es nie weiter gebracht als zum Stationsvorsteher II. Klasse. Das Geld hat seine Frau verdient, und das soll nicht wenig gewesen sein.


Der Bahnhofsvorsteher in seinem Büro, 1927

Nach 12 Jahren quittierte er den Dienst und kehrte vom Heimweh getrieben nach Friesland zurück. Nicht vor Sehnsucht nach der Familie. Seine Frau und die Kinder wären lieber auf Java geblieben. Nach 6 Dienstjahren konnte die Familie einen Heimaturlaub von einem halben Jahr machen. Die Gelegenheit wurde auch genutzt um den Daheimgebliebenen zu zeigen, wie weit das schwarze Schaf es gebracht hatte. Eltern und Geschwister, auch die der Ehefrau wurden mit Geschenken überhäuft. Alle bekamen das Gleiche, die Männer ein Rauchservice aus Messing, eine Arbeit mittlerer Qualität aus den Werkstätten in Yogyakarta und die Frauen ein japanisches Teeservice und hauchdünnem Porzellan, zum Gebrauch gänzlich ungeeignet. Die Ehepaare bekamen zusätzlich noch eine kleine Lampe aus einer geschnitzten Holzfigur, chinesischen Ursprungs noch auch keine Qualität. Seinen Schwiegereltern kaufte er sogar ein Reihenhäuschen als Alterssitz. Soweit möglich wurden diese Geschenke nach dem Kriege wieder eingesammelt und bilden nun den Grundstock für den Fideikommis, über den im letzten Kapitel berichtet wird.

Nach der Rückkehr fand er nicht die Situation vor, die er sich erhofft hatte und wurde auch nicht in den Dienst der Eisenbahn übernommen. Eine Abwärtsspirale setzte sich in unaufhaltsam in Gang. Schuld waren nach seiner Meinung nicht seine Unfähigkeit in Geschäftsbelangen, sondern alle anderen. Besonders seine Eltern und Geschwister, die er beim Heimaturlaub doch so mit Geschenken überschüttet hatte und ihn nun fallen ließen wie eine heiße Kartoffel. Den Vorschlag eines Bruders mit ihm einen Brennstoffhandel zu gründen wurde mit der Begründung abgelehnt sein Bruder würde ihn doch nur übervorteilen und wäre ausschließlich auf sein Geld aus. Aus dem Plan des Brennstoffhandels wurde dann ein florierender Baustoffhandel, dessen phänomenalen Erfolg nach dem Krieg mein Großvater nicht mehr miterleben musste. Somit wurde er in die Arme des NSB, dem niederländischen Naziableger getrieben. In der Partei stieg er bis zum Kassenwart für die Provinz Friesland auf. Die materielle Not veranlassten meinen Großvater sich an der Kasse zu vergreifen Oder sich ein nicht genehmigtes Darlehn zu gönnen, dessen Rückzahlung dann vergessen wurde. Die Familie deckte den Mantel des Schweigens über diese Episode. Ein offiziell nicht mehr existierendes Familienmitglied konnte auch keine Schande über die Familie bringen. Als amtierendes Familienoberhaupt bin ich jetzt in der gleichen Situation wie die Oetker-Erben. Licht in das Dunkel dieser Zeit zu bringen. Aus den Mitteln der BATAVUS-Gaastra-Stiftung habe ich einen Forschungsauftrag erteilt, der aber zur Zeit nicht ausgeführt werden kann weil das Provinzmuseum in Leeuwarden einen Neubau bekommt und die Archive momentan nicht zugänglich sind. Da mein Großvater nie Mitglied in der NSDAP war, liegt im Zentralarchiv der Partei in Berlin-Zehlendorf auch keine Akte vor. Eine sehr umfangreiche Akte soll es in Bielefeld gegeben haben, die aber bei der Bombardierung des „Braunen Hauses“ in der Hochstraße vernichtet wurde. Die örtliche Parteizentrale in der Hochstraße war das einzige Haus, das in der Straße einen Bombenvolltreffer erhielt. Vorteilhaft für sehr viele Bielefelder in den späteren Entnazifizierungsmaßnahmen. Der Grund für die Übersiedlung ins „Reich“ war durch einen anderen Umstand gegeben. Die inzwischen achtköpfige Familie war auf Sozialhilfe angewiesen und meine Urgroßeltern sollten zur Unterstützung heran gezogen werden. Das war gar nicht im Sinne meiner Urgroßmutter die in solchen Dingen bestimmte. Sie beschied ihrem Ältesten sinngemäß. „Geh du doch ins Deutsche Reich zu deinem bewunderten Adolf da fließt ja Milch und Honig.“ Es blieb also nichts anderes übrig denn in Friesland würde er kein Bein mehr an die Erde bekommen. Parteiinterne Verbindungen ermöglichten dann die Umsiedlung. Bielefeld wurde gewählt weil da schon ein gescheiterter Schwager (inzwischen von der Schwester geschieden) lebte. Der wohnte in der Hagenbruchstraße, gegenüber von Delius, mied aber auch den Kontakt zur Familie Gaastra in der Senne. Angeblich wusste mein Vater das nicht und hat erst durch meine Nachforschungen im Familienarchiv davon erfahren.

