Loe raamatut: «Eingeäschert», lehekülg 5

Font:

11
DOROTHY

Craigentinny sah völlig anders aus als alles, was man sich unter Edinburgh vorstellen konnte. Es waren nicht das Schloss und die Turmspitzen des Touristenzentrums oder das Durcheinander der Mietshäuser in der Old Town. Es waren nicht die georgianischen Stadthäuser der New Town oder die zusammengestückelten Siedlungen aus Trainspotting. Das hier waren breite, nichtssagende Straßen voller 1930er Bungalows, kleiner Gärten und angebauter Garagen, vereinzelt mal ein Wohnwagen in einer Einfahrt. Das hier war ein Vorort nahe am Meer, eingerahmt von einem kommunalen Golfplatz und einer Wertstoffsammelstelle. Dorothy sah auf die Rückseite von Arthur’s Seat, auf die sanften, mit Ginster bewachsenen Hänge, die im Kontrast zu den Steilhängen der Vorderseite standen, und es war, als sehe man Edinburghs großer alter Dame unter die Röcke.

Sie überprüfte die Adresse, die Thomas ihr gegeben hatte, 72 Craigentinny Avenue. Grauer Backstein, Mansardenfenster zur Straße, ein weißer Ford Ka vor der Tür. Das perfekte kleine Heim von irgendwem. Dorothy konnte sich nie an den Platzmangel in schottischen Häusern gewöhnen. Die Menschen hier schienen glücklich zu sein mit einem winzigen Stückchen Land, wo sie eng aufeinanderhockten. Zu Hause in Pismo Beach waren sie nicht wirklich reich gewesen, aber sie wuchs in einem Haus so groß wie das der Skelfs auf, ausladend, eingeschossig mit neuen Anbauten in allen Richtungen. Schottische Häuser wirkten vergleichsweise düster, verklemmt. Vielleicht genau wie die darin lebenden Menschen.

Sie verschränkte einen Moment die Finger über ihrem Herz, atmete durch die Nase ein und durch den Mund aus, versuchte, ihre Mitte zu finden. Sie ermahnte sich, dass diese Frau sie nicht erwartete, es würde ein Schock sein. Und was die Frau zu sagen hatte, könnte Dorothy ebenfalls schockieren.

Sie öffnete das schwarze Törchen, ging den Weg hinauf und klingelte an der Haustür.

Wartete.

Sah eine Bewegung durch das strukturierte Glas der Tür, die schließlich geöffnet wurde von einem vielleicht zehnjährigen Mädchen in Schuluniform, weißes Polohemd mit kastanienbrauner Strickjacke. Auf dem goldenen Wappen der Strickjacke stand oben »Craigentinny« und »I Byde it« darunter. Dazwischen ein Jagdhorn, etwas, das wie zwei gekreuzte Zuckerstangen aussah, und die Palette eines Malers. Dorothy kannte genug Schottisch, um zu wissen, dass »byde« so viel wie »leben« bedeutete, aber das ergab keinen Sinn. »Ich lebe es« – was für ein Schulmotto war das denn?

Sie lächelte. »Hi, wie heißt du?«

»Natalie.«

»Ist deine Mum oder dein Dad zu Hause?«

Sie nickte und drehte sich um. »Mum!« Das brüllte sie die Treppe hinauf. »Sie kommt gerade.« Natalie blieb in der Tür stehen und starrte das Muster von Dorothys blauem Kleid an.

Dorothy hörte Schritte, dann wurde die Tür weiter geöffnet.

Rebecca Lawrence war etwa in Jennys Alter, jung genug, um Jims Tochter sein zu können. Dorothy sah Natalie hinterher, die im Wohnzimmer verschwand, und versuchte, keine düsteren Gedanken zuzulassen. Rebecca hatte Kurven, die keine Skelf-Frau je haben würde. Breite Hüften, volle Brüste, ein rundes Gesicht. Wenn eine Skelf-Frau zulegte, wurde sie pummelig, aber Rebecca war eher sexy als pummelig. Ihre Haarfarbe changierte zwischen blond und brünett, und sie trug ein graues Kostüm, Kleidung fürs Büro. Schwarze Strumpfhosen, aber keine Schuhe, was seltsam intim wirkte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. Ihr Akzent wies auf gebildeteres Edinburgh hin, war höflich, zugänglich.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, mein Name ist Dorothy … Skelf.«

Rebeccas Gesicht verhärtete sich bei Erwähnung des Nachnamens. »Was wollen Sie?«

»Ich möchte über Ihren Mann sprechen, über Simon.«

»Simon ist tot.«

Es klang, als versuche sie sich immer noch davon zu überzeugen.

