Loe raamatut: «Der Grossvater und seine Enkelin»

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Dominique Belleda

Der Grossvater und seine Enkelin

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ein roter Bus

Aufbruch

Reise nach B

Unter den Linden

Um und am Alex

Geschichtsstunde

Im Zoo

Der Küste entlang

Tulpen und holländische Geschichte

Boote und neue Bekanntschaften

Reisen

Überfahrten

Immer der Nase nach

Letterboxes

Am Ende der Welt

Bärenfell und Königinnen

Frankreich, Frankreich

Großstadtfieber

Hunde, Kirchen und ein Bild

Weiterreise

Primavera en la Costa Brava

Ferien

Übers Meer

Antike Stätten

Italianità

Tauben, Masken und Kanäle

Neue Freunde

Heimkehr

Epilog

Impressum neobooks

Ein roter Bus

Es ging wieder einmal zu den Großeltern. Schweigend sah Lilly aus dem Fenster des schwarzen Autos auf die karge spätwinterliche Landschaft. Sie hatte schwarz noch nie gemocht. Es war so eine düstere Farbe. In einem schwarzen Auto war es unmöglich, farbig zu träumen.

Auf den Vordersitzen unterhielten sich ihre Eltern, doch sie hörte nicht zu. Neben ihr stritten sich ihre beiden Brüder. Ab und zu mahnte der Vater sie zur Ruhe, und die Mutter warf einen besorgten Blick zur Tochter. Lilly war es gleich.

Die Großeltern wohnten nicht weit von Lillys Zuhause entfernt, mit dem Auto waren es höchstens zehn Minuten.

Ihre Mutter nahm sie bei der Hand, als sie aus dem Auto stiegen. Ihre Brüder rannten vor, um als erste an der Tür des Hochhauses zu stehen. Abwesend ließ Lilly den Blick über den bleichen Rasen vor den Häusern gleiten. Bald würde sie ihren Großvater wiedersehen.

Ihre Mutter wirkte nervös, als sie klingelte. Sie war immer nervös, bevor sie ihre Familie besuchte. Es würden alle da sein. Mutters drei Brüder und ihre Schwester mit ihrem Freund. Nur Lilly wusste, weshalb ihre Mutter jedes Mal nervös wurde, wenn sie unten klingelte. Wegen ihr. Sie schämte sich für ihre Tochter. Mit ihren Brüdern war das etwas anders, mit ihnen konnte man in die Öffentlichkeit, ohne Mitleid oder Häme zu ernten.

Der Lift brachte sie in den dritten Stock. Lillys Brüder sprangen aus dem Lift und fielen der Großmutter um den Hals, die sie an ihre große Brust drückte.

„Hallo Mutter“, begrüßte Lillys Mutter ihre Großmutter.

„Schön dich zu sehen, Alexandra. Hallo Markus, hallo Lilly.“ Lilly schüttelte ihre Hand. Sie war immer die Letzte, die begrüßt wurde.

„Die anderen sind schon da und warten auf euch“, lächelte die Großmutter ihre Tochter an. „Kommt rein.“

Geschwind drückte sich Lilly vor ihrer Mutter durch die Tür. Da war er! Großvater lächelte, als er sie sah und kniete sich hin, um seine Enkelin in die Arme zu nehmen.

„Hast du wieder etwas für mich?“, wollte Lilly erwartungsvoll wissen. Aber ihre Mutter hatte sie auch gehört. „Lilly, lass Großvater in Ruhe.“

„Ist schon gut, Alexandra“, lächelte der Großvater nur. Die beiden warteten im Flur, bis Lillys Eltern und ihre Brüder im Wohnzimmer verschwunden waren und die Großmutter sich in die Küche verzogen hatte.

„Diesmal ist es sogar etwas besonders Großes. Willst du es sehen?“ Lilly nickte begeistert. „Also dann.“ Großvater nahm seine Jacke vom Haken und zog seine Schuhe an. Leise öffnete er die Tür und winkte Lilly zu.

Vor der Tür nahm er sie bei der Hand und führte sie die Treppe hinunter, ganz hinunter, bis in die Tiefgarage. Es roch nach Abgas und Benzin, nach Geschwindigkeit, fernen Orten und der großen weiten Welt. Hier unten hatten Lilly und ihr Großvater schon manches Abenteuer bestanden.

Großvater führte sie in den Teil der Garage, wo sonst die Lieferwagen für das Einkaufszentrum darüber parkten.

