Loe raamatut: «Lebendige Seelsorge 1/2018»
THEMA
Menschenrechtsbasierte Inklusion
Sozialethische Sortierungen
Von Andreas Lob-Hüdepohl
Semper maior: Unerschöpfliche Inklusion ohne Differenzverlust
Die Rechtfertigungstheologie als Religions- und Sozialkritik
Von Ottmar Fuchs
Auch eine Frage geschuldeter Solidarität
Die Replik von Andreas Lob-Hüdepohl auf Ottmar Fuchs
Weiterführendes zur „Inklusion“
Die Replik von Ottmar Fuchs auf Andreas Lob-Hüdepohl
Gott und Vielfalt
Von Klaus von Stosch
PROJEKT
Grenzenlos inklusiv?
Von Benedikt Drockur und Bernd Hillebrand
INTERVIEW
Von Paulus und den Pinguinen lernen
Ein Gespräch mit Caspar Söling
PRAXIS
„Auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde gewesen in Ägypten“ (Dtn 10,19)
Inklusion von Menschen fremder Herkunft im
Zeugnis des Alten Testamentes
Von Maria Häusl
Exklusive Inklusion?
Über die Bedeutung inklusiver Ausdrucksformen in Gottesdienst und Predigt
Von Maria Elisabeth Aigner
Barrierefreie Kirche? Kennzeichen inklusiver Seelsorge
Von Stefan Gärtner
Jeder bekommt das, was er braucht
Anspruch, Wirklichkeit und Möglichkeiten erfolgreicher inklusiver Schul- und Unterrichtsentwicklung
Von Janieta Bartz
Vielfalt im Stadtteil und die Möglichkeit kirchlicher Teilhabe
Von Frank Dieckbreder
FORUM
Kunst und Religion
Über den Fall einer gewollt unglücklichen
Begegnung
Von Klaus Müller
POPKULTURBEUTEL
Kann Kirche auch Plakate??
Von Matthias Sellmann
NACHLESE
Glosse: Urbi et orbi
Von Annette Schavan
Buchbesprechungen
Impressum
Hildegard Wustmans Mitglied der Schriftleitung
Liebe Leserin, lieber Leser,
Sie halten ein Themenheft in den Händen, das bewusst einen breiten Bogen im Themenfeld Inklusion spannt. Innerhalb der Debatte um den Begriff der Inklusion ist festzustellen, dass er über die Konzentration auf Fragestellungen des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderung hinausgeht. Vor diesem Hintergrund möchten wir eine grundsätzliche Auseinandersetzung darüber anstoßen, wie mit Differenz und Heterogenität gesellschaftlich, theologisch und praktisch umzugehen ist. Und in dieser Perspektive sind auch die einzelnen Beiträge dieses Themenheftes zu verstehen.
Für Andreas Lob-Hüdepohl ist der Ausgangspunkt einer Befassung mit Inklusion die Wahrnehmung von Exklusion. Nur so können menschenrechtliche Ansprüche wirksam in der Gesellschaft eingefordert werden. Ottmar Fuchs setzt bei seinen Überlegungen zum Thema an einer ganz anderen Stelle an: der Frage nach der Inklusionskraft des christlichen Glaubens. Klaus von Stosch legt argumentativ dar, was die christliche Gotteslehre mit dem Thema Inklusion zu tun hat. Maria Häusl geht in ihrem Beitrag auf die Beziehung zwischen Gemeinwesen und Differenzkriterien aus der Perspektive des Alten Testaments ein. Für inklusive Ausdrucksformen im pastoral-liturgischen Handeln plädiert Maria Elisabeth Aigner und Stefan Gärtner fragt nach Mechanismen in kirchlichen Sozialformen, die einer inklusiven Pastoral im Wege stehen. Über Debatten und Ansätze im Feld der Religionspädagogik informiert der Beitrag von Janieta Bartz und Frank Dieckbreder lenkt den Blick auf die Integration von Migrant/innen und welche Bedeutung Inklusion im sozialen Raum hat. Das Musical-Projekt der KHG-Tübingen berichtet von Differenzerfahrungen und dem Entstehen einer punktuellen Gemeinde, die zum Lernort für alle Beteiligten geworden ist. Und im Interview mit Caspar Söling wird der Fokus auf das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung am Beispiel des Sankt Vincenzstiftes in Aulhausen gelegt.
Liebe Leserinnen und Leser, ein facettenreiches Heft liegt in Ihren Händen und ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!