Mein Großvater bekam eine Anstellung bei der Firma Ruhrstahl in Brackwede. Wo er sich angeblich um die Betriebsbahn auf dem Werksgelände kümmerte. Vermutlich handelte es sich aber um ein Parteigemauschel. Die Familie bekam ein Siedlungshaus in Senne II zugewiesen, das sie aber verlassen musste, als die asoziale Familie den Nachbarn nicht mehr zuzumuten war. Es erfolgte ein Umzug in einen Kotten mit dem Namen „Kuckuck“. Mir ist das Gebäude nur durch ein schlechtes Foto bekannt, da es wurde schon in den fünfziger Jahren wegen Baufälligkeit abgebrochen wurde. Der Kotten verfügte über keinerlei sanitären Anlagen, Wasser wurde aus einem Brunnen auf dem Grundstück geschöpft und als Toilette dienten die Gemüsebeete. Dieser Umstand sollte später noch eine Rolle spielen. Bedingt durch die Erkrankung beider Elternteile wurde die Familie Ende November 1943 wieder in die Niederlande abgeschoben wo mein Großvater im Februar 1944 an Prostatakrebs verstarb.

Mein Urgroßvater überlebte seinen Sohn um mehr als 20 Jahre, der dadurch Familienoberhaupt blieb. Mein Vater musste 1947 seinen „Thronverzicht“ erklären um nach Friesland zurückkehren zu dürfen. Das hieß aber nicht, dass sein Großvater auch nur einen Finger für ihn krumm gemacht hätte. Und das lag nicht nur daran, dass er eine Frau aus dem falschen Land geheiratet hatte, sondern auch an den besonderen Umständen wegen des Selbstmordes seines Bruders. Meine Mutter wurde von der „Mozartstraat“ hochgeschätzt. Besondere Wertschätzung erfuhr ich als erster Urenkel und unbestritten als zukünftiges Familienoberhaupt. Als mein Urgroßvater starb war ich 12 Jahre alt und schon rechtlich nicht in der Lage das Zepter zu übernehmen. Der jüngste und unverheiratete Sohn, ein Großonkel Toon, wurde als mein „Vormund“ bis zu meiner Volljährigkeit von meinem Urgroßvater bestimmt. Mein Großonkel hat dieses Amt vorbildlich ausgeführt und ich habe es bei ihm bis zu seinem Ableben gelassen. Bis wenige Tage vor seinem Tode habe ich im Telefonkontakt mit ihm gestanden und wurde vom ihm in alle Familienangelegenheiten und Geheimnisse eingeführt. Mein Vater hat das Familienwappen nie geführt, da es traditionell bei der Hochzeit verliehen wurde. Von der Eheschließung meiner Eltern wusste in Friesland niemand etwas und damit unterblieb auch die Wappenübergabe, wäre unter den zeitbedingten Umständen vermutlich auch nicht erfolgt. Ich habe bei meiner Hochzeit das Wappen bekommen. Das bei meinem Vater auf dem Flur hängende Familienwappen ist eine Fotografie meiner Wappentafel, alle Silbergegenstände mit Wappengravur sind Geschenke von mir, auch das mit Wappen verzierte Briefpapier. Defakto habe ich meinen Vater wieder in die Familie aufgenommen. Mein Vater war ein sehr emotionaler Mensch und besuchte immer, wenn wir in Leeuwarden waren, das Grab seiner Eltern, um eine um eine Blumenschale abzustellen. Seine Geschwister besuchten das Grab nie, wie sie unumwunden zugaben. Ein Steinwurf davon entfernt befindet sich die Gruft seiner Großeltern, die er nie besuchte. Zwangsläufig, nur wenn ich ihn im Rollstuhl dorthin fuhr, um mich dort vom Zustand der Grabanlage zu überzeugen. Das habe ich aber meistens gemacht, während er am Grab seiner Eltern verharrte. Ich glaube eine innere Versöhnung hat nicht mal über die Gräber hinaus stattgefunden.