Dort stand, von einer nackten Glühbirne beleuchtet, ein knallroter VW-Bus. Lilly staunte.

„Wie findest du ihn?“, fragte Großvater. Lilly gab keine Antwort, sondern machte sich von seiner Hand los und ging auf den Bus zu. Auf dem unteren Teil des Busses waren Sterne, Kringel, Punkte, kleine Schiffe und Friedenszeichen auf den roten Lack gemalt. Mit dem Finger strich Lilly behutsam den Formen entlang. Das reichte Großvater als Antwort. Mit einem Lächeln zog er den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. Lilly kletterte hinein und machte es sich auf dem Fahrersitz bequem. Großvater setzte sich daneben.

„Darin kann man Abenteuer erleben, oder?“, wollte Lilly wissen. Großvater nickte. „Werden wir zusammen auf Abenteuerreise gehen?“, fragte sie ernst. Großvater schmunzelte.

„Das machen wir ganz bestimmt. Aber jetzt müssen wir wieder hinauf. Die anderen machen sich bestimmt schon Sorgen um uns. Und außerdem verpassen wir das Nachtessen.“

Lilly nickte und stieg aus. Sie hüpfte um den Bus herum und legte ihre kleine Hand in Großvaters große, runzlige. Zusammen gingen sie zur Wohnung zurück. Auf der Treppe ging Lilly ganz langsam, damit Großvater mit ihr Schritt halten konnte.

„…hat sich einen alten, klapprigen VW-Bus gekauft. Weiß der Himmel, wofür er ihn braucht, aber ich konnte ihn nicht umstimmen“, hörten sie Großmutter aus dem Wohnzimmer schimpfen, als sie in die Wohnung kamen. Fragend sah Lilly ihren Großvater an, doch der lächelte nur, legte seinen Finger auf die Lippen und zwinkerte ihr zu. Lilly nickte.

Aufbruch

„Wir holen sie nächste Woche wieder ab“, erklärte die Mutter. Lilly war wieder bei ihren Großeltern. Ihre Familie würde in die Ferien fahren und sie würde hier bleiben. Das war immer so und Lilly war es ganz recht.

„Sie hat so viele Bücher mitgenommen, dass kaum noch Platz für was anderes in der Tasche war. Aber ich denke, die Kleider werden für eine Woche reichen. Sonst habt ihr ja unseren Hausschlüssel.“

Mit einem Kuss auf die Stirn verabschiedete sich die Mutter von Lilly. Großvater nahm ihr die schwere Tasche ab und stellte sie ins Gästezimmer.

„Pack schon mal aus. Bald gibt’s Mittagessen“, rief die Großmutter aus der Küche. Fragend sah Lilly Großvater an. Der lächelte sein geheimnisvolles Lächeln und schüttelte sacht den Kopf. Lilly nickte und ging ins Gästezimmer, um sich ein Buch aus ihrer Tasche zu holen.

„Immerzu lesen“, meckerte die Großmutter, als sie alle um den Tisch herum saßen. Es gab Pasta mit Tomatensauce.

„Das kann einfach nicht gut tun. Da kann ja nichts Gutes bei rauskommen.“ Lilly legte ihr Buch vorsichtig neben sich auf die Eckbank. Sie verstand nicht, was an Büchern so schlimm sein sollte. Verstohlen blickte sie zu Großvater hinüber, der ihr zuzwinkerte. Ohne etwas zu sagen wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Pasta zu.

Nach dem Essen verzog sich Lilly ins Gästezimmer, um zu lesen. Sie hatte sich ein paar Kekse mitgebracht und ein Glas Milch, um sie hinunter zu spülen.

Da klopfte es auf einmal leise an der Tür. Lilly stand auf und ging hin, um zu sehen wer es war. Es war Großvater.

„Es ist soweit, Kleine. Du hast doch noch nicht ausgepackt, oder?“ Lilly schüttelte den Kopf und bedeutete ihrem Großvater, sich zu ihr hinunter zu beugen. „Wo ist Großmutter?“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Einkaufen gegangen“, flüsterte Großvater zurück. Lilly nickte zufrieden und wandte sich um. Sie brachte das leere Glas in die Küche zurück und steckte ihr Buch in die Tasche. Großvater griff sie sich und trug sie in den Flur hinaus.

„Ich habe noch etwas für dich. Es wartet unten im Bus auf dich.“ Lilly nickte und Großvater half ihr, sich die Schuhe und die Jacke anzuziehen. Dann setzte er ihr ihre Kappe auf den Kopf und gab ihr die Hand. Mit der anderen machte er die Tür auf, packte ihre Tasche und die beiden machten sich still und leise auf den Weg.