»Mein Mann ebenfalls, vor einer Woche.« Dorothy berührte die Wand neben der Tür, woraufhin sich Staub löste. »Darf ich reinkommen?«

Rebecca seufzte, trat einen Schritt zur Seite und führte Dorothy in die Küche.

Schränke und Herd waren alt, schon sehr lange nicht ersetzt worden. Mehrere Risse in den Bodenfliesen neben dem Kühlschrank. Zeichnungen von Natalie waren mit Magneten an der Kühlschranktür befestigt, daneben Zettel über Schulsport und Cheerleading.

Rebecca lehnte sich mit verschränkten Armen an die Arbeitsfläche. »Und?«

»Es ist ein bisschen unangenehm.«

»Ja, ist es.«

»Wir sind uns nicht begegnet, als Simon bei uns arbeitete.«

»Nein«, sagte Rebecca. »Er hat Arbeit und Freizeit gern auseinandergehalten. Wollte den Tod nicht mit nach Hause bringen.«

In Dorothys Zuhause war der Tod allgegenwärtig. »Das verstehe ich.«

»Was wollen Sie, Mrs Skelf?«

»Bitte, Dorothy.«

Rebecca rümpfte darüber die Nase, als Natalie hereinkam und am Ärmel ihrer Mutter zog. »Darf ich bitte was zu naschen haben?«

Rebecca sah hinunter, ihre Körpersprache war sofort offener und freundlicher. »Gleich, okay?«

Natalie schlenderte wieder hinaus. Dorothy hörte aus dem anderen Zimmer den Ton eines Zeichentrickfilms.

»Sie ist bezaubernd«, sagte Dorothy.

»Sie ist eine ziemliche Nervensäge, wie alle Kids.«

»Und Sie haben sie allein großgezogen.«

»Worum geht’s hier?«

Dorothy schaute sich um. Küchengeräte, ein halb volles Weinregal, Kochbücher von Jamie und Nigella. »Wie ich schon sagte, Jim ist letzte Woche gestorben.«

»Tut mir leid, das zu hören.«

Dorothy winkte ab. »Ich bin Papierkram durchgegangen, persönliche Sachen von Jim, die Geschäftskonten und so weiter.«

»Hm-hm.«

Die Luft hatte sich plötzlich abgekühlt, Dorothy spürte das Kribbeln einer Gänsehaut.

»Ich habe entdeckt, dass von unserem Geschäftskonto Zahlungen auf Ihr Girokonto erfolgt sind. Jeden Monat fünfhundert Pfund. Seit Jahren.«

»Das ist richtig.«

»Ich weiß nichts davon. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir den Grund zu verraten?«

Rebecca zuckte mit den Achseln. »Es ist Simons Lebensversicherung.«

Dorothy rieb ihren Ellbogen. »Wir haben keine Lebensversicherung für unsere Mitarbeiter, Rebecca.«

Die Verwendung ihres Namens schien sie in Harnisch zu bringen, als wäre es zu locker, zu persönlich.

»Das ist aber nicht, was Ihr Mann gesagt hat.«

»Wann?«

Rebecca schloss die Küchentür, und die Geräusche des Zeichentrickfilms verstummten. »Das ist schon viele Jahre her, es ist Vergangenheit.«

Dorothy berührte ihre Schläfe. »Bei allem Respekt, das ist es nicht. Das Geld wird immer noch von unserem Konto überwiesen.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, das ist meine Lebensversicherung, für Simon.«

»Das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Dorothy. »Selbst wenn wir so ein Arrangement hätten, würde das Geld doch nicht direkt von uns kommen, es würde von der Versicherung angewiesen.«