Zu der Gruft meiner Urgroßeltern muss hier noch etwas gesagt werden. Es ist die protzigste Grabanlage die sich ein Familienmitglied errichten ließ. Nicht einmal des Gründerehepaar von Batavus leistete sich diesen Luxus. Sogar der Bürgermeister von Workum wurde übertroffen. Nach dem Kriegsende, als auch das Lebensende meiner Urgroßeltern näher rückte, begann meine Urgroßmutter von ihren Kindern Geldern einzufordern. Angeblich wegen der schlechten Zeiten und um ihre materielle Not zu lindern. Obwohl nichts den Eindruck einer Notlage vermittelte. Aber Diskussionen mit der alten Dame waren zwecklos und keiner wollte sich mit ihr anlegen. Nur hinter ihrem Rücken wurde sich empört. Als mein Urgroßvater gestorben war, fand sich die Familie vor einer gemauerten Gruft wieder, die von meiner Urgroßmutter in Auftrag gegeben worden war und in Raten abbezahlt wurde. Mit dem Geld ihrer Söhne! Der Friedhof ist in einem sehr feuchten Gebiet angelegt und das Argument war, sie wolle nicht, dass ihr Mann in feuchter Erde vermodere. Das hat ihr aber keiner abgenommen. SIE wollte im Tode keine nassen Füße bekommen und sorgte wie ein Pharao schon zu Lebzeiten für eine standesgemäße Grablege.


Familie Albert Westerbaan, Kinder und Enkelkinder. Jantje oben rechts

Die Mutter – Jantje Westerbaan

Von meiner Großmutter kann ich mir die Lebensdaten gut merken, denn sie wurde am 31. Januar 1900 geboren. Der 31. Januar war der Geburtstag von Königin Beatrix und somit ein Feiertag, an dem geflaggt wurde. Ich sagte auch zu Ehren meiner Großmutter, die ein untadeliges, aber entbehrungsreiches Leben geführt hatte. Kein schwarzes Schaf, bestenfalls ein leicht graues Schaf. Sie war das letzte Kind einer neunköpfigen Kinderschar. Ihr Vater war Binnenschiffer mit einem eigenen Schiff. Das verkaufte er, als das Schiff der Familie keinen genügenden Wohnraum bot und kaufte sich von dem Erlös einen kleinen Bauernhof am Stadtrand von Leeuwarden wo er erfolgreich eine Viehzucht betrieb. Was aus den Geschwistern meiner Großmutter geworden ist weiß ich nicht, denn nur zu einem Bruder und einer Schwester bestand Kontakt. Das war aber auch wohl dem Umstand geschuldet, dass meine Großmutter eine Nachzüglerin war und durch den Aufenthalt in Indonesien sich ihrer Familie entfremdete. Der Vater führte ein streng calvinistisches Leben, ohne in der Kirchengemeinde eine besondere Stellung oder ein Amt eingenommen zu haben. Aber mit seinen Verbindungen sorgte er dafür, dass sein Enkel ein Stipendium bekam um das Christliche Gymnasium zu besuchen. Darum musste ich auch einen weiteren Schulweg nehmen, weil ich aus dieser Tradition heraus auch auf eine christliche Schule gehen sollte und nicht auf die allgemeine Schule im Dorf. Diese Bevorzugung vor seinen Brüdern hat mein Vater versucht auszugleichen, indem er auf das Erbe seiner Tante verzichtete.