In der Tiefgarage war es noch immer düster, doch Lilly kam es vor, als leuchtete der Bus schon von weitem. Neugierig lugte sie durch eines der hinteren Fenster hinein, während Großvater die Tür aufschloss.

Der Kofferraum war vollgepackt mit Taschen. „Wofür ist denn diese rote Tasche da?“, wollte sie neugierig wissen. Großvater drehte sich zu ihr um und lächelte sein geheimnisvolles Lächeln. „Das wirst du schon sehen, wenn wir unterwegs sind.“ Damit öffnete er die Tür zum Beifahrersitz und half Lilly einzusteigen. Schnell schnallte sie sich an. Im Bus war es warm. Sie zog die Jacke und die Mütze aus und warf sie nach hinten.

„Brauchst du noch etwas aus deiner Tasche?“, wollte Großvater wissen. Lilly nickte und kramte das Buch hervor, in dem sie zuvor gelesen hatte. Sie konnte hören, wie Großvater die Tür zum Kofferraum öffnete und ihre Tasche verstaute. Dann kam er noch einmal zurück. Er hielt etwas hinter dem Rücken versteckt. Mit geheimnisvoller Miene zog er die Hand nach vorne und hielt ihr ein Plüschtier hin. Es war ein kleiner Löwe, in den man mit der Hand hinein schlüpfen und ihn bewegen konnte. „Das ist Leo. Er wird uns begleiten.“ Vorsichtig nahm Lilly den Löwen in die Hand und setzte ihn sich auf den Schoss.

Großvater machte die Tür zu, ging um den Bus herum und setzte sich schließlich auf den Fahrersitz.

Erwartungsvoll sah Lilly ihn an. Er lächelte. „Es kann losgehen.“ Und er startete den knatternden Motor.

Reise nach B

Es waren nicht viele andere Autos unterwegs. Lilly machte sich einen Spaß daraus, Autos gleicher Farbe zu zählen. Großvater hatte das Radio angeschaltet und Lilly wippte abwesend mit dem Fuß den Takt mit.

Nach einer Weile wurde ihr das Spiel zu langweilig und sie griff nach ihrem Buch. „Emil und die Detektive“, von Erich Kästner.

Nach einer Stunde taten ihr vom Lesen die Augen weh. Sie machte eine Pause und betrachtete Großvater.

Er saß ganz entspannt am Steuer des alten Busses und schien es zu genießen, wenn draußen ein Kind ganz aufgeregt auf den farbigen Bus deutete. Dann huschte jedes Mal ein leichtes Lächeln über sein faltiges Gesicht. Lilly mochte seine Falten. Sie erzählten ihr von all den Jahren, die Großvater schon gelebt hatte und von den vielen Dingen, die er erlebt hatte. Früher hatte sie stundenlang auf seinem Schoss sitzen können, versunken in eine eingehende Betrachtung seines faltigen Gesichtes. Sie hatte sich ausgemalt, was für ein Abenteuer hinter jeder dieser Falten versteckt war. Jedes Mal, wenn sie sich bei einer Falte nicht ganz sicher gewesen war, hatte sie Großvater gefragt und dieser hatte ihr eine seiner tollen Geschichten erzählt. Geschichten von Piraten und Räuber und von exotischen Orten, geheimnisvollen Schätzen, dunklen Höhlen und von der Farbe des Meeres.

Dieses Mal jedoch, nahm sie sich vor, den ganzen Großvater zu betrachten. Er trug ein langärmliges, rot kariertes Hemd und eine Hose mit Bügelfalten. Die schlanken Hände, die das Lenkrad umfasst hielten, waren ebenfalls voller Falten.

„Großvater, erzählen deine Hände auch Geschichten?“, wollte sie neugierig wissen. Großvater nickte lebhaft.

„Aber natürlich tun sie das. Diese hier“, er zeigte ihr eine tiefe Falte auf seinem Handrücken, „habe ich bei einem Überfall bekommen. Ich habe dir doch erzählt, dass Großmutter und ich einmal in Amerika gewesen sind. Wir fuhren damals mit einem Dampfer auf dem Mississippi, als wir plötzlich überfallen wurden. Sie kamen in einem Motorboot und stellten sich uns in den Weg. Der Kapitän unseres Dampfers musste anhalten und dann sind die Männer auf den Dampfer geklettert. Sie wollten von allen Geld und Wertsachen, doch Großmutter und ich hatten keine dabei. Das wollte einer von ihnen nicht glauben und hat versucht, mir meine Jacke abzunehmen, um selbst nachzusehen. Aber ich habe ihn gepackt und in den Fluss geworfen. Als die anderen Männer das sahen, bekamen sie Angst und flohen. Dabei ließen sie auch all die Wertsachen zurück, die sie eigentlich hatten stehlen wollen. Zum Dank hat mir dann eine der bestohlenen Damen die goldene Kette geschenkt, mit der du immer so gern gespielt hast.“

„War das deine erste Falte?“, wollte Lilly von Großvater wissen.

