Loe raamatut: «Glauben ohne Dogma»
Dieter Rammler
GLAUBEN OHNE DOGMA EINE SPURENSUCHE
Essay
Meiner Frau Eveline,
meinen Kindern und Enkelkindern
© 2021 unibuch Verlag bei zu Klampen · Röse 21 · 31832 Springe
Satz und Umschlaggestaltung: Malte Romainczyk · Hamburg
Cover/Titel: Salome von der Born · Darmstadt
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH · Rudolstadt
ISBN Printausgabe 978-3-934900-72-1
ISBN E-Book-Pdf 978-3-934900-58-5
ISBN E-Book-Epub 978-3-934900-57-8
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Werft euer Vertrauen nicht weg,
welches eine große Belohnung hat.
Hebräerbrief
Kein Schuldenberg soll mich dazu bringen,
mein Erbe im Stich zu lassen – und das meiner Kinder.
Bruno Latour
Einleitung
Glauben ohne Dogma? Zu allen Zeiten hat die Frage gläubige Menschen umgetrieben und selbst Atheisten nicht losgelassen. Schon im vierten Jahrhundert, als das christliche Glaubensbekenntnis formuliert wurde, waren zentrale Glaubensaussagen umstritten. Und heute? Lässt sich der Glaube noch in die gleichen Worte fassen wie vor 1600 Jahren? Für viele Menschen ist es ein Problem, Glaubensvorstellungen der Spätantike zu akzeptieren und mit ihrer heutigen Weltsicht zusammenzubringen. Andere gehen auf Distanz oder haben sich aus der Glaubensgemeinschaft verabschiedet. Ihre Zahl wächst. Dennoch lässt die Frage nach Gott die Menschen auch im 21. Jahrhundert nicht los. Gerade in unübersichtlichen Zeiten, in denen die Zweifel wachsen und Verschwörungsängste das Vertrauen untergraben.
Ich will einen kritischen Blick auf Glaubensdogmen werfen, besonders auf jene, die mit dem heutigen Verständnis von Wirklichkeit kollidieren. Wie kann man glauben angesichts eines Weltbildes, wie es heute durch die Naturwissenschaften geprägt wird? Man muss sich mit der empirischen Wissenschaft auseinandersetzen und sollte als glaubender Mensch in keine dogmatische Parallelwelt abdriften. Auf Wunder zu vertrauen, die die Naturgesetze außer Kraft setzen, würde die Isolation, in der sich Theologie und Kirche befinden, eher verstärken. Trotzdem ist das Thema Glauben nicht erledigt. Ohne Zweifel sind die Naturwissenschaften imstande, die meisten Phänomene hinreichend zu erklären. Ihr Fortschritt steht außer Frage. Dennoch vermögen die empirischen Wissenschaften es nicht, die Welt von Grund auf und abschließend zu erklären. Würden sie das beanspruchen, wären sie nichts anderes als jene Metaphysik, die sie in der Regel ablehnen und als überwunden ansehen. Was also könnte der Glaube ohne Dogma für unsere Weltsicht bedeuten? Als ich Theologie studierte, machte die Gott-ist-tot-Theologie Furore. Das Entmythologisierungskonzept oder die „Stadt ohne Gott“ (Harvey Cox) bewegten die Gemüter. Auf der anderen Seite gab es schon den Kreationismus (Gott als „Großer Designer“), der die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie vehement ablehnt. Es war ein lebhafter, zuweilen anstrengender Diskurs: Befreiungstheologie, Ökumenische Theologie und Theologie der Hoffnung, Christlich-jüdischer und interreligiöser Dialog, Weltethos der Religionen. Man nahm Impulse auf und münzte sie in Reformprogramme um: Kirche im Gemeinwesen, Gemeindeentwicklung, Politisches Nachtgebet, Teampfarramt, Kommunikation des Evangeliums, Seelsorgebewegung, um nur einige zu nennen. So wollte man es mit der wachsenden Kirchendistanz und der sich rapide verändernden Glaubenspraxis aufnehmen. Die Kirchenaustritte häuften sich aber weiter. Auch das Grundwissen in Sachen Religion nahm ab und die Kritik an den Kirchen zu. Trotzdem änderte sich die positive Grundstimmung zunächst kaum. Der christliche Glaube hat, wenn er gegenwartsnah ausgelegt und mitreißend gefeiert wird, Menschen immer noch etwas zu sagen, das war meine mit vielen geteilte Überzeugung.