»So hat Mr Skelf es mir aber nicht gesagt, als er hier war, um es zu erklären.«

Dorothy sah sich um, als könnte Jims Geist womöglich aus einem Schrank springen. »Er ist hierhergekommen?«

Rebecca nickte. »Im Anzug, mit einer Aktentasche. Ich musste verschiedene Dokumente unterschreiben.«

»Was für Dokumente?«

Rebecca verschränkte die Arme. »Kann mich nicht erinnern, irgendein rechtlicher Kram. Das ist gut zehn Jahre her.«

»Besitzen Sie eine Kopie dieser Dokumente?«

»Irgendwo, ja.«

»Kann ich sie mal sehen?«

»Nein.«

»Ich habe in unseren Papieren keinerlei Dokumentation zu dieser Sache gefunden.«

Rebecca hob die Augenbrauen. »Das ist Ihr Problem.«

Dorothy rieb ihren Nasenrücken. »Vielleicht könnten Sie mir sagen, was Ihrem Mann zugestoßen ist.«

»Vielleicht könnten Sie sich um Ihren eigenen Kram kümmern.«

»Ich möchte es nur verstehen«, sagte Dorothy. »Sie sagen, Ihr Mann sei tot, aber das ist streng genommen nicht die ganze Wahrheit, oder?«

»Haben Sie mir nachspioniert?«

»Bitte.«

Rebecca ging zum Wasserkocher, als wollte sie ihn auf den Herd stellen, berührte aber nur seine metallene Seite. »Für mich ist er tot.«

»Er ist verschwunden.«

Rebecca lehnte sich an die Arbeitsplatte, diesmal als benötige sie den Halt. »Ich weiß nicht, warum Sie das jetzt ausgraben. Eines Tages ist er zur Arbeit aus dem Haus gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. An dem Abend habe ich bei Skelfs angerufen und mit Ihrem Mann gesprochen, der sagte, Simon sei an diesem Tag nicht zur Arbeit erschienen. Es fehlte keine Kleidung, keine Taschen, er hat nichts mitgenommen. Er hat auch nie auf unser Konto zugegriffen. War einfach weg.«

»Was hat die Polizei gesagt?«

Rebecca lachte bitter auf. »Es ist nicht verboten zu verschwinden. Tausende tun das jedes Jahr. Die Schlussfolgerung lag nahe: Er hatte genug von mir.«

»Und Ihre Tochter?«

Das entlockte ihr einen eisigen Blick. »Ich war schwanger mit ihr, als es passierte.«

»Haben Sie versucht, ihn zu finden?«

»Wie denn?«

»Durch einen Privatdetektiv.«

»Ich hatte kein Geld.«

»Wussten Sie, dass Jim nicht nur Bestattungsunternehmer, sondern auch Privatdetektiv war?«

Rebecca sah sie an, als wäre sie verrückt. »Nein.«

Dorothy versuchte, es richtig auf die Reihe zu bekommen. Etwa zu dieser Zeit hatte er mit der Detektei begonnen, daher war sie nicht ganz sicher, ob das schon lief, als Simon verschwand. Scheiße, vielleicht war Simons Verschwinden ja der Grund, warum Jim damit angefangen hatte. Ergab das einen Sinn? Jim hatte ihr immer gesagt, die Sache mit der Detektei hätte sich ergeben, weil ein Hinterbliebener, ein Kunde des Bestattungsunternehmens, einen lange verschollenen Cousin finden wollte. Aber Dorothy begann, alles infrage zu stellen. Jim hatte definitiv gelogen, was Simon betraf, denn zu Dorothy hatte er gesagt, Simon habe einfach gekündigt, während er Rebecca sagte, er sei nicht mehr zur Arbeit erschienen. Warum sollte er lügen? Warum sollte er nicht anbieten, Simon zu suchen? Warum gab er Rebecca Geld?

»Erzählen Sie mir von dieser Lebensversicherung«, sagte Dorothy.