„Nein, das war nicht die erste. Aber das werde ich dir ein andermal erzählen.“ Lilly gab sich mit dieser Antwort zufrieden und wandte sich wieder ihrem Buch zu.

Auch Großvater warf immer wieder einen Blick zu seiner Enkelin. Dass sie kaum sprach störte ihn nicht weiter. Er war der Meinung, dass sie selbst entscheiden sollte, wann sie etwas sagen wollte. Sie trug einen ihrer wollenen Pullover, die ihre Großmutter für sie gestrickt hatte und eine Jeans. Lange braune Haare umspielten ihr schmales Gesicht. Bald würde sie dreizehn Jahre alt werden. Und noch immer hatte sie keine Anzeichen einer Besserung gezeigt. Sie war ungewöhnlich ernst für ihr Alter, benahm sich manchmal wie eine Erwachsene, redete kaum, lachte nicht, spielte auch nicht mit Gleichaltrigen, sondern las viel. Trotzdem liebte er seine kleine Enkelin und konnte ihre Andersartigkeit akzeptieren, doch er kam nicht umhin, zu bemerken, dass es für seine Tochter Alexandra eine enorme Belastung war.

Lilly sah von ihrem Buch auf. Vor ihr erstreckte sich eine riesige Wasserfläche. Sie hatten den Bodensee erreicht.

„Wir kommen an die Grenze“, erklärte der Großvater. Lilly nickte. Sie wusste, dass sich auf der anderen Seite des Sees ein anderes Land verbarg.

Über dem See hing Nebel so dicht, dass man das andere Ufer nicht mehr sehen konnte. Lilly versuchte sich vorzustellen, dass hier das Meer anfing. Sie war noch nie am Meer gewesen. Aber sie hatte schon viele Bücher darüber gelesen.

Der Zöllner hielt sie nur kurz auf, als sie an die Grenze kamen, dann konnten sie weiterfahren. Eine Weile noch betrachtete Lilly das neue Land vor sich. Als sie jedoch zugeben musste, dass sich nicht viel geändert hatte, wurde es bald langweilig und sie fing wieder an, zu lesen.

Erst als Großvater den Bus an einer Raststätte anhielt, wurde sie aus der Geschichte gerissen. Fragend sah sie ihn an.

„Möchtest du den Sonnenuntergang sehen?“

Lilly nickte lebhaft und legte das Buch weg. Großvater stieg aus, kam um den Bus herum und half ihr, die Jacke anzuziehen. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie auf eine Brücke hinauf, von wo aus man auf die umliegenden Bauernhöfe, einen Fluss und natürlich den Sonnenuntergang sehen konnte.

„Sieh nur, diese Farben! So eine Schönheit kann nur die Natur hervorbringen.“ Lilly sah auf das Schauspiel. Das Blau des Himmels bildete eine ebenmäßige Leinwand, Wolken zeichneten Landschaften darauf und die Sonne malte diese mit rosa Farbe an. Ganz konzentriert sah Lilly sich das Bild an und verankerte es in ihrem Gedächtnis. Sie nahm die Stimmung in sich auf, zusammen mit dem kribbelnden Gefühl von Abenteuer in ihrem Bauch und schloss sie in ihre Seele ein, um sie nie wieder zu vergessen.

Sie gingen erst zum Bus zurück, als auch noch die letzte Farbe vom Himmel verschwunden war, und schon der erste Stern am Himmel blinkte. Im Bus stellte Großvater die Lehne ihres Sitzes nach hinten, damit sie besser schlafen konnte, holte eine Decke und ein Kissen aus dem Kofferraum und bereitete Lilly ein Bett. Er half ihr einzusteigen und schnallte sie an.

„Schlaf gut.“ Dann ging er um den Bus herum und setzte sich wieder hinters Steuer. Lilly schloss die Augen, zog sich die Decke bis an die Nase, drückte Leo an sich und ließ sich vom gleichmäßigen Brummen des alten Busses in den Schlaf singen.

Unter den Linden

„Wir sind da, Lilly. Aufwachen.“

Mit vom Schlaf verklebten Augen richtete sich Lilly auf. Der Rücken tat ihr weh vom Liegen auf dem Sitz des Busses. Sie rieb sich die Augen und blickte sich um.

Sie waren mitten in einer riesigen Stadt. Massen von Menschen waren auf den Straßen unterwegs: Menschen allen Alters und Aussehens. Autoschlangen quälten sich die Straßen entlang und beim Überholen sah Lilly oftmals gehetzte Gesichter hinter dem Steuer des einen oder anderen Autos. Sie blickte zu Großvater. Er wirkte nicht aufgebracht, es spielte sogar schon wieder ein Lächeln um seine Lippen, während er den Bus langsam die Straße entlang fuhr. Noch nie hatte sie ihren Großvater aufgebracht oder wütend gesehen. Sogar um die Großmutter herum war er immer die Ruhe selbst gewesen. Und genau so saß er nun hinter dem Steuer des Busses. Lilly konnte einen leisen Anflug von Stolz nicht unterdrücken. Das war er. Ihr Großvater. Und gemeinsam waren sie in ihrem roten VW-Bus zu einem Abenteuer aufgebrochen.

Lilly blickte wieder auf die Stadt hinaus. In den abzweigenden Straßen konnte sie alle möglichen Läden sehen: Buchhandlungen, Bäckereien, Kleidergeschäfte.

„Lilly, sieh mal. Da ist das Brandenburger Tor“, rief Großvater auf einmal aufgeregt. Lilly wandte den Kopf und folgte Großvaters ausgestrecktem Arm.

Vor ihnen erhob sich ein riesiges Tor. Es bestand aus fünf Bögen und darauf thronte ein Wagen aus Bronze, gezogen von vier riesigen Pferden. Auf dem Wagen stand eine Gestalt mit einem Stab in der Hand, auf dem wiederum ein Adler mit ausgestreckten Flügeln saß.

Großvater hielt den Bus vor einem vornehmen Hotel an. Die Pagen, die vor dem Eingang standen staunten nicht schlecht, als sie den roten Bus sahen. Einer von ihnen kam schließlich näher.

„Was kann ich für sie tun?“, wollte er höflich wissen. Neugierig sah Lilly den Mann an. Er trug eine rote Uniform und sah sehr elegant aus. Gespannt wartete sie auf Großvaters Antwort.

„Wenn sie bitte den Bus in die Garage fahren würden. Und dann wären da noch etwa drei Taschen im Kofferraum, die man hinein tragen sollte. Wissen sie, ich bin schon ein bisschen älter und - “

„Haben sie vor, hier zu nächtigen?“, fragte der Mann erstaunt.

„Aber natürlich.“ Damit stieg Großvater aus und übergab den Schlüssel des Busses dem ziemlich verdutzten Pagen. Großvater kam um den Bus herum gelaufen und half Lilly beim Aussteigen. Inzwischen hatte der Page sich wieder gefasst und zwei weitere zur Unterstützung gerufen. Gemeinsam schleppten die beiden die drei Taschen, die Großvater ihnen zeigte, und nach kurzem Zögern stieg der erste Page in den Bus und fuhr davon. Lilly sah dem roten Bus nach. Ihm durfte nichts passieren. Er war ihr Abenteuer. Aufmunternd klopfte Großvater ihr auf den Rücken, als er ihren besorgten Blick bemerkte und Lilly beruhigte sich wieder.

Die beiden Pagen mit den Taschen waren bereits einige Schritte voraus und Lilly und Großvater folgten ihnen ins Innere des Hotels. Hinter der großen Tür standen weitere Pagen, die sie freundlich anlächelten.

„Willkommen im Adlon“, begrüßte sie der eine. Lilly sah, wie Großvater dem Mann kurz zunickte und machte es ihm nach.

Die Frau an der Rezeption wirkte ähnlich erstaunt wie der Page, doch sie fasste sich schnell wieder und gab ihnen den Schlüssel für ihr Zimmer. Lilly und Großvater folgten den Pagen, die ihnen den Weg zeigten und endlich standen sie vor ihrem Zimmer.

Schnell griff sich Großvater die rote Tasche und verstaute sie im Schrank.

Lilly nahm ebenfalls ihre Tasche entgegen und stellte sie neben das große Bett. Großvater legte sich hin.

Die nächsten vier Stunden verbrachte Lilly lesend am großen Fenster. Ab und zu hob sie den Blick und sah auf die Straße hinunter, wo eine endlose Masse von Menschen hin und her wogte. Sie beobachtete das bunte Treiben der Straßenmusikanten, die Arbeiter auf der Baustelle vor dem Hotel und die Obdachlosen, die auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor um Spenden bettelten.

Als Großvater fertig ausgeschlafen hatte, winkte er Lilly, zum Schrank zu kommen, in dem er die rote Tasche versorgt hatte. Neugierig trat Lilly zu ihm und wartete. Mit einer großen Geste öffnete Großvater die Tasche und zog ein schwarzes Etui hervor. Nach kurzem Zögern hielt er Lilly das Etui hin. Diese nahm es vorsichtig entgegen und öffnete es. Zum Vorschein kam ein Fotoapparat. Einer von denen, bei dem das Foto gleich vorne raus kam.

„Das ist für die Farben, die wir sammeln werden“, meinte Großvater. Und dann machten sich die beiden auf den Weg, hinunter in den Lärm der Großstadt.

Hand in Hand gingen die beiden die breite Straße entlang. Neugierig sah Lilly sich um und besah sich die Namen der Geschäfte links und rechts. Madame Tussauds, las sie an einer roten Hauswand, unter der eine lange Schlange von Touristen darauf wartete, eingelassen zu werden. Sie suchte nach einem Straßenschild. Unter den Linden, las sie schließlich an einer weißen Hauswand.

Nach einer Weile erreichten sie eine Brücke. Lilly blieb stehen und sah auf das Wasser hinunter, auf dem alle Arten von Schiffen zu sehen waren. Als sie den Blick wieder hob, fiel ihr ein riesiges Gebäude ins Auge, das auf der anderen Seite der Brücke stand. Es war mit Statuen verziert, gekrönt von drei türkisfarbenen Kuppeln und die Wände sahen aus, als wären sie geschwärzt. Es musste eine Kirche oder so etwas sein, denn auf der höchsten der Kuppeln war ein Kreuz befestigt. Großvater hatte ihren Blick gesehen.

„Das ist der Dom.“ Lilly nickte. Sie gingen weiter. Auf der anderen Seite der Brücke wechselten sie auf die linke Straßenseite und gingen ans Ufer des Flusses hinunter. Rundfahrten auf der Spree stand auf einem Schild geschrieben. Ohne zu zögern steuerten sie darauf zu und bestiegen das nächste Schiff, das anlegte.

Es war ein langes, niederes Schiff, vollgestellt mit Bänken und Stühlen für die Touristen. Lilly und Großvater setzten sich in die Mitte des fast leeren Schiffes. Die Sonne schien durch die Wolken auf das Glasdach des Schiffes, sodass es darunter schnell sehr warm wurde, obwohl es noch immer Winter und draußen recht kalt war. Bald schon wurde es so warm, dass Lilly ihre Jacke ausziehen musste.

Sie fuhren erst unter der Brücke durch und kamen am Palast der Republik vorbei, oder zumindest an seinen Überresten. Vier Betonpfeiler ragten noch aus dem Schutt und wirkten inmitten der blühenden Stadt wie vertrocknete Äste. Sie fuhren weiter am Marx-Engels Forum vorbei, bis zu den Schleusen, dann kehrten sie um und fuhren zurück, an ihrem Ausgangspunkt vorbei und weiter in die andere Richtung. Aufgeregt deutete Lilly auf eine wunderschöne, verzierte Kuppel, die über den anderen Häusern thronte.

„Das ist die Kuppel der neuen Synagoge“, erklärte ihr Großvater.

Sie fuhren weiter und gelangten schließlich ins Regierungsviertel. Der Reichstag mit seiner in der Sonne spiegelnden Glaskuppel zog an ihnen vorbei, dann zwei weitere Regierungsgebäude, links und rechts der Spree, die durch eine schmale Brücke miteinander verbunden waren. Wenig später kam der Bahnhof in Sicht, doch Großvater deutete auf das andere Ufer.

„Das da ist die Schweizer Botschaft“, erzählte er, „Sie ist noch relativ neu.“

Lilly folgte seinem ausgestreckten Arm und erkannte einen seltsamen Gebäudekomplex, mit blitzförmigem Grundriss.

Nach dem Regierungsviertel folgte ein Park, dort kehrte das Boot um und fuhr zurück.

Eine Stunde später waren sie wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen.

Tasuta katkend on lõppenud.