Nüchtern bilanzierend, müssen wir uns heute wohl eingestehen, dass das Christentum zumindest in Mitteleuropa in seinen Grundfesten erschüttert ist. Nach meinem Eindruck hat die überwiegende Zahl selbst derer, die sich als gläubig bezeichnen, große Probleme, überkommene Glaubensvorstellungen mit dem modernen Verständnis von Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Erst recht an den Universitäten. Naturwissenschaften und Theologie erwarten kaum noch etwas voneinander. Ein breiter Graben klafft auch zwischen der Theologie als Wissenschaft und der Verkündigungspraxis in den Gemeinden. Heute steht für mich außer Frage: Ich habe wie viele in meiner Generation auf die Anziehungskraft engagierter Praxis gesetzt und mich zu wenig um die schwere Übersetzung unseres Glaubens gekümmert. Und nun? Ich denke, wir müssten zweierlei tun: radikal denken und uns illusionslos dem Gegenwind stellen, unsere Traditionen ohne Hintertürchen dem heutigen Wirklichkeitsverständnis aussetzen, um herauszufinden, was an diesem Glauben standhält und für unser Leben elementar bleibt. Und wir müssen uns auf Spurensuche begeben nach einer lebendigen Sprache des Glaubens, zusammen mit theologischen Experten und im Austausch mit Wissenschaften und Künsten. Aber mehr noch sollten wir auf den offenen Diskurs von Menschen setzen, die zwischen Glauben und Zweifeln die Frage nach Gott nicht loslässt. Freilich nicht von der Kanzel herab, sondern nur auf Augenhöhe.
Leider werden die Kirchen noch immer häufig so wahrgenommen, als gäbe es die einen, die wüssten, was Glauben heißt, und die anderen, die sich darüber erst klar werden müssten, denen man es erklären muss. Kirchenamtliche Dekrete, die vorgeben, den Plan Gottes zu kennen, bestätigen leider immer noch diesen autoritären Wahrheitsanspruch. Es würde sehr viel verändern, wenn wir nicht dogmatisch, sondern offener, experimentierfreudiger und vor allem mit wechselseitigem Interesse das Gespräch suchten. Im Glauben gibt es keinen Vorrang oder Vorsprung mehr, allenfalls ein Wissen um Zusammenhänge, das verstehen hilft – fern aller missionarischen Attitüden, aber mit Liebe zur Sache, ohne die man gar nicht erst anzufangen braucht. Für mich ist das ein lohnenswertes Unterfangen: trotz Zweifel und Skepsis im Gespräch zu bleiben über existenzielle Fragen des Glaubens und über die Zukunft des Lebens. Die Pandemieerfahrungen haben die Welt in einem noch nicht gekannten Maße zum Stillstand und vielleicht auch zur Besinnung gebracht. Zumindest mag man das hoffen. In der Unterbrechung des Gewohnten verstärkt sich der Eindruck, dass wir uns als menschliche Zivilisation in einer Sackgasse befinden. Die großen und tiefen Bruchlinien, die unsere Welt spalten, sind überdeutlich: Armut, Rassismus und Klimawandel als Folgen des globalen Kapitalismus. Die Widersprüche des technologischen und ökonomischen Wandels und die Schwächen einer rein instrumentellen Vernunft liegen offen zutage. Und es steht eine junge Generation bereit, die das nicht mehr akzeptiert – um der eigenen Zukunft willen. Denn der Fortschritt frisst seine Kinder und abertausende Arten mit.