»Jim ist hergekommen, als Simon für vermisst erklärt wurde. Er sagte, Simon habe bei der Firma eine Versicherung abgeschlossen, dass die Skelfs mir Geld schuldeten.«

Dorothy schüttelte den Kopf. »Sie wissen selbst, wie dünn sich das anhört.«

Rebecca drückte sich von der Arbeitsplatte ab, hatte die Arme gesenkt. »Sie sollten jetzt gehen.«

»Ich vermute, Sie wollten nicht zu viel über Geld nachdenken, das einfach so kam.«

Rebecca öffnete die Küchentür. »Gehen Sie.«

»Was macht mein Knabberzeug?«, fragte Natalie aus dem anderen Raum.

»Gleich«, rief Rebecca zurück.

»Es sei denn, da ist noch etwas, das Sie mir verheimlichen.«

Rebecca schüttelte den Kopf. »Wie können Sie es wagen, hierherzukommen und mich eine Lügnerin zu nennen? Wenn Sie nicht sofort gehen, rufe ich die Polizei.«

Was hatte Dorothy denn in der Hand – außer verworrenen, zehn Jahre alten Erinnerungen und einer Aufstellung von Zahlungen? Sie ging an Rebecca vorbei, spürte die von ihr ausgehende Wut. Sie stellte sich vor, wie schlechtes Juju durch ihre eigene Haut hindurch in ihre Seele sickerte.

In der Tür zum Wohnzimmer blieb sie stehen, sah, wie Natalie irgendetwas mit sprechenden Tieren und Geistern anschaute.

»Nett, dich kennenzulernen, Natalie«, sagte sie.

Natalie drehte sich zu ihr um. »Bye.«

Dorothy spürte Rebeccas Berührung auf ihrer Schulter und ging zur Haustür weiter. Rebecca führte sie hinaus, eine feste Hand auf ihrem Rücken.

»Kommen Sie nicht wieder«, sagte sie, als die Tür sich schloss.

12
JENNY

King’s Buildings war ein Kaninchengehege. Hannah hatte sie gewarnt, aber Jenny ging davon aus, dass ihr Orientierungssinn obsiegen würde. Doch das Universitätsgelände schien auf Verwirrung angelegt worden zu sein, war voller winziger Räume, Ecken und Enden, Hecken und Grünzeug verbargen die Rohre, den Beton und die abblätternde Farbe der naturwissenschaftlichen Gebäude.

Es war schräg, von Studenten umgeben zu sein, als wären sie Außerirdische. Allerdings herrschte hier eine Energie, eine Unbekümmertheit gegenüber ihrem Herumgeblödel, was darauf hindeutete, dass sie keine Ahnung von dem Desaster hatten, das das Leben für sie bereithielt. Jenny stellte sich das Ende von Die Körperfresser kommen vor, wie sie darauf wartete, dass alle auf sie zeigten und kreischten und sich dann auf sie stürzten. Sie fühlte sich deplatziert mit ihrem schlappen, mittelalten Körper, mit ihrem Zynismus, ihrer schlaffen Haut. Und sie kam sich auch klein vor, wieso waren eigentlich alle jungen Leute so gottverdammt groß?

Sie ging an einer Gruppe vorbei, die auf einem grasbewachsenen Hang Sonne tankte. Es gab hier mehr Frauen, als sie erwartet hatte, was ihre Vorurteile in die Schranken wies. Hannahs Freude an Mathematik und Wissenschaft hatte sie überrascht, ihr Wissensdurst bezüglich des Universums und wie es funktionierte. Sie hatte das gefördert, wie es alle Eltern tun würden, aber verstanden hatte sie es nie. Vielleicht gaben MINT-Themen die Richtung an, die eingeschlagen werden musste. Wenn die Gesellschaft zusammenbricht und wir alle in einer trostlosen Apokalypse landen, werden die Wissenschaftler und Ingenieure, die Sachen bauen, Wasser reinigen und Feuer machen können, das Sagen haben. Sie sah einen Hinweis auf das Zentrum für Wissenschaft unter Extrembedingungen und grübelte darüber. Die Wissenschaft des Nervenzusammenbruchs oder der Scheidung? Sie entdeckte den Eingang des James Clerk Maxwell Building und steuerte darauf zu.