Die Tante wohnte in Oldenburg, war ursprünglich sehr vermögend und hatte unter anderem meinen Vater als Erben eingesetzt und zum Testamentsvollstrecker bestimmt. Mein Vater verzichtet zu Gunsten seiner beiden Brüder auf die ihm zu stehende, nicht unbedeutende Vergütung und seinen Erbteil mit dem Argument: „Dafür durfte ich zur Schule gehen und etwas lernen, meine Brüder nicht.“ Was mich dabei verwundert, war der Rückfall meines Vaters in die Denkungsweise des 19. Jahrhunderts. Seine Schwestern gingen leer aus, denn Mädchen brauchten ja keine bessere Schulausbildung!

Diese Tante, einzige Schwester meines Großvaters, war somit meine Großtante und in zweiter Ehe mit einem Wempe aus der Juweliersfamilie verheiratet, den sie bei einen Familientreffen kennen gelernt hatte. Das beträchtliche Vermögen schmolz dahin, als sie wegen eines über 10 Jahre dauernden Siechtums privatärztlich versorgt wurde. Das Geld war bei ihren Ärzten, Pflegerinnen und dem Malteser Hilfsdienst gelandet. So ließ sie sich jeden Freitag vom Malteser Hilfsdienst zum Aalessen an das Zwischenahner Meer fahren. Meistens noch in Begleitung von Freundinnen. Auch Neffen und Nichten sahen in meiner Großtante einen Geldesel. Nur die Familie ihres ältesten Bruders wurde nicht bedacht. Außer vielleicht meinem Vater der aber jegliche Zuwendungen von seiner Tante ablehnte. Eine Ausnahme wurde bei mir gemacht und ich bekam Geschenke mit Familienbezug. Ich war ja der „Kronprinz“ und das zukünftige Familienoberhaupt. In erster Ehe war meine Großtante mit Adrian Tulp verheiratet, Sohn eines Notars in Leeuwarden. Ich setze mal voraus, dass den Lesern Rembrandts Bild „Die Anatomie des Dr. Tulp“ bekannt ist. Adrian Tulp, in der Familie „Oom Ari“ genannt war der letzte Spross dieser Familie und von Beruf Sohn. Meine Großtante unterstützte ihn auf weltweiten Reisen dabei das Vermögen zu dezimieren und, nachdem die Kasse leer war sich scheiden zu lassen. Damit war sie Erzfeindin meiner Großmutter geworden, aber dazu später, wenn ich das Leben meiner Großmutter behandele. Adrian Tulp war es der sich den Nazis zuwandte und nach Bielefeld zog und vermutlich auch meinen Großvater samt Familie in die Stadt am Teutoburger Wald holte.