„Die Pandemie ist ein Portal, ein Tor zwischen einer Welt und der nächsten“ (Arundhati Roy). Drei Jahrzehnte nach dem vermeintlichen Ende der Geschichte infolge des überwundenen Ost-West-Konflikts hat unsere Zeit erneut den Charakter einer Übergangssituation angenommen. Alte Bedrohungen bestehen fort und neue haben sich zugespitzt. Es geht um die Grundlagen und um die Zukunft des Lebens auf unserem blauen Planeten. Daher wird die Frage, wie wir morgen leben wollen, zur Schlüsselfrage der Menschheit. Vieles deutet darauf hin, dass unsere Zivilisation am Beginn einer nächsten Großen Transformation steht. Da sind Nabelschau oder Selbstmitleid der Kirchen fehl am Platz. Vielmehr könnte es die Stunde der Religionen werden. Denn wie wir leben wollen, ist nicht zu trennen von der Frage, worauf wir vertrauen und woran wir unser Herz hängen, wie Martin Luther den abstrakten Gottesbegriff übersetzte: Gott ist, woran du dein Herz hängst. Religionen überliefern und kommunizieren Hoffnungsbilder für eine Welt, wie sie noch werden könnte, sie geben Orientierung und bewegen zum Handeln. Darin besteht für mich der Wirklichkeitsbezug und die Gestaltungskraft des christlichen Glaubens. Dass sich in ihm neben der Vernunft noch eine andere „Stimme“ zu Wort meldet und Menschen als Vision und Poesie, in der Musik und bildenden Kunst, als energetische Erfahrung oder Segen berührt, das unterscheidet den Glauben von rationalen Systemen. Zu glauben ist ein Wagnis und ein Schritt ins Offene, nicht abgehoben und weltfremd, sondern geerdet und lebensnah.
Zu einem aufgeklärten Verständnis von Religion gehört das Wissen um ihre Geschichtlichkeit. Religionen beginnen nie bei null, sondern sie fußen auf überlieferten Vorstellungen und Lebensweisen, die sie zugleich weiterentwickeln und umformen. Sie verändern sich mit der zivilisatorischen Entwicklung und bestimmen diese mit. Sie reagieren auf neue Welterkenntnisse und Entdeckungen und legen veraltete ab. So ist im Laufe der Religionsgeschichte eine ungeheure Fülle symbolischer Deutungen entstanden. Dieser Prozess ist bis heute nicht beendet, auch wenn man zurzeit den Eindruck gewinnen kann, dass sich der christliche Glaube gegenüber den Naturwissenschaften in der Defensive befindet und sich gewissermaßen in einer Nische zu behaupten versucht. Das wäre gewiss der falsche Weg. Man rettet seinen Glauben nicht dadurch, dass man sich gegenüber dem Bewusstseinswandel und den Erkenntnissen der Geschichtlichkeit von Religion verschließt und in Dogmen verharrt. Für mich gehört es zur intellektuellen Redlichkeit, das heutige historische Wissen in das Nachdenken über den eigenen Glauben einzubeziehen und die Dogmen als menschliche Vorstellungen zu relativieren. Es sind Denkformen auf Zeit, nicht mehr und nicht weniger.
TEIL 1 GLAUBEN GESCHICHTLICH
Die Bibel
Das Buch, das ich neben den Märchen der Gebrüder Grimm aus meiner Kindheit aufbewahrt habe, ist eine schwarze Lutherbibel. Wenn ich es recht erinnere, bekam ich sie von meiner Großmutter zur Einschulung. Zu Beginn des Studiums kaufte ich mir eine Zürcher Bibel. Ihre Sprache war mir zunächst nicht vertraut. Ich habe sie durch alle Semester hindurch zu den verschiedenen Themen bearbeitet. Zur Ordination schenkte mir meine Mutter die 1983 erschienene revidierte Lutherausgabe, in weißes Leder gebunden, mit Goldschnitt. Sie begleitete mich durch meine Zeit als Gemeindepastor. Heute erinnern mich diese Ausgaben der Heiligen Schrift an berufliche und persönliche Stationen.
So geht es vielen Menschen. Sie haben eine Bibel zu Hause, in der oft ihre Konfirmations- und Trausprüche notiert sind, manchmal auch Taufen und Abschiede. Vielleicht nehmen sie sie hin und wieder aus dem Schrank und halten ein Stück ihrer Glaubens- und Lebensgeschichte in der Hand. Dennoch bleibt die Bibel für viele Gläubige ein Buch mit sieben Siegeln. Sie finden zwar Zugang zu den bekannten Überlieferungen, die auch im Kirchenjahr als Lesungen und Predigttexte vorkommen. Wer es sich aber darüber hinaus einmal vorgenommen hat, die Bibel wie ein Buch in größeren Zusammenhängen oder gar ganz zu lesen, der verliert leicht den Überblick. Vor allem stößt er auf verstörende Texte voller Gewalt, überholter Weltbilder und zum Teil heute nicht mehr akzeptabler religiöser Gebote und Riten. Verträgt sich das mit der Auffassung der Bibel als heiliger Schrift? Der Eindruck, dass es sich um eine komplexe Sammlung von Schriften aus unterschiedlichen Zeiten handelt, erklärt manches. Aber wie verhält sich dazu die Behauptung, die Bibel bezeuge die Geschichte Gottes mit den Menschen? Kann man das heute noch so sagen? Und falls nicht, welchen anderen Zugang finde ich zu diesem historischen Dokument, auf das sich, wenn auch unterschiedlich, gleich zwei Schriftreligionen, das Judentum und das Christentum, berufen, und eine dritte, nämlich der Islam, im Koran ebenfalls zentrale Überlieferungen des Alten und Neuen Testaments kennt?
Zweifelsohne ist die Bibel für einen großen Teil der Menschheit das bedeutendste Dokument religiöser Weltdeutung. Sie ist Weltliteratur, eine wohl 3000 Jahre alte Bibliothek des Glaubens. Bis heute wurde sie in etwa fünf Milliarden Exemplaren gedruckt, der Großteil in den letzten 100 Jahren. Als Vollbibel mit Altem und Neuem Testament wurde sie in 674 Sprachen übersetzt, das Neue Testament allein in weitere 1515 Sprachen. Mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung haben potenziell Zugang zur Bibel in ihrer Muttersprache.
Neben der Bibel gibt es die Heilige Schrift der Juden. Sie ist entgegen landläufiger Ansicht nicht das „Alte Testament“, obwohl sich der weitaus größte Teil, wenn auch in anderer Reihenfolge, mit dem ersten Teil der christlichen Bibel deckt, sondern der Tanach. Er besteht aus den drei Haupteilen Tora (fünf Bücher Mose), Nebiim (Propheten) und Ketubim (Schriften, zum Beispiel die Psalmen), deren Anfangsbuchstaben im Hebräischen das Wort „Tanach“ bilden.
Ziemlich einhellig wird in der Bibelwissenschaft heute die Auffassung vertreten, dass am Anfang der Literaturwerdung des Tanach und damit auch der Bibel die fünf Bücher Mose (Tora) standen. Moses hatte, so die Erzählung, das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft geführt. Auf der 40-jährigen Wanderung durch die Wüste Sinai offenbart sich Gott am Berg Horeb und lässt seinem Volk durch Moses die Gebote übermitteln. Damit ist der Bund Gottes mit Israel konstituiert. Kurz bevor sie in das gelobte Land einziehen, legt Moses die Führung aus den Händen und übergibt sie Josua, nicht ohne in einer letzten, großen Rede das Volk an die Tora (Weisung) Gottes zu erinnern und ein zweites Mal darauf zu verpflichten. Damit endet das fünfte Buch Mose, das im Großen und Ganzen eine Wiederholung und Einschärfung der Gebote vom Sinai darstellt und daher als Deuteronomium (zweites Gesetz) bezeichnet wurde.
Die Geschichte geht dann in der bekannten Weise weiter: Unter Josua erfolgt die Landnahme, unter den „Richtern“ bildet sich der Bund der zwölf Stämme, der vom Königtum unter David und Salomo abgelöst wird, der Glanzzeit des vereinten Israel, mit Jerusalem und dem von Salomo erbauten Tempel als Zentrum, was freilich eine spätere Idealisierung darstellt. Dann zerbricht die Einheit und es bilden sich das Nordreich Israel und das Südreich Juda. Als die Assyrer das Nordreich Israel erobern und die Oberschicht zum ersten Mal ins Exil führen, bleibt Juda übrig, der Rest, von dem man sich eine neue Blüte und Rückkehr zum Königtum Davids erhofft.
So lautet der Kern der Meistererzählung der antiken Autoren. Heute weiß man relativ genau, dass den Anstoß dazu Josia gab, als er im Zuge einer Restauration seines Königtums Juda auch eine Reform des Jerusalemer Tempelkults verfügte. Er knüpfte dafür an die literarische Figur von Moses großer Rede kurz vor der Landnahme an. Sein Motiv war klar: Juda als der „heilige Rest“ Israels soll sich auf seine Anfänge besinnen, den Gottesbund erneuern und im Tempel von Jerusalem seine religiöse Mitte finden. Das war literarisch die Geburtsstunde der Tora als einer Sammlung von Schriften, in denen die Geschichte vom Bund Gottes mit Israel bewahrt wird. Sie wurde aufgeschrieben, um die religiöse Einheit Israels zu begründen.
Meistens waren es Umbruchzeiten, in denen das schöpferische Potenzial religiöser Geschichtsdeutung zum Zuge kam, weil der Bedarf an Krisenbewältigung wuchs. So auch in der nächsten großen Krise Israels, genau genommen des Restes, der davon in Juda noch vorhanden war. Diesmal waren es die Babylonier, die das assyrische Großreich abgelöst hatten und aus ihrem Kerngebiet zwischen Euphrat und Tigris ebenfalls in die strategisch wichtige Landbrücke der Levante und Palästinas vorstießen. Jerusalem wurde erobert, der Tempel Salomos zerstört, die politische und religiöse Führungsschicht ins „babylonische Exil“ deportiert.
Im Exil bahnte sich ein Perspektivwechsel an. Denn aus Sicht dieser Exulanten an den „Wassern Babylons“ befand sich Israel nun wieder dort, wo einst der Sage nach Abraham, der Stammvater Israels, aufgebrochen war. Abraham hatte geträumt, dass die Stimme Gottes ihn zum Aufbruch in ein unbekanntes Land aufforderte und große Nachkommenschaft versprach. Er ließ seine Heimat zurück, um mit seiner Sippe von Ur zunächst nach Haran in Syrien und anschließend nach Israel zu ziehen. Dort angekommen, gab er sein Nomadenleben auf und wurde sesshaft. Es ist gewissermaßen eine der Gründungssagen des Volkes Israel. An sie erinnerten die priesterlichen Autoren, als sie in der Verbannung den Verlust ihrer Identität befürchten mussten. Sie folgerten aus der Sage, dass der im Traum erschienene Gott Abrahams sein Volk ja auch in der Fremde aufgesucht hatte und dass es infolgedessen von alters her keine gottlose und heillose Zeit gibt, selbst im Exil nicht. Israel darf sich also auch in der Diaspora unter den Völkern gesegnet und als Gottes Volk bewahrt wissen. Man kann an diesem Beispiel gut ablesen, dass für die biblischen Überlieferungen nicht die Historizität an sich im Vordergrund steht, sondern eine bestimmte Lesart der Geschichte, die für die eigene Gegenwart von Bedeutung ist. Man erinnert sich an die alten Erzählungen, um sich in der Gegenwart für die Zukunft zu vergewissern und Zuversicht oder Hoffnung zu schöpfen. Ähnlich wie die schon erwähnte Moses-Überlieferung haben die sogenannten Vätersagen (Abraham, Isaak, Jakob) eine in der Erinnerungskultur Israels bis heute zentrale Stellung. Übrigens bis ins Politische hinein, wenn es zum Beispiel um den umstrittenen Anspruch auf das Land geht.
Kehren wir noch einmal zu der für Israel prägenden Erfahrung des babylonischen Exils zurück. Die Begegnung mit fremder Kultur und einer weit entwickelten Wissenschaft unter den Babyloniern erschloss den jüdischen Theologen neues Wissen über die Entstehung der Welt. Sie rezipierten dieses und verknüpften es mit ihrem überlieferten Gottesbild, um daraus eine universale Perspektive zu formulieren, die ihnen gerade in der Fremde Zuversicht vermittelte: Es gibt keinen Ort, an dem Gott fern ist, weil er die ganze Welt erschaffen und einen Plan mit Israel für die ganze Welt hat. So entwickelten sich aus der Erfahrung des Exils heraus erstmals universalistische Ansätze in der Theologie der antiken Israeliten, die für die folgenden Jahrhunderte bestimmend wurden.