Ihre
PD Dr. Hildegard Wustmans
Menschenrechtsbasierte Inklusion
Sozialethische Sortierungen
Wer über menschenrechtsbasierte Inklusion redet, muss mit den Erfahrungen sozialer Exklusionen beginnen. Denn eine Inklusion von Menschen, die deren menschenrechtlichen Ansprüche in der Gesellschaft effektiv zur Geltung bringen will, ist die notwendige Reaktion auf die Erfahrung vieler Menschen, aufgrund bestimmter Eigenschaften oder bestimmter Lebensumstände von wesentlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen zu sein und damit in ihren elementaren Rechten als gleiche Bürger/innen eines Gemeinwesens beschnitten zu werden. Andreas Lob-Hüdepohl
INKLUSION: REAKTION AUF SOZIALE EXKLUSIONEN
Ausschlüsse sind eine alltägliche Erfahrung. Jede nähere Beziehung zwischen Familienangehörigen, Nachbarn, Freunden oder den Angehörigen eines Betriebes oder einer Religionsgemeinschaft schließt faktisch alle Nichtdazugehörigen aus. Sie gehören eben nicht dazu. Persönliche Verbindungen sind immer selektiv wie selektierend. Die Einladung zur Geburtstagsfeier ergeht an einen ausgewählten Personenkreis und schließt alle anderen vom Besuch der Geburtstagsfeier notwendigerweise aus.
Solche ‚soziale Schließungen‘ (Max Weber) konstituieren jene überschaubaren Beziehungsnetzwerke, die Identität stiften und die für die verlässliche Lebensgestaltung eines jeden Menschen unverzichtbar sind. Manche Ausschließungen schützen sogar die Ausgeschlossenen: Der Ausschluss von Kindern oder von hochschwangeren Frauen vom Erwerbsarbeitsmarkt dient dem Schutz ihrer gedeihlichen Entwicklung oder ihrer leiblichen Unversehrtheit. Von diesen alltäglichen und manches Mal fast überlebenswichtigen Ausschließungen unterscheiden sich grundsätzlich jene, die die Ausgegrenzten nachhaltig von lebenswichtigen Ressourcen oder von wichtigen Teilbereichen der Gesellschaft gänzlich ausschließen. Diese sozialen Ausschließungen (‚Exklusionen‘) verwehren den Betroffenen wesentliche Lebenschancen und führen oftmals in eine Abwärtsspirale von Teilhabemöglichkeiten, an deren Ende das steht, was man in der Sozialwissenschaft lakonisch ‚kumulierendes Verliererschicksal‘ nennt.
Der (dauerhafte) Ausschluss vom Erwerbsarbeitsmarkt etwa reduziert nicht nur beträchtlich das verfügbare monetäre Einkommen. Es schneidet den Erwerbslosen auch weitgehend von jenen Beziehungsnetzwerken seiner Arbeitswelt (Kollegium, Betrieb usw.) ab, in denen er soziale Anerkennung erfährt und dadurch Selbstachtung entwickelt. Beschädigte Selbstachtung wiederum belastet die Beziehungen in Familien, in Freundschaften oder auch Nachbarschaften. Sie verstärkt so die Tendenz, sich aus lebenswichtigen sozialen Netzwerken zurückzuziehen – Netzwerke, die eigentlich den primären Verlust – etwa des Arbeitsplatzes – wenigstens halbwegs auffangen könnten. Derart geschwächt schwinden für den Betroffenen seine verfügbaren Chancen, mit denen er seine politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Bürgerrechte verwirklichen kann – selbst wenn diese ihm formal immer noch zu- und offenstehen.
Andreas Lob-Hüdepohl
Dr. theol., seit 1996 Professor für Theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin; Mitglied im Deutschen Ethikrat; Berater der Deutschen Bischofskonferenz (u. a. Pastoralkommission); Vorsitzender der ad-Hoc-Arbeitsgruppe Kirche und Rechtspopulismus der deutschen Kommission Justitia et Pax.
Soziale Ausgrenzungen fallen nicht vom Himmel. Oftmals sind sie in den Strukturen unseres Zusammenlebens fest eingelagert. Sie resultieren aus sozialen Prozessen, die zwischen den ‚Opfern‘ (‚Exkludierte‘) und ‚Tätern‘ (‚Exkludierende‘) ein breites Panorama an Akteur/innen, ‚Mittätern‘ oder begünstigenden Faktoren kennen. Besonders wirkmächtig für soziale Exklusionen erweisen sich Stigmatisierungen überdurchschnittlich verletzlicher (‚vulnerabler‘) Gruppen. Stigmatisierungen liegen vor, wenn eine soziokulturell dominante Mehrheitsgesellschaft ihre kulturelle Identität oder ihren sozialen Status dadurch zu stabilisieren sucht, indem sie andere Menschen allein aufgrund eines bestimmten körperlichen, sozialen, kulturellen oder religiösen Merkmals oder einer Verhaltensauffälligkeit als Gruppe abwertet und sie von der gewöhnlichen (‚normalen‘) Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausschließt.