Sicherlich fällt auf, dass ich die „Großtante“ betone, ich könnte sie auch als Tante Foek benennen, Namensgeberin war unsere Stammmutter mit dem Kaffeehaus in Heerenveen. Also Tante Foek und meine Mutter verstanden sie großartig und waren auch fast gleichaltrig. Meine Mutter sagte mal zu ihr: „Du bist ja schon Großtante.“, was sicherlich nicht als Vorwurf gemeint war. Die darauf hin lautstark konterte. „Und DU hast mich dazu gemacht!“ Da entpuppte sich meine Großtante als eine typische Gaastra, schuld an diesem Umstand war nicht ihr Neffe, sondern seine Ehefrau. Den Gaastras wird nachgesagt, sie müssten immer Recht haben, das stimmt aber nicht, die Gaastras müssen nicht immer Recht haben, sie haben immer Recht und sind dabei durchaus uneinsichtig. Ein Problem ist das nur, wenn zwei Gaastras aufeinander treffen. Das habe ich mit meinem Vater ausgiebig ausgekostet. Aber zurück zu Tulp. Alles was von dieser Familie übrig geblieben ist, außer einem berühmten Bild, sind einige silberne Besteckteile und drei kostbare Japanische Porzellanfiguren, die mir als zukünftiges Familienoberhaupt ausdrücklich übergeben wurden. Nur bei außergewöhnlichen Gelegenheiten oder hochgestellten Besuchern. kommen die Besteckteile zum Einsatz. Letzte Gelegenheit war eine von mir gegebene Kaffeetafel mit dem Niederländischen Botschafter und Kulturattaché nebst Ehefrauen anlässlich der Königskrönung.


Vor der Abreise nach Indonesien, 1921

Es ist nicht nachvollziehbar, was gegen eine Verbindung der jungen Leute sprach, außer ihrer Jugend. Es war kein großer Reichtum vorhanden, also nicht mit einer größeren Mitgift der Braut zu rechnen. Anders als bei meiner Urgroßmutter, die brachte ordnungsgemäß ihr Kostgeld für 50 Jahre mit. Aber was hatte der Bräutigam schon anzubieten? Sie entstammt einer Bauernfamilie ohne intellektuelle Ansprüche. In ihrem Elternhaus gab es nur ein Buch, und das war die Bibel. Und die wurde ausgiebig gelesen. Zum Leidwesen meines Vaters vor jeder Mahlzeit. Nach Berichten meines Vaters wurde langsam und genau vorgelesen, und immer ein ganzes Kapitel. Besonders im Alten Testament konnten die Kapitel sehr lang sein. Die Brüder gingen alle einem ordentlichen Beruf nach und die Schwestern waren gut verheiratet. Wenn meine Großmutter von ihren Schwiegereltern sprach, dann waren das immer „mijnheer und mevrou“, also Herr und Frau und das war nicht aus Achtung, sondern Verachtung. Meine Großmutter sagte mir einmal: „Wenn mein Vater Freitags zum Viehmarkt ging hatte der mehr Geld in der Tasche als mijnheer Gaastra im ganzen Monat verdiente.“ Und das war sicherlich zutreffend, galten die Friesischen Bauern allgemein als sehr wohlhabend. Wenn meine Großmutter mir gegenüber von meinen Urgroßeltern sprach, und nur mir gegenüber, von „oue oomoe und oue opa“, die niederländische Form von Ur-Opa und Ur-Oma. Im familiären Sprachgebrauch war das nur die „Mozartstraat“. Das war der feine Unterschied, und entsprach der „Hackordnung“, der Kronprinz und das zukünftige Familienoberhaupt durfte nicht von den Stammeltern entfremdet werden.

Auch äußerlich war an meiner Großmutter nichts auszusetzen, wie auf den wenigen erhaltenen Fotos zu sehen ist. Im Vergleich macht meine Großmutter auf mich einen angenehmeren Eindruck als mein Großvater. Aber das ist wohl nicht gerecht und subjektiv von mir empfunden.

Die bäuerliche Herkunft spielte in der Besatzungszeit natürlich keine Rolle, im Gegenteil, es wurde bei der Familie Westerbaan eifrig antichambriert, denn bei den Bauern waren Lebensmittel wie Milch, Käse und Butter immer reichlich vorhanden. Zur Ehrenrettung meiner vaterseitigen Urgroßeltern sollte ich aber nicht unerwähnt lassen, dass sie 2 jüdische Familien vor der Vernichtung bewahrten, für die auch Lebensmittel beschafft werden mussten. Es ist nicht auszuschließen, dass darum über den eigenen Schatten gesprungen wurde um bei der ansonsten ignorierten Bauernfamilie zu betteln. Vielleicht war den Westerbaan die Hilfe für die jüdischen Mitbürger bekannt und darum auch eine entsprechende Hilfsbereitschaft vorhanden. 1946 war das dann wieder vergessen. Mein Vater wurde in seinen letzten Lebensjahren auch von gelegentlichen Gedächtnislücken befallen, wenn sie ihm nützlich waren.

Aber was half es, alle Vorsichtsmaßnahmen die Liebenden zu trennen nutzten nichts, es wurde geheiratet. Das heißt es musste geheiratet werden. Nur war der Bräutigam nicht mehr vorhanden, denn der schwamm auf dem Meer Indonesien entgegen. Meine Großmutter wurde von ihrem Vater des Elternhauses verwiesen, schwanger und nicht verheiratet sprengten die Grenzen der christlichen Nächstenliebe. Wie der Name schon richtig sagt heißt es ja auch „Nächsten“-Liebe, also nicht zu der Naheliegenden. Meine Großmutter brachte ihren Sohn im Hause ihrer Schwester zur Welt, die zur gleichen Zeit mit ihrem zweiten Kind schwanger war. Es kam zur Ferntrauung, in den Niederlanden wird das als „Trauung mit dem Handschuh“ bezeichnet. Die Organisation zog sich hin, denn Telefon und Fax gab es zwischen Kolonie und Mutterland nicht. Die Schiffspassage dauert 4 Wochen, entsprechend lange der Informationsaustausch mindestens 2 Monate. Zu einem vereinbarten Zeitpunkt erschienen die Brautleute vor einem Standesbeamten, auf einem Stuhl lag stellvertretend ein Herren, bzw. Damenhandschuh. Als Trauzeuge vertrat der jüngste Bruder seinen Schwager und sprach das „Ja-Wort“, die Brauteltern und der Rest der Familie war der Zeremonie fern geblieben. Die verpasste Hochzeit wollten meine Großeltern mit ihrer Silberhochzeit nachholen. Dazu kam es aber nicht weil mein Großvater zwei Jahre vorher verstarb. An der Hochzeit ihres ältesten Sohnes konnte meine Großmutter nicht teilnehmen, weil die Heirat in Friesland nicht bekannt geworden war. Sie hoffte dann wenigsten die Silberhochzeit meiner Eltern zu erleben, aber auch das war ihr nicht vergönnt. Zur Hochzeit gab es zwei Geschenke, die von meiner Großmutter wie Augäpfel gehütet wurden. Von ihren Eltern bekam sie einen Messingwandleuchter, der aus dem Hause ihrer Großeltern stammte, also nichts gekostet hatte aber doch ein Stück mit Bedeutung war. Der Leuchter ist Teil des Fideikommis und befindet sich in meiner Obhut. Von den Geschwistern wurde ein Geneverset geschenkt. Manufaktur Gouda, 1920. Das Set bestand aus zwei Krucken für alten und neuen Genever, klein und groß, und einem Tablett. Bei der Verteilung des Nachlasses wurden die Stücke unter den drei Brüdern aufgeteilt, der große Bruder bekam die große Krucke, der kleine die kleine Krucke. Der Mittlere das Tablett. Mit der Auflage einer späteren Zusammenführung in den Fideikomis.

Auf Java angekommen musste meine Großmutter erfahren, dass sich ihr Mann mit einer Geschlechtskrankheit infiziert hatte, deren Behandlung langwierig war und das dazu führte, weiterer Nachwuchs auf sich warten ließ. Nach vier Jahren kam das zweite Kind zur Welt, Sohn Albert. Der dritte Sohn Johann und die Tochter Mippi wurden noch in Indonesien geboren. Die Töchter Saapke und Maaike wurden in Friesland geboren. Mein Vater hatte eine vage Erinnerung daran, dass es wohl auch einige Fehlgeburten gegeben hat.

Über die Zeit in Indonesien berichte ich in dem Kapitel über die Jugendjahre meines Vaters. Nach der Rückkehr aus Indonesien setzte sich die Abwärtsspirale in Bewegung und es begann für meine Großmutter eine entbehrungsreiche Zeit, die nicht nur den politischen und wirtschaftlichen Umständen geschuldet war. Die Familie war inzwischen auf 8 Personen angewachsen und meine Großmutter hatte damit alle Hände voll zu tun und keine Zeit und Gelegenheit für eigene Aktivitäten oder geschäftliche Betätigungen. Zusätzlich war sie noch mit der Malaria infiziert, wodurch sie oft aufs Krankenlager geworfen wurde. Mit dem Aufenthalt in Bielefeld war dann der Tiefpunkt erreicht. Die Malariaschübe wurden durch den gesundheitlichen Allgemeinzustand immer häufiger. Mit dieser Krankheit konnte in Bielefeld niemand umgehen, weder die Nachbarn, noch die sozialen Hilfsdienste. In Friesland war das anders, denn viele Familien hatten Indonesienheimkehrer und denen waren der Krankheitsverlauf und der Umgang damit bekannt. In Indonesien war die Krankheit nicht der Rede wert, denn die Erkrankten lagen im Bett und warteten auf das Ende der Fieberattacke. In der Senne trug mein Vater die Hauptlast und war damit überfordert. Von dem despotischen Vater war keine Unterstützung zu erwarten, die Schwestern waren zu jung. Die beiden Brüder machten eine Lehre und hatten sich dem Einfluss des älteren Bruders entzogen. Die „Braunen Schwestern“ wurden zur Hilfe gerufen, aber kapitulierten. Als bei meinem Großvater Hodenkrebs diagnostiziert wurde, war es klar Familie Gaastra in die besetzten Niederlande abzuschieben. Mein Vater war inzwischen volljährig und konnte in Bielefeld bleiben. Albert brachte seine Geschwister zu seiner Tante, der Schwester der Mutter, die immer wieder der Notnagel war. Meine Großeltern folgten einige Wochen später, im Oktober 1943. Auf der Rückreise wurden sie während eines Bombenangriffs auf dem Dortmunder Bahnhof bestohlen. Mit nur zwei Koffern erreichten sie schließlich Heerenveen, wo die Bahnlinie wegen kriegsbedingter Beschädigung endete. Meine Großmutter lieh sich bei einem Bauern eine Schubkarre, legte die beiden verbliebenen Koffer hinein und ihren todkranken Mann in Decken gehüllt auf die Koffer und machte sich bei schlechtem Wetter auf den Weg in das 64 km entfernte Leeuwarden, damit der in seiner Heimatstadt, wie es sein Wunsch war, sterben konnte.

Bei allen Widrigkeiten und Demütigungen kam eines für meine Großmutter absolut nicht infrage, eine Trennung oder Scheidung. Darum kam sie auch mit ihrer Schwägerin nicht zurecht, mit der sowieso eine offene Rechnung wegen des Versuchs ein Zusammensein der Liebenden zu verhindern bestand. Mit einer Scheidung, die darauf basierte, dass ein Vermögen gemeinsam ausgegeben wurde um kurz danach eine neue lukrative Ehe einzugehen, war die Dame für meine Großmutter gestorben. Dass sich meine Mutter sich gerade mit diesem Familienmitglied besonders gut verstand, machte die Schwiegertochter keinesfalls sympathisch und belastete das Verhältnis nachhaltig. Als ihr jüngster Sohn sich scheiden ließ, wurde das auf das äußerste missbilligt, obwohl die ganze restliche Familie den Schritt als längst überfällig betrachtete. Als der Sohn nach zwei Jahren eine neue Partnerin fand, an der es absolut nichts auszusetzen gab, heiratete er sie. Meine Großmutter war da schon pflegebedürftig und in einem Pflegeheim untergebracht. Nach der Trauung besuchte er seine Mutter um sie zu informieren und die neue Schwiegertochter offiziell vorzustellen. Meine Großmutter wies die zur Begrüßung ausgestreckte Hand zurück und drehte sich demonstrativ zur Wand. Es gab dann zwischen Mutter und Sohn keinen Kontakt mehr. Als ich vor wenigen Jahren in Verbindung mit meiner eigenen Scheidung darüber sprach, stritt mein Vater dieses Vorkommnis ab und wollte angeblich auch nie etwas davon gehört haben, verwies es in das Reich der Fabel. Beim nächsten Besuch bei meiner Tante habe ich sie gebeten den Sachverhalt zu bestätigen, was sie zum Ärger meines Vaters auch tat. Den größten Ärger bekam ich dann ab, weil es ungehörig war solche schwarzen Seiten der Familiengeschichte zu wissen. Dass ich als Familienoberhaupt vielleicht mehr wusste, weil mir auch mehr zugetragen wurde hatte er wohl verdrängt. Die Gradlinigkeit seiner Mutter in punkto Ehe hat er dabei nicht gesehen. Es dürfte meine Großmutter sehr getroffen haben, dass von ihren 14 Enkelkindern 10 geschieden sind, oder mit geschiedenen Ehepartnern verheiratet.

Nach dem Tode meines Großvaters stellte sich die Frage der Vormundschaft für die noch minderjährigen Kinder. Dieses Amt wurde meinem Urgroßvater angetragen, der es mit der Begründung ablehnte er hätte vollstes Vertrauen zu seiner Schwiegertochter, dass sie ihre Kinder (im seinem familiären Sprachgebrauch „Brut“) selber erziehen könne und keiner Kontrolle bedürfe. Meine Großmutter stellte das mir gegenüber so dar, dass es das einzig positive gewesen wäre, das er jemals über sie gesagt hätte. So kann das auch gesehen werden, aber ich halte es eher für einen Selbstbetrug. Aktueller Hintergrund war ein anderer. Leeuwarden war eine Kleinstadt mit ca. 60.000 Einwohnern, in der wenig geheim blieb und in der die Familie Gaastra nicht unbekannt war. Die Mädchen waren durch die sanitäre Situation im „Kuckuck“ nicht mit einem WC vertraut und hockten sich in den Vorgarten der Tante. Das auch noch in einer äußerst bürgerlichen Wohngegend! Das machte in der Stadt sofort die Runde, mit einer zusätzlichen politischen Färbung. Da kommt diese Kollaborateurfamilie aus dem Reich des germanischen Übermenschen zurück, und das ist der Erfolg! Das sieht man doch was aus dem Reich zu erwarten ist! Es bestätigte was hinter vorgehaltener Hand über das Land der Besatzer gemunkelt wurde, eine totale Verrohung der Menschen hinter der Grenze, ein absinken auf ein tierisches Niveau. Dieses Vorkommnis landete in Windeseile bei meinen Urgroßvater und bestärkte ihn darin sich den Zweig Gaastra-Westerbaan mit allen Möglichkeiten vom Halse zu halten.

Das funktionierte auch bis zu meinem Auftauchen in Leeuwarden. Ich war ein so liebes und nettes Kind (diese Behauptung stammt nicht von mir!) und war als erstes Enkelkind und Urenkel von Grußmutter und Urgroßmutter gleichermaßen begehrt. Kaukasischer Kreidekreis in Neuauflage, nur dass ich nicht hin und her gezerrt wurde, sondern grenzenlos verwöhnt von zwei Frauen, die sich unversöhnlich gegenüber standen. In punkto verwöhnen bin ich in die Fußstapfen meines Großvaters getreten, zum Glück aber nicht mit den weitreichenden Folgen. Unbewusst spaltete ich auch meine Eltern, meine Mutter schlug sich auf die Seite der „Mozart Straat“ mein Vater naturgemäß auf die Seite seiner Mutter.