Sie trat ein und betrachtete die Ausschilderung: Kondensierte Materie links, Sternenentwicklung rechts, Atmosphärendynamik hinten, Komplexe Systeme oben. Jeder Begriff schien wie ein Code für etwas Unverständliches. Hannah würde wissen, was sie bedeuteten. Jenny fühlte sich einen Moment völlig durcheinander durch die Tatsache, dass eine Person, die sie vor all diesen Jahren erschaffen hatte, ein so anderes Leben, einen so anderen Verstand besaß als sie selbst. Als Hannah fünf war, spielten sie immer ein einfaches Farbkombinationen-Erraten-Spiel, und Jenny konnte jederzeit gewinnen, wenn sie es wollte, denn sie kannte ihre Tochter so gut, dass sie stets vorhersagen konnte, was sie wählen würde. Keine verborgenen Gedanken, keine Geheimnisse, keine eigenständigen Ideen. Natürlich änderte sich das, das war nur normal, aber diese Veränderung hatte eine Leere in Jenny hinterlassen, die nicht gefüllt werden konnte.

Sie folgte der Ausschilderung nach oben, vierte Etage, Raum 4.16 am Ende des Korridors. Ein Poster des Quantum Clubs war an die Tür geklebt worden, darauf ein Bild einer Tardis. Das nächste Treffen war in zwei Tagen im The Old Bell ein Stück die Straße hinauf. Darunter hing ein weiteres DIN-A4-Blatt mit vier Namen, unter ihnen Bradley Barker.

Sie machte mit ihrem Handy ein Foto der Tür, klopfte dann an.

»Herein.«

Die Stimme klang überrascht, fast so, als käme nie jemand hierher. Sie drückte die Tür auf. In ein winziges Büro gezwängt, befanden sich vier Schreibtische mit Laptops, stapelweise Lehrbücher und Abhandlungen, an den Wänden Ankündigungen von Physik-Konferenzen neben einem Poster für Dirk Gentlys holistische Detektei. Es waren zwei Typen und ein Mädchen hier, und es roch intensiv nach billiger Instant-Nudelsuppe. Die drei starrten Jenny an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen.

»Ich suche Bradley Barker.«

Der ihr am nächsten sitzende Junge nickte. »Das bin ich.« Leichter australischer Akzent und die Haare ein Chaos dunkler Locken. Er trug eine Brille mit schmalem Rand und ein T-Shirt der Agents of S.H.I.E.L.D.

»Ich würde gern mit Ihnen sprechen.« Jenny hatte das Gefühl, hier alles unter Kontrolle zu haben, hatte aber gleichzeitig keine Ahnung, woher das kam. Vielleicht war es einfach der Altersunterschied, die Lebenserfahrung.

»Und Sie sind?«

Bradleys Hand schwebte über seiner Tastatur, und sie sah, dass er ein Spiel spielte, bei dem bunte Ballons durch Reifen trieben. Die Ballons sanken sukzessive auf den Boden und platzten.

»Ich bin Privatdetektivin. Ich muss mit Ihnen über Melanie Cheng sprechen.«

»Was?«

»Sie haben mich verstanden.«

»Ist Mel irgendwas zugestoßen?«

»Genau das versuche ich herauszufinden.«

Die beiden anderen wanden sich vor Verlegenheit.

»Sorry«, sagte Bradley. »Wie war noch Ihr Name?«

»Jenny, Jenny Skelf.«

»Skelf, wie Hannah?«

»Können wir uns irgendwo unter vier Augen unterhalten?«

Bradley sah die beiden anderen mit hochgezogenen Augenbrauen an, suchte ihre Hilfe. Beide zuckten mit den Achseln und hielten sich raus.

Bradley schob seinen Stuhl vom Schreibtisch zurück und klappte den Laptop zu. Als er aufstand, überragte er Jenny. Noch so ein Riese der supergroßen nächsten Generation. Ihr zog ein Hauch seines Parfums in die Nase, überraschend teuer und unaufdringlich. Er versuchte, so etwas wie Autorität auszustrahlen, als er sich an ihr vorbei auf den Korridor schob.

»Kommen Sie«, sagte er und ging los.