So kann selbst aus einer harmlosen Begrenzung der Einladungsliste die Geburtstagsfeier zu einer Manifestation stigmatisierungsbedingter sozialer Exklusion werden – nämlich dann, wenn die kopftuchtragende muslimische Freundin oder der spastisch gelähmte Kollege allein deshalb von der Gästeliste gestrichen werden, um den anderen Gästen mögliche Irritationen zu ersparen. Dieser Effekt steigt, wenn die solchermaßen Stigmatisierten das abwertende Fremdbild in ihr eigenes Selbstbild importieren und dadurch Defizitorientierungen, Schamgefühle und sogar Selbstexklusionen auslösen. Übrigens: Wie subtil oder auch offen solche Prozesse verlaufen, lässt sich schon eindrücklich in biblischen Erzählungen studieren – etwa am heilsam-befreienden Umgang des Nazareners mit Frauen und Männern, die als Unreine oder als von ‚fremden Mächten und Gewalten‘ Besessene von der Normalgesellschaft auf Abstand gehalten werden: die ‚blutflüssige Frau‘ (Lk 8,46), der ‚Besessene von Gerasa‘ (Mk 5,1-12). Stigmatisierungen erfolgen entlang der Unterscheidung von Normalität und Abweichung. Abweichende erscheinen befremdlich anders und müssen auf Abstand gehalten werden, damit das Eigene nicht gefährdet wird.
Stigmatisierende Bewertungen sind kulturell abhängig und sozial inszeniert. Sie dienen oftmals der Absicherung eigener Privilegien und Sicherheiten. In einer „Gesellschaft der Angst“ (Heinz Bude), in der bereits die Nichterfüllung eines steten sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs bereits in der ‚Mitte der Gesellschaft‘ als soziale Exklusion gefürchtet wird, wächst das Bemühen, den eigenen Standard durch die Ausgrenzung anderer abzusichern: Menschen mit Behinderungen, Andersreligiöse, Geflüchtete, Wohnungslose usw.
Rechtspopulistische Phänomene in klassischen Wohlfahrtsstaaten wie etwa Dänemark oder Schweden veranschaulichen: Die Angst vor der eigenen Exklusion stiftet die Sehnsucht nach Exklusivität solidarischer Netzwerke – nach Sicherung hoher Standards, begrenzt aber auf die Dazugehörigen zur eigenen (ethnischen oder auch staatsbürgerlichen) Gruppe. Diese Sehnsucht schließt nach unten ab.
INKLUSION IST NICHT GLEICH INKLUSION
Inklusion will solchen Wirklichkeiten sozialer Exklusion entgegenarbeiten oder – wenn möglich – frühzeitig vorbeugen. Aber Inklusion ist nicht gleich Inklusion. Spätestens seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2009 ist Inklusion auch in Deutschland zu einem ‚moralischen Hochwertwort‘ avanciert, wogegen man keinesfalls etwas haben will, unter dem sich aber höchst unterschiedliche Vorstellungen und Versprechungen verbergen – soweit sogar, dass in manchen Bereichen – wie etwa im Kontext von Schule und Bildung – die positive Stimmung zu kippen scheint und der Glanz des Hochwertwortes ‚Inklusion‘ vielerorts verblasst.
Inklusion fokussiert alle Menschen, denen die volle und wirksame Teilhabe am Leben der Gesellschaft durch Barrieren vielfältigster Art verwehrt ist.
Zunächst ist zu erinnern, dass sich die Prominenz von Inklusion zwar der Debatte um die Inklusion von Menschen mit leiblichen, seelischen, kognitiven oder auch sinnesbezogenen Beeinträchtigungen verdankt. Ihre Reichweite jedoch beschränkt sich keinesfalls auf den Bereich eines möglichst unbehinderten Zusammenlebens von Menschen mit und ohne die genannten Beeinträchtigungen. Inklusion fokussiert alle Menschen, denen die volle und wirksame Teilhabe am Leben der Gesellschaft durch Barrieren vielfältigster Art verwehrt ist. Der Diskurs über Inklusion und Exklusion ist in Deutschland außerhalb des Bereichs der sogenannten Behindertenhilfe entstanden – nämlich im Zusammenhang der Debatte über die „Überflüssigen“ (Claus Offe) oder „Ausgeschlossenen“ (Heinz Bude) in einer zunