Das Wissen der Welt

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Das Wissen der Welt
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E. T. Byrnes

Das Wissen der Welt

Viktorias Reise

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Prolog (Ursprung minus 6 Jahre)

Das Chaos der Welt (Ursprung)

Das Leben danach (Ursprung plus 16 Jahre)

Im Kerker (Ursprung plus 16 Jahre)

Freiheit (Ursprung plus 16 Jahre)

Traumwelt (Ursprung plus 16 Jahre)

Erinnerung (Ursprung plus 16 Jahre)

Heimat und Neuanfang (Ursprung plus 20 Jahre)

Wiedersehen (Ursprung plus 20 Jahre)

Zurück in die Hölle (Ursprung minus 6 Jahre)

Modus Operandi (Ursprung plus 20 Jahre)

Erstens kommt es anders … (Ursprung minus 6 Jahre)

Zweitens als man denkt. (Ursprung minus 6 Jahre)

In der Höhle der Löwin (Ursprung minus 6 Jahre)

Wiedergeboren (Ursprung plus 51 Jahre)

Freier Wille (Ursprung minus 5 Jahre)

Die Zeiten der Welt (Ursprung minus 5 Jahre)

Bekannte Vergangenheit (Ursprung plus 6 Jahre)

Der eigene Weg (Ursprung plus 29 Jahre)

Die Dinge, wie sie wirklich sind (Ursprung plus 29 Jahre)

Die finale Wahrheit

Nachwort

Impressum neobooks

Vorwort

Lieber Leser, liebe Leserin - vielen Dank, dass du dich für das eBook eines Indie-Autors entschieden hast. Es ist wichtig, die Künste - und dazu gehört das Erzählen von Geschichten - auch unabhängig von großen Programmverlagen zu unterstützen.

Das Schöne bei eBooks ist, dass sie zur neuen, digitalen Welt gehören. Daher folgender Tipp für alle, die gerne ein rundum-Erlebnis hätten – hier findet ihr einige Youtube-Links zu Videos mit epischen Musikmischungen – die mich ab und an beim Schreiben begleitet haben:

  https://www.youtube.com/watch?v=rJ8sLgHxa88

  https://www.youtube.com/watch?v=WU7SGn0MeP0

  https://www.youtube.com/watch?v=guXMb7zLblM

  https://www.youtube.com/watch?v=Ym8JjY4fy-M

Viel Spaß beim Lesen!

Eure E. T. Byrnes

Prolog (Ursprung minus 6 Jahre)

– Alistar –

Alistar stand auf dem Balkon seines Turms und blickte auf das Ergebnis seiner harten Arbeit hinab. Was er sah, konnte man fast als ein göttliches Werk bezeichnen. Eigentlich hatten die Menschen es nicht verdient, immer noch Teil dieses lebendigen Ökosystems zu sein. Trotzdem hatte er die Überlebenden des Großen Krieges zusammengeholt und ihnen nach dem blanken Überlebenskampf auf dieser verlassenen Welt eine sinnvolle Aufgabe gegeben. Es gab wieder Regeln, an die sie sich halten konnten. Mussten, wenn sie weiterhin überleben wollten. Sie waren in kleinen Städten organisiert, deren Viertel sich nach Aufgaben sortierten, ob nun Bäcker, Näherinnen oder Verwalter. Je weniger Nutzen eine Berufsgruppe für die Gemeinschaft hatte, desto schäbiger war das Viertel, in dem sie wohnten. Für manche war es immer noch zu gut, wenn man bedachte, dass die Menschheit fast die gesamte Welt zerstört hatte.

Nun war er der Herrscher über die größte Insel dieser Welt. Vorerst. Nicht jeder war mit seiner Herrschaft einverstanden. Immer wieder überfielen Rebellen einzelne Viertel und entführten Menschen. An manchen Tagen trieb es Alistar zur Weißglut. Andererseits hielt der Widerstand den Kampf spannend. Nichtsdestotrotz – seine Ambitionen reichten weiter. Die Zeiten eines friedliebenden Druiden waren vorbei. Er wollte mehr. Mehr sein, mehr können, mehr bedeuten. Was auch sonst sollte er mit einem fast ewigen Leben anfangen. Schade, wirklich schade, dass dafür viele andere Druiden ihr Leben hatten lassen müssen. Doch nachdem sie gemeinsam das Wissen der Welt gemeinsam gesammelt hatten, hatten sie ihn in die Verbannung geschickt und ihm jeden Zugang versagt. Beim Gedanken daran ballte er die Fäuste und knirschte mit den Zähnen. Nur der Zugang zu seinem Element, der Erde, war ihm geblieben. Doch das hatte gereicht, um … Er schüttelte den Kopf. Dann zwang er seine Muskeln zur Entspannung.

Er dachte an das Mädchen, das er gefangen nehmen konnte, als er die Bibliothek angegriffen hatte. Angeblich war sie einmal von einem Dämon besessen gewesen – eine Behauptung, der er als Geschwätz abgetan hatte. Sicherlich gab es Dämonen, aber mit der Zerstörung dieser Welt waren auch die Wege in andere Sphären verschüttet worden. Viel interessanter waren ihre Äußerungen zu einer anderen jungen Frau, die für seinen Ruin sorgen wollte – und die in Kürze geboren werden würde. Faszinierenderweise sollte sie ihm schon in nächster Zeit begegnen, seine Zukunft musste also spannende Ereignisse für ihn bereithalten. Er warf einen letzten Blick auf die Feuernachricht, die er 26 Jahre aus der Zukunft bekommen hatte. An der Vergangenheit konnte er nichts ändern. Noch nicht.

Das Chaos der Welt (Ursprung)

– Rafi und Viktoria –

Als die Revolution starb, versank die Welt rund um Viktoria ins Chaos. Die Warntrommeln des Lagers verkündeten den Überraschungsangriff der Regierung und versetzten alle in Aufruhr und Panik. Rebellen und Lagerbewohner rannten in einem hektischen Aufruhr an Viktoria vorbei, die seelenruhig inmitten der Verwirrung stand und an einem Daumen lutschte. Niemand beachtete die Fünfjährige, die das wilde Geschehen mit großen Augen beobachtete. Dann fielen die ersten Schüsse, explodierten die ersten Granaten. Dreck spritzte auf, wo Detonationen den Erdboden gewalttätig aufrissen. Viktoria beobachtete den Flug der Steinchen, die durch die Luft geschleudert wurden.

Plötzlich schlang sich ein Arm von hinten um ihre Taille. Ihr Oberkörper wurde nach vorne gerissen, als jemand sie nach hinten wegzerrte.

„Los, komm schon!“

Rafael, ihr großer Bruder. Ihr großes Vorbild. Er hatte für sie die Sterne an den Himmel geklebt, damit sie nachts nicht alleine war. Jetzt hielt er sie fest gepackt und drückte sie an sich, während er durch das dunkelgraue Chaos stürzte. Voller Ruhe lehnte Viktoria sich an ihn. So lange er hier war, konnte ihr nichts geschehen. Ihr Körper schaukelte im Laufschritt, als er herabstürzenden Gebäudeteilen auswich und Haken schlug, wenn die Kugeln zu nah bei ihnen einschlugen. Sie vergrub ihr Gesicht an Rafis Schulter. Fast wäre sie von seinem Arm gefallen, weil er auf der Treppe in den Keller mehrere Stufen übersprang. Zusammen eilten sie den Gang entlang, der zu einer schweren Eisentür führte. Vor dieser setzte er das kleine Mädchen ab, das neugierig vor zur Treppe lugte. Hörte sie weitere Schritte? Die waren aber viel gleichmäßiger als die von Rafi. Viel Zeit hatte sie nicht zum Schauen, so schnell hatte er die Tür aufgestoßen und Viktoria hindurch geschubst. Anschließend kniete er sich vor sie und packte sie an den Schultern.

„Egal was passiert, du bleibst hier unten. Die Tür schaut sehr stark aus, ich weiß, aber sie ist nur angelehnt, nicht verschlossen. Komm erst wieder hoch, wenn es so lange ganz leise war, dass du mindestens zehn Mal bis zehn gezählt hast, hörst du?“

Viktoria wusste genau, sie hätte nicken sollen. Immerhin wollte ihr Bruder hier nichts Schweres von ihr. Zehn Mal bis zehn hatte sie in den letzten Tagen oft gezählt, sie wusste, wie das ging. Lesen konnte sie auch schon, das hatte er ihr natürlich beigebracht.

Gerade, als Rafi sie schütteln wollte und ansetzte, um seine Frage zu wiederholen, bemerkte er die aufgerissenen Augen seiner kleinen Schwester. Er erstarrte. Alles Leben wich aus seinem dreckverschmierten Gesicht, als er sich noch in der Hocke umdrehte. Da standen sie, die Wächter. In schwarz gekleidet, als wären sie frisch aus der Hölle auferstanden. Langsam hob er seine Hände hoch.

 

„Sie ist nur ein Kind“, Rafi schluckte.

Die schwarzen Gestalten brachten ihre Waffen in Anschlag.

„Nehmt mich mit. Nicht vor ihr!“, bat er mit Nachdruck.

Sie traten einen Schritt vor.

„Bitte!“ Seine Stimme klang verzweifelt.

Viktoria hatte ihren Bruder noch nie flehen sehen. Sie kannte ihn, wie er Reden schwang und Menschen begeisterte. Wie er sie zum Lachen brachte oder Trost spendete. Wie er Leben verteidigte. Manchmal hatte er seine Pistole vor ihm auf dem Tisch liegen, während er auf andere einredete. Wenn er sie auseinandernahm und putzte, saß Viktoria neben ihm und er erklärte ihr immer wieder geduldig, wie man eine so kleine Waffe zerlegte und wieder zusammensetzte. Es war ein altes Modell, das Kugeln und keine Impulse verschoss. Viele Rebellen hatten alte Waffen wie diese. Geschossen hatte sie noch nie, dafür waren ihre Hände zu klein. Fand Rafi zumindest.

Eine der Gestalten trat einen weiteren Schritt vor. Zwei scherten von hinten aus, liefen an der Truppe vorbei und prüften den Raum, in dessen Türstock Viktoria stand und immer noch versuchte, die finsteren Gestalten besser auszumachen. Die beiden Läufer kamen zurück und stellten sich wieder in die Reihe. Auf ein Nicken des vordersten Wächters gingen alle anderen einige Schritte rückwärts, drehten sich dann um und marschierten zurück zur Treppe. Rafi hatte sich keinen Millimeter bewegt. Er starrte der verbliebenen Gestalt weiter in die Augen oder zumindest dorthin, wo er die Augen vermutete. Der Helm mit Gesichtsschutz machte eine Identifikation unmöglich. Der Zentralrat wollte nicht, dass jemand die Wächter kannte. Der größtmögliche Schutz für alle Beteiligten, so hatte eine anonyme Stimme im Radio das während einer gestellten Gesprächsrunde genannt. Hatte zumindest Rafi behauptet. Viktoria konnte sich daran so gut erinnern, weil Rafi damals auf das Gerät gespuckt und hinterher schlecht gelaunt geputzt hatte.

Er kniete immer noch vor ihr. Der verbliebene Wächter rückte langsam näher, die Waffe permanent im Anschlag.

„Bitte, nicht vor ihr!“, versuchte er es erneut. Rafis Stimme schwankte.

Langsam schob sich Viktoria hinter den schmalen Rücken ihres Bruders, als könnte sie sich so vor der Dunkelheit unsichtbar machen. Ihr Shirt blieb an etwas hängen, das aus Rafis Hosenbund ragte. Seine Pistole. Für einen Moment starrte Viktoria nach unten, dann schloss sich ihre kleine Hand um den Griff. Sie schob sich weiter hinter ihren Bruder und zog das kalte Stück Metall heraus. Sie wusste, wie man die Sicherung entfernte. Sie wusste nicht, ob sie schießen durfte, aber eines war klar: Die Wächter kamen nur, um zu töten. Ihr Bruder konnte ihr gerade nicht helfen, er konnte nicht einmal sich selbst helfen. Starr und schwer wog die Waffe in Viktorias kleiner Hand. Zitternd duckte sie sich hinter Rafi zusammen und legte auch die andere Hand auf die Pistole. Mit ihrem linken Zeigefinger legte sie den Hebel für die Sicherung um. Unsicher hob sie ihren Kopf und blickte auf den Wächter. Der visierte Rafi an.