Sie schloss die Tür und folgte ihm zwei Treppenabsätze hinauf aufs Dach. An der frischen Luft schlurften sie über Betonboden, links von ihnen eine Wetterstation und auf der rechten Seite ein herrlicher Ausblick. Sie befanden sich in der Nähe eines Golfplatzes und von Feldern, in der Ferne kauerte die Hügelkette der Pentland Hills, die Bergspitzen wie wachsame Götter.

Mit der Sonne im Rücken drehte sich Bradley an der Kante um, und Jenny schirmte ihre Augen mit einer Hand ab. Wie er jetzt so über ihr aufragte, fühlte sie sich nicht mehr so, als habe sie alles im Griff.

»Worum geht’s denn?«, fragte er.

»Wann haben Sie Melanie das letzte Mal gesehen?«

»Wird sie vermisst?«

»Gebt dem Jungen einen goldenen Stern.«

»Mein Gott, die arme Mel.«

»Also, was können Sie mir erzählen?«

Er trat von einem Fuß auf den anderen, jede Menge nervöser Energie. »Das ist schrecklich, aber ich weiß nichts darüber.«

»Wie gut kennen Sie sie?« Jenny machte einen Schritt zur Seite, damit sie Bradleys Gesicht besser sehen konnte. Sie hörte von draußen auf dem Platz das typische Geräusch eines abgeschlagenen Golfballs, dann einen vorbeifahrenden Lieferwagen.

»Sie ist in einer meiner Seminargruppen«, sagte Bradley. »Festkörper.«

Jenny wusste nicht, ob damit das Seminar gemeint oder ob es irgendein schräger Code war.

»Haben Sie sie je außerhalb des Seminars getroffen?«

»Klar, im Quantum Club. Hannah geht da ebenfalls hin.«

Jenny hatte nicht bestätigt, dass sie mit Hannah verwandt war, und sie würde es auch nicht tun.

»Worum geht es bei diesem Club?«

Bradley schüttelte den Kopf und zuckte mit den Achseln, seine Schultern wackelten.

»Eigentlich nur um die Philosophie der Physik. Wir reden über alles Mögliche. Wussten Sie, dass noch vor Kurzem an der Edinburgh Uni die Physik als Naturphilosophie bezeichnet wurde?«

»Mögen Sie Mel?«

Er runzelte die Stirn. »Ja, sie ist niedlich.«

»Ich meine, ›mögen‹ mögen.«

»Ich weiß nicht …« Er ließ den Satz unvollendet im Raum stehen, rieb sich das Kinn, schob die Brille ein Stück die Nase hoch. »Ich meine, sie ist definitiv hübsch.«

»Stehen Sie auf sie?«

»Sie hat einen festen Freund.« »Und?«

»Sollten Sie nicht mit ihm reden? Ich verstehe nicht, was Sie hier machen.«

»Niemand hat Mel in den letzten sechsunddreißig Stunden gesehen oder von ihr gehört, ihr Freund, ihre Mitbewohner und ihre Familie inbegriffen.«

»Ich habe sie nicht gesehen.«

Hinter ihm drehte sich träge ein Windmesser, dessen Schalen warme Luft herumschoben.

»Wenn ich also Mels SMS und E-Mails durchgehe, werde ich Sie dort nicht finden.«

Er schob seine Unterlippe vor. »Es ging immer nur um Seminare und den Club. Glaube ich.«

»Sie haben ihr nie persönlichere Mitteilungen geschickt?«

Er schluckte und zog an seinem Ohrläppchen.

Jenny verschränkte die Arme. »Ich habe ihr Telefon und ihren Laptop, beides nicht gesperrt. Sie könnten mir eine Menge Zeit ersparen.«

»Vielleicht habe ich ein paar SMS geschickt.« Er sah aus, als stünde er im Begriff, über die Dachkante zu springen. »Hab sie eingeladen.«

»Obwohl sie einen festen Freund hatte?«

Er zuckte mit den Achseln.

Jenny hatte sich Mels Telefon angesehen, und außer E-Mails zum Club war da nichts von Bradley. Was bedeutete, dass Mel die Nachrichten gelöscht hatte, die er geschickt hatte, um sich mit ihr zu verabreden. Vielleicht hatte sie auch andere Sachen gelöscht.