In der Literaturwerdung des Tanach hat sich das in der Weise niedergeschlagen, dass die Sagen der „Erzväter“ über ihre Begegnungen mit dem „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ der schon vorhandenen Moses-Überlieferung vorangestellt wurden. Es entstand das Buch Genesis (Schöpfung). An seinem Ende erklärte die Novelle von Josef und seinen Brüdern, wie die Israeliten nach Ägypten gekommen waren. Aber damit nicht genug. Angeregt durch babylonische Schöpfungssagen entstanden die Erzählungen von der Erschaffung der Welt und des Menschen. Ihnen folgten weitere Urgeschichten (Vertreibung aus dem Paradies, Kain und Abel, Sintflut, Turmbau zu Babel), in denen sich der Bund Gottes mit den Menschen als das bewahrende Element zeigt. Diese Ursagen bildeten wiederum die Vorgeschichte der Vätersagen. Durch genealogische Listen wurde die in ihnen erzählte und gedeutete Menschheitsgeschichte mit dem Beginn der Geschichte Abrahams verknüpft, bis es schließlich heißt: „Und Abraham hörte die Stimme Gottes: Geh in das Land, das ich dir zeigen werde.“ – Ein genialer Spannungsbogen, der das Potenzial für eine religiöse Universalgeschichte hatte. Aus ursprünglich vereinzelten Sagen bildeten sich Sagenkränze, die, miteinander verknüpft, schließlich die große Gründungserzählung von der Geschichte Gottes mit seinem Volk tradierten.
So wie der Tanach literarisch gewissermaßen „nach vorn“ bis in die Urzeit erweitert wurde, so in der Folgezeit auch „nach hinten“ im Anschluss an das Exil, als es für Israel unter den Persern zur Rückkehr und Restitution des Königtums Juda und zum Bau des zweiten Tempels kam. Die Exulanten durften in ihr Land zurückkehren und mit dem Wiederaufbau beginnen. Die Hoffnungen des Exils schienen sich zu erfüllen. Dennoch blieb die Landbrücke zwischen Mittelmeer und Jordan ein Spielball der Mächte. Auch unter den folgenden, wechselnden Besetzungen des Landes durch die Griechen und die Römer stand die Existenz Israels wiederholt auf dem Spiel. In zahlreichen Aufständen und Kriegen gegen die Besatzungsmächte versuchte das Judentum, seine politische und religiöse Identität zu wahren. Und auch diese Ereignisse haben sich, religiös gedeutet, in den Schriften zum Beispiel der Propheten Hesekiel, Esra, Nehemia und Daniel niedergeschlagen, die dem Kanon der bereits im Tanach vereinten antiken Schriften Israels hinzugefügt wurden. Im Bestreben, Religion und Kultur Israels vor dem Untergang bzw. der Assimilation zu bewahren, hatte es zwei Grundströmungen gegeben: eine, die die politische Aufrichtung der alten Größe Israels unter David und Salomo erhoffte, und eine andere, die glaubte, dass sich nach einem letzten Kampf mit den Mächten der Welt die Herrschaft Gottes durchsetzen werde, das Friedensreich am Zion, zu dem die Völker aus Norden und Süden, Osten und Westen herbeipilgern. Der „Messias“ (wörtlich der „Gesalbte“, wie es bei der Inthronisation von Königen üblich war) war für beide Strömungen gleichermaßen eine religiöse wie politische Leitfigur, an denen sich diese Hoffnungen festmachten. Daneben spielte auch die apokalyptische Figur eines weiteren Heilsbringers, des „Menschensohns“, aus den Visionen des Propheten Daniel eine wichtige Rolle und bewegte die Gemüter. Die pharisäische Erneuerungsbewegung folgte der zweiten Strömung. Auch die charismatischen Sammlungsbewegungen um Johannes den Täufer und Jesus von Nazareth waren dieser Hoffnung auf das anbrechende Reich der Himmel verbunden. Den politischen Widerstand und einen politischen Messianismus lehnten sie ab.
In den unruhigen Zeiten der römischen Besatzung tauchte zuerst in den Bergen Galiläas, im Norden Israels, eine kleine Schar auf und machte allmählich von sich reden. Es war nicht ungewöhnlich für diese Zeiten, dass charismatische Leitfiguren wandernd durch die Gegend zogen, Menschen um sich versammelten und die große Zeitenwende verhießen. Für diese Anhängerschaft aber, die einem Mann namens Jesus nach Jerusalem gefolgt war, erfüllten sich trotz seines offensichtlichen Scheiterns zentrale Hoffnungen ihres jüdischen Glaubens. Ihre Jesuserinnerung, die sich in mündlichen und schriftlichen Glaubenszeugnissen niederschlug, läutete sozusagen einen neuen Abschnitt in der Geschichte Gottes mit seinem Volk ein und bildete den Grundstock zu einer Sammlung von Schriften unterschiedler Genres, aus denen später das Neue Testament wurde: Briefe, Spruchsammlungen, Weisheitsschriften, apokalyptische Visionen und schließlich mehr als die heute bekannten vier Evangelien. Diese Schriften entstanden an unterschiedlichen Orten in der Urkirche, zirkulierten in den Gemeinden und wurden, zusammen mit den Überlieferungen des Tanach, im Gottesdienst verlesen. Ihre ursprüngliche Vielfalt wurde später von einem Kanon abgelöst, der Anzahl, Stellung und Umfang der urchristlichen Zeugnisse festlegte. Zahlreiche, als nicht authentisch angesehene Überlieferungen wurden ausgeschlossen, vergessen und erst in jüngerer Zeit wieder aufgefunden (Nag Hammadi in Ägypten). Es war die Geburtsstunde des später sogenannten Neuen Testaments, das sich, anknüpfend an die antiken Schriften Israels, je länger desto mehr zu einer weiteren Gründungssage entwickelte und eine eigenständige, über das Judentum hinausgehende Erinnerungskultur ausbildete.
Herrschte anfangs noch ein gewisser „Wildwuchs“, so ließ die synchrone Interpretation und Zusammenschau durch die frühchristlichen Theologen ab ca. 150 n. Chr. ein Bild entstehen, das den Eindruck einer von Anfang an gegebenen Einheit des Zeugnisses von Jesus Christus vermittelt. Dabei war alles andere als dies der Fall. Das Neue Testament verkörpert nicht die Einheitlichkeit, sondern die Vielfalt der Deutungen, die in der urchristlichen Bewegung zirkulierten. In ihrer Erinnerung wurde die christliche Glaubenserzählung geboren, nicht ohne engste Verbindung zum jüdischen Tanach, vor allem zu seinen universalistischen Lesarten, aber doch in so großer Freiheit und Eigenständigkeit, dass das Neue Testament sich von Beginn an auch für Gläubige außerhalb Israels öffnete und erschloss. Als hätten die frühen christlichen Theologinnen und Theologen um die „beträchtliche Familienähnlichkeit“ (Wolfgang Stegemann) von Anfang an gewusst, behielt für die christlichen Urgemeinden die alte Meistererzählung des Judentums ihre Gültigkeit. Für die Christen war die Jesusüberlieferung eine Fortschreibung der Schriften Israels.
Halten wir fest: Die in der Bibel gesammelten Texte als Heilige Schrift zu betrachten, ist bereits Ausdruck eines Glaubensbekenntnisses und eine theologische Konstruktion. Sie nahm ihren Anfang in dem Versuch der Rabbinen, in den großen Krisen seit dem Exil in Babylon (ca. 500 v. Chr.) und nach der Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.) das Judentum neu zu definieren und vor dem Untergang zu bewahren. Abseits des verlorenen Tempels wurden Tora und Tanach zur „portablen Heimat“ (Heinrich Heine) des Judentums. Das junge Christentum hat an diese Meistererzählung in den beiden ersten Jahrhunderten nicht nur angeknüpft, sondern sie theologisch zu überbieten versucht, indem es den Tanach als sogenanntes „Altes Testament“ übernahm, ihm das „Neue Testament“ als Bezeugung der Jesusoffenbarung folgen ließ und diese beiden fortan in einem Buch (Biblia) überlieferte.
Die Meistererzählung des antiken Israel war also die Voraussetzung der christlichen Deutung der Ereignisse um Jesus von Nazareth, wie sie im Neuen Testament bezeugt sind. Sie wohnt dem Christentum inne, so sehr, dass nach jahrhundertelanger Distanzierung der Kirche vom Judentum diese ursprüngliche Verbindung gar nicht mehr gesehen wurde. Erst im Zuge der historisch-kritischen Bibelwissenschaft wurde wiederentdeckt, dass das Urchristentum ursprünglich eine Glaubens- und Erneuerungsbewegung im Kontext des jüdischen Messianismus war, die am Auslegungsprozess der Schriften Israels auf ihre Weise teilnahm. Ihr Begründer war Jude, die ersten Protagonisten sämtlich auch. Allerdings trug diese Bewegung in sich bereits das Potenzial zu einer universalen Interpretation. Sie ging davon aus, dass sich der Gottesbund, wie ansatzweise schon im Tanach, über die Geschichte des jüdischen Volkes hinaus auf alle Völker und die ganze Schöpfung bezieht. Im Zentrum dieses neuen Bundes oder Testaments steht Jesus Christus. Das Neue Testament war also zuerst ein Glaubensbekenntnis, bevor es schließlich die Schriften bezeichnete, in denen die Jesuserinnerung überliefert wird.
Das rabbinische Judentum ging diesen Weg nicht mit. Einerseits versuchte die rabbinische Theologie, die Identität der jüdischen Gemeinden in der Diaspora durch Abgrenzung zu sichern. Andererseits ergab sich innerhalb des hebräischen Urchristentums ein Grundkonflikt zwischen Traditionalisten und Reformern, der die Ablösung vom Judentum beschleunigte. Hielten die einen an ihren jüdischen Wurzeln fest, wollten sich die anderen davon lösen. Die Traditionalisten im jüdisch geprägten hebräischen Urchristentum gerieten ins Hintertreffen. Sie überlebten noch eine Zeit lang als Seitenarm und verschwanden schließlich von der Bühne der Weltgeschichte. Demgegenüber setzte sich der hellenistisch geprägte christliche Zweig der Reformer durch und grenzte sich gegenüber dem Judentum ab, dem er entwachsen war. So wurde allmählich der Eindruck erweckt, dass das Judentum erst im Christentum zu seiner eigentlichen Gestalt gefunden und sich in ihm endgültig erfüllt habe, was in jenem vor Urzeiten nach Gottes Willen angelegt war. Die damit verbundenen theologischen Schwarz-Weiß-Konzepte von „Verheißung (im Judentum) und Erfüllung (im Christentum)“, „Gesetz (im Judentum) und Evangelium (im Christentum)“ haben über Jahrhunderte den christlichen Antijudaismus bestimmt. Das Zerrbild des angeblich gesetzlichen Pharisäers musste über Jahrhunderte herhalten, um das Judentum gegenüber der Gnadenreligion des Christentums in einem schlechten Lichte erscheinen zu lassen. Erst in heutiger Zeit ist es zu längst überfälligen Korrekturen gekommen. Und man hat in zahlreichen theologischen Darstellungen und kirchlichen Erklärungen vom Antijudaismus Abstand genommen und an die bleibende Erwählung Israels und die Treue Gottes zu seinem Volk erinnert.
Die Bibel wurde als Heilige Schrift die Gründungsurkunde des christlichen Zeitalters. So bildete sich im Laufe der Jahrhunderte als feste Überzeugung heraus, dass der Kanon biblischer Überlieferungen das vollständige und notwendige Wissen verkörpert, das der Welt zu ihrem Heil, zu ihrer Erlösung und zu ihrer Ordnung dient. Um dieses Wissen zu erschließen und zu bewahren, brauchte es die christliche Schriftgelehrsamkeit. Denn als Schriftreligion war das Christentum auf Schriftkenntnis, Übersetzung und Deutung angewiesen. Philologie, Hermeneutik und Dogmatik wurden als wissenschaftliche Leitdisziplinen an bedeutenden Schulen und Universitäten der Antike und des Mittelalters gelehrt. Die Theologie avancierte zur Metaphysik (zur Lehre über das, was die Physik oder Natur übersteigt) und galt in aristotelischer Tradition bis ins späte Mittelalter als die erste unter den Wissenschaften. In geradezu pyramidaler Hierarchie strukturierte die göttliche Weisheit und Vorsehung, vertreten und gehütet durch die Kirchen, das Corpus Christianum, die christliche Weltordnung. Erst nach dem Siegeszug der Naturwissenschaften in der Neuzeit wurden dieser Anspruch und diese Position infrage gestellt und schließlich relativiert. Fortan galt nicht mehr die biblische Tradition als grundlegende Wahrheit und Maßstab des Lebens, sondern nur noch das über den Weg des wissenschaftlichen Zweifels neu gewonnene empirische Wissen oder das vernunftgeleitete gesellschaftliche Übereinkommen. Durch die wissenschaftliche Revolution der Neuzeit und die Aufklärung geriet die Metaphysik in Konflikt mit den empirischen Wissenschaften. Es wurde gefragt: Ist die Theologie überhaupt eine Wissenschaft?