„Tut mir leid, mein kleiner Stern“, murmelte ihr Bruder und Viktoria verstand. Es war vorbei. Nur sie konnte ihm jetzt noch helfen. Sie tat, als kuschelte sie sich an seinen Rücken und schob dabei die Pistole hinter Rafis Kopf. Niemand durfte etwas merken, erst recht nicht Rafi. Sie wusste nicht, wo sie gerade hinzielte. Nur, dass sie es zumindest versuchen musste. Das schwarze Wesen musste verschwinden. Das war fünf Schritte vor ihnen stehen geblieben. Langsam ging das kleine Mädchen einen Schritt nach hinten und streckte dann ganz schnell die Arme aus. Rafis Kopf ruckte zur Seite. Sein Oberkörper lehnte sich leicht nach hinten.

„Nein!“

Zu spät. Zwei Impulse knallten, bevor sie abdrücken konnte und brachten das Gebäude zum Wanken. Rafis Körper wurde nach hinten gerissen und begrub Viktoria unter sich. Ihre Ohren klingelten und das Gewicht ihres Bruders drückte ihr Gesicht seitlich auf den rauen Steinboden.

„Rafi!“, hörte sie die Stimme einer Frau. Dann Schritte, die auf sie zu rannten.

Ein Rascheln ertönte direkt neben ihr. Rafi lebte! Seine Finger strichen über den Boden und versuchte etwas zu ergreifen. Er fand die Pistole, die sich immer noch in Viktorias Hand befand. Sie ließ los und er griff zu. Schnelle und laute Schritte näherten sich, verstummten kurz, pirschten sich an Rafi und Viktoria heran. Ein dritter Impuls peitschte durch die Luft und Rafis Körper zuckte heftig zusammen. Dann lag er vollkommen still.

Als sein Blut in Viktorias Augen herabtropfte, begann sie zu schreien. Jemand hob Rafis Körper an und ließ ihn neben ihr fallen. Als Viktoria sich heftig das Blut aus den Augen wischte und aufblickte, starrte sie direkt in die Mündung einer Waffe. Schlagartig wurde sie ruhig. Jetzt war wohl sie dran.

Das Leben danach (Ursprung plus 16 Jahre)

– Viktoria –

Schweißgebadet wachte Viktoria auf und schnappte nach Luft. Es dauerte einen Moment, bis sie sich daran erinnerte, wo sie wirklich war. Mit bewussten Atemübungen entspannte sie ihren Körper und schöpfte nach Atem. Gierig sog sie die Luft in sich hinein und stieß sie kräftig wieder aus. Sechzehn Jahre waren vergangen. Nicht ein Detail dieser Nacht hatte sie vergessen, jedenfalls bis zu dem Moment, in dem sie die Mündung der Waffe erblickte und jemand ihr einen Schlag gegen den Kopf verpasste. Danach war alles weg. Es war ihre letzte Nacht in der Realität. Seither war alles weiß. Weiße Kleidung, weiße Wände. Leicht vergilbte Bettwäsche, altes, abgekratztes, cremefarbenes Bettgestell. Weiße Plastikteller, kein Besteck, weiße Türen. Weiß lackierte Gitter vor den Fenstern. Nur ihre fast schwarzen, langen Haare hoben sich deutlich dagegen ab und ihre grünen Augen leuchteten wie Glasperlen in dieser hellen Umgebung. Ihr Zopf hatte in der Nacht seine Form verloren und gedankenverloren machte Viktoria sich daran, ihn aufzulösen und neu zu flechten, während sie wieder zur Ruhe kam. Der heraufziehende Tag würde ihr sowieso keine Abwechslung bringen.

Sie probte nie Widerstand gegen das Personal, die Führung oder den Tagesablauf. Die Botschaft damals im Keller war so klar wie verheerend: Niemals würde der Zentralrat auch nur einen Hauch von Widerstand dulden, ob nun schuldig oder nicht. Der Wächter war gestorben, wenngleich nicht aus ihrer Hand. Die Welt hatte sie trotzdem vergessen, wie sollte es auch anders sein. Mit fünf Jahren war sie aus einem stinkenden Kellerloch verschwunden, während oben auf der Erde ein Massaker verübt wurde. Ihren großen Bruder hatte sie seither nie wieder gesehen.

In der Gegenwart kullerte eine einzelne Träne ihre Wange herab. Wie sie Rafi vermisste. Mit aller Macht versuchte sie jeden Tag, sich an sein Gesicht zu erinnern, an jedes Detail, jede Falte oder gar Sommersprosse. Mit jedem Sonnenaufgang fiel es ihr schwerer. Immer endete es damit, dass sie das Blut roch, das ihr damals in die Augen gelaufen war. Sein Blut. Und sie war schuld.

Über die Jahre hinweg hatte Viktoria gelernt, sich in der Anstalt geradezu wohlzufühlen. Sie machte kaum Aufstand und zettelte keine Wütereien unter den anderen Patienten an. Die Angestellten und Pfleger honorierten das nach einiger Zeit damit, dass sie sich nahezu frei bewegen konnte. Die anderen Bewohner der Anstalt bildeten eine seltsame Parallelgesellschaft. Sie verfügten über eine lose, soziale Struktur, einfach weil sie Tag und Nacht miteinander verbrachten. Sie entstammten unterschiedlichsten Familien, waren wegen der verschiedensten Vergehen in der Anstalt. Nur eines hatten sie alle gemeinsam: Niemand wusste, weshalb sie hier waren anstatt in einem dunklen, feuchten Grab. Die Wächter gaben niemals etwas preis, die Pfleger traten nur einen Schritt zurück und ignorierten die Bewohnerinnen, bis sie aufhörten, zu fragen.

Viktoria hatte es bald aufgegeben. Sie bekam täglich essen, hatte eine alte Matratze und eine Decke über den Kopf. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als zu warten, die anderen Bewohnerinnen zu beobachten – und zu lesen. Sie vermutete, dass sie die älteste Bewohnerin der Anstalt war. Die anderen mieden sie und hielten Abstand. Vertrauen war ein seltenes Gut und Viktoria hatte früh gelernt, dass sie auf sich gestellt war. Sie legte nicht wirklich Wert auf die Gesellschaft der anderen. Stattdessen saß sie still in der Nähe und hörte viel lieber zu, gerade wenn eine neue Bewohnerin gebracht wurde. Sie war dann die einzige Informationsquelle, die Viktoria über die Welt hatte. Viel erfuhr sie nicht, denn die meisten Neuen verfielen in Wut- und Trotzanfälle. Nachts wurde die Tür zu ihrer Höhle abgeschlossen, wie sie das Zimmer nannte. Es war das absolute Gegenteil einer Höhle, aber mit genug Vorstellungskraft konnte sie sich in die Dunkelheit hineinversetzen. Dann konnte sie die kühlen und rauen Steine eines Felsbodens unter ihren Fingerspitzen fast spüren. Manchmal bildete sie sich ein, dass der Stein einen ruhigen, gleichmäßigen Puls hatte, der ihr Stärke schenkte. Wie viel Zeit sie in ihrer Vorstellung verbrachte, merkte sie sehr wohl. Regelmäßig kam es vor, dass die Pfleger sie zu ihren Mahlzeiten daraus aufschrecken mussten.

So auch heute. Als die fremde Hand sich auf ihre Schulter legte, schnellte ihr Kopf hoch.

„Ruhig, ich bin es nur“, sagte Peter. Wenn er heute da war, dann hieß das, dass es bereits wieder Mittwoch sein musste. Einer von vielen Hundert, die sie schon erlebt hatte. Sie blinzelte einige Male und zog ihre Nase hoch.

„Na dann sollte ich wohl mal aufstehen“, murmelte sie vor sich hin und rutschte nach vorne, um sich von der Bettkante abzustoßen.

Der Weg zum Saal glich einem Hindernislauf. An einer Ecke stand Sue, eine weißhaarige Alte, die seit ihrer Ankunft hier nur einen Satz von sich gab.

„Die Zukunft liegt vor uns.“

Den wiederholte sie dafür immer wieder. Vielleicht würde es sich wirklich einmal lohnen, in ein Leuchtschild zu investieren. Das könnte Sue dann stillschweigend hochhalten. Ihre Mit-Patientinnen hätten mit Sicherheit nichts dagegen. Wenn die Anstaltsleitung für die Kosten aufkäme, natürlich. Niemand in diesem Gebäude verfügte auch nur über die geringste finanzielle Unabhängigkeit. Woher sollte aber auch das Geld kommen – Besuch gab es nie und Viktoria war sich relativ sicher, dass außer dem Dorf draußen kaum einer von dieser Anstalt wusste. Die Abwesenheit von Besitz bedeutete, dass sie alle gleich waren. An irgendetwas erinnerte dieser Satz sie jedes Mal, wenn sie über ihn nachdachte. Wie üblich kam sie auch heute nicht darauf. Sie war schon zu lange hier, ihr Kopf und ihre Gedanken waren manchmal verdorrt wie eine Wüstenblume. Sie blühten erst auf, wenn sie sich in vollkommener Einsamkeit in der kleinen Gartenanlage aufhielt oder eines der wenigen Bücher in der Anstalt lesen durfte. Das Leben der anderen machte auf erschreckende Art mehr Sinn, wenigstens schienen sie ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, während Viktoria einen Tag nach dem anderen absaß und darauf warten musste, dass etwas geschah.

Mitten im Gang blieb Viktoria stehen. Es war an der Zeit, dass Mags hinter dem Wasserautomat hervorsprang und sich wie ein Brückentroll vor ihr aufbaute. Für einige Takte blieb sie ruhig stehen. Aber die andere kam nicht. Ungeduldig scannte sie ihre Umgebung ab. Weder hinter dem Wasserautomat noch hinter einer kleinen Sitzgruppe fand sie sie. Ein Pfleger eilte vorbei, sie ergriff ihn beim Arm. Er fuhr herum, bereit zum Angriff einer verrückten Patientin. Als er Viktoria erkannte, beruhigte er sich augenblicklich.

„Was ist?“

„Wo ist Mags?“

Er schlug die Augen nieder und schüttelte nur den Kopf. Dann riss er sich los und eilte weiter.

Die Botschaft war simpel wie klar: Mags war tot oder in Einzelhaft. In all den Jahren hatte Viktoria gelernt, dass es nur einen Weg hier raus gab – den ins Grab. Wenn sie nicht in einem Kasten aus grobem Holz lag, dann musste sie unten in der Isolationshaft sein. Ein unruhiger Knoten setzte sich in ihrem Magen fest. Die alte Mags war verrückt, ja, aber nicht psychopathisch veranlagt. Deswegen wäre sie normalerweise keine Kandidatin für die Einzelhaft. Bevor sie jedoch weiter darüber nachdachte, hatten sich ihre Füße bereits wieder Richtung Speisesaal aufgemacht. Sie würde Mags nicht helfen können, wenn sie wegen Nichterscheinens zur Strafe in ihrer Höhle eingesperrt werden würde. Es gab nicht viele Insassen, für die sie sich einmischen würde, aber Mags war fast genausolang hier drin wie sie. Damit war sie länger ein Teil ihres Lebens, als Rafi es jemals war. Auch wenn dieser Gedanke sie schmerzte – sie hatte so gut wie keine Freunde, aber deswegen würde sie wenigstens herausfinden, was Mags widerfahren war.

 

Sie stellte sich in die Schlange, die an einem alten Edelstahltresen entlang verlief. Es gab keine besondere Auswahl, trotzdem wurden für ihre täglichen Mahlzeiten undefinierbare Breisorten nacheinander mit einem gemeinsamen Schöpflöffel auf ein beiges, abgenutztes Tablett geklatscht. Damit sich niemand verletzte, gab es nur Plastiklöffel, die am Ende des Essens wieder eingesammelt wurden. Wehe der, die ihren nicht wieder abgab. Oder nicht schnell genug war.

Manche Pfleger waren nicht gerade freiwillig hier und mussten ihre Lebens- und Arbeitszeit nun in dem entlegenen Örtchen ableisten, das allein wegen der Anstalt noch Bestand hatte. Und das ließen sie gerne an den Patienten aus. Vor allem der glatzköpfige Bully gehörte zu dieser Gruppe. Keiner wusste, wie er wirklich hieß. Heute stand er wieder an der Ausgangstür, wo alle Patientinnen ihre Tabletts und Löffel abgeben mussten. Es wäre ein Höhepunkt seines Tages, wenn er jemanden einsperren könnte. Seine primitive Lebenseinstellung machte ihr manchmal Angst. Kalte, im Magen verknotete Angst.

Wenn Viktoria rausfinden wollte, wo Mags war, wären die Einzelzellen ein guter Start. Es war unwahrscheinlich, aber möglich, dass die Alte sich einfach zu hart aufgespielt hatte und nun für ein paar Tage im Dunklen saß. Jedenfalls war es ein Leichtes für Viktoria, diese Option selbst zu überprüfen. Sie nahm ihr volles Tablett und ging hinüber zu dem Tisch, an dem Juliette bereits saß. Natürlich zusammen mit ihrer Entourage. En-tou-rage. Ein Wort, das ihr neulich in einem kleinen Büchlein mit Gedichten aufgefallen war. Sie war sich nicht sicher, wie man es aussprach, aber sie hatte dabei an Juliette denken müssen. Ein Wort für einen Freundeskreis, der vorgab, etwas Nobleres zu sein. Das schien ganz gut zu passen. Die beiden hatten sich von Anfang an nicht ausstehen können, aber doch gemerkt, dass sie sich bei den wirklich wichtigen Sachen aufeinander verlassen konnten. Bei Nichtigkeiten hatten sie sich schon bis aufs Blut gestritten, hielten sich aber gegenüber den Pflegern immer den Rücken frei. Vertrauen sah anders aus, aber mit diesem Arrangement konnte Viktoria arbeiten. Eine wertvolle kleine Allianz, die sie nun wieder einmal nutzen würde.

„Hey“, begrüßte sie die kleine Versammlung.

Etwas musste in ihrer Stimme mitgeschwungen haben, denn Juliette blickte alarmiert auf.

„Naaa, was machen die jungen Damen denn? Ihr streitet euch doch nicht etwa? An sich hätte ich ja nichts gegen einen kleinen, handgreiflichen Stress zwischen euch, aber dazu sollten wir uns vielleicht zu dritt in eine separate Zelle zurückziehen“, ertönte Bullys schmierige Stimme hinter ihnen. Viktoria rann ein Schauer den Rücken entlang, so sehr widerte allein schon der Klang sie an. Rafi hätte ihm für so einen Spruch die Hand gebrochen. Sie sah, dass es Juliette ähnlich ging. Ihre Entourage starrte fest auf die Tabletts vor ihnen, damit sie ja nicht auffielen und ein Stück der unerwünschten Aufmerksamkeit Bullys abbekamen.

Juliette starrte sie an, als warte sie auf ein Zeichen von Viktoria. Die schüttelte unmerklich den Kopf und wandte ihn dann halb zu Bully herum.

„Nein, alles okay. Ich wollte nur fragen, ob ich mich zum Essen hersetzen kann.“

„Natürlich kannst du“, beeilte Juliette sich zu antworten, als Bully Viktoria schon an der Schulter gepackt hatte und zu sich herum riss.

„Du kleines Stück Dreck!“ spie er ihr ins Gesicht. „Wenn du mit mir redest, wirst du dich gefälligst zu mir umdrehen und mir ins Gesicht schauen!“

Seine Hand traf ihre Wange mit voller Wucht. Viktoria wurde zur Seite geschleudert und verlor ihr Gleichgewicht. Sie stürzte zwischen die Stühle von Juliette und ihrer Entourage. Im letzten Moment hob eine ihren Stuhl an und rückte ihn zur Seite, damit Viktoria nicht mit dem Kopf gegen ihn krachte. Auch so rutschte ihre Hand von dem glatt gewienerten Boden ab und sie schlug mit voller Wucht auf den Steinfließen auf. Um sie herum wurde alles schwarz.