»War’s das?«, fragte Jenny.

Sie dachte an digitale Forensik, Rettung gelöschter Daten, ob sie jemanden kannte, der solche Sachen machen konnte. Aber für so etwas gehörte sie der falschen Generation an, wenn jemand so etwas tun konnte, dann wären es Kids wie Bradley oder Hannah.

»Das ist alles, ich schwör’s.«

Jenny beschloss, es noch einen Tick weiterzutreiben. »Da sagt mir ihr Handy aber was anderes.«

»Echt?«

Jenny starrte ihn an. Die Wucht des eindringlichen Blicks einer wütenden Frau mittleren Alters war schon erstaunlich. Er machte schlapp. Er war es gewohnt, die Dinge in der Hand zu haben, das übliche Privileg des weißen Mannes, vielleicht noch gepaart mit einem Klacks australischen Draufgängertums.

Er schaute zu den Pentlands in der Ferne, die von heranrückenden Wolken verhüllt waren.

»Vielleicht hab ich ihr mal ein Bild geschickt.«

Jenny schaffte es, nicht laut zu seufzen. »Was für ein Bild?«

Er rieb sich das Kreuz, wölbte die Schultern.

Jenny schüttelte den Kopf. »Ein Schwanzfoto?«

Er sah auf den Boden. Jenny hörte über die Hecke unten die Witzeleien von Golfern.

»Was habt ihr Jungs eigentlich mit diesen Schwanzfotos?«

Er bekam einen roten Kopf und mied ihren Blick.

Sie legte gnadenlos nach. »Wie fänden Sie es, wenn ich Ihnen ein Foto meiner Vagina schicken würde? Würde Sie das aufgeilen?«

Bei dem Wort Vagina zuckte er zurück, als hätte er es noch nie aus dem Mund einer Frau gehört.

»Und?«

Sie kam sich vor wie ein Lehrer, der ein kleines Kind zur Schnecke machte. Wie eine Mum, die ihn auf die stille Treppe schickte.

»Da war nichts weiter dabei«, sagte er schließlich.

Er wich zurück, als Jenny sich ihm näherte. Sie sah einen Traktor über ein Feld in der Ferne tuckern, dahinter eine Flottille Möwen und Krähen.

»Wirklich?«

Sie stand jetzt ganz dicht vor ihm, bekam wieder seinen Duft in die Nase.

»Dann zeigen Sie mir Ihren Schwanz, wenn nichts weiter dabei ist.«

Er stand mit dem Rücken zum Sims, und er schwitzte. Er hatte keinerlei Erfahrung mit so etwas, hatte sich noch nie gegen eine sexuelle Belästigung wehren müssen, gegen eine unerwünschte Hand, ein versehentliches Drücken der Brust, was überhaupt nicht versehentlich war.

»Komm schon«, flüsterte Jenny. »Hol deinen Schwanz raus.«

Er versuchte, die Brust rauszustrecken. »Seien Sie nicht albern.«

Sie packte ihm zwischen die Beine, spürte seine Eier in ihrem Griff und drückte zu.

»Mein Gott«, sagte er. »Sie sind verrückt.«

Er versuchte auszuweichen, aber sie drückte fester zu, und er zuckte zusammen.

Er war so groß, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um zu flüstern.

»Keine Frau auf diesem Planeten ist scharf darauf, dein schäbiges Gehänge zu sehen«, sagte sie. »Hast du das kapiert?«

Er nickte mit großen Augen.

»So«, sagte Jenny wieder in ruhigerem Ton. »Weißt du etwas über Mels Verschwinden?«

Sie verstärkte den Druck zwischen seinen Beinen.

Er schüttelte den Kopf mit Tränen in den Augen. »Ich weiß nichts, ich schwöre.«

Sie stand da und versuchte zu entscheiden, ob sie ihm glauben sollte oder nicht. Umklammerte immer noch seine Eier, war immer noch wütend. Sie hörte, wie ein Golfschläger einen Ball traf, dann das Fluchen eines Mannes.

»Bitte«, sagte Bradley. »Lassen Sie mich los.«

20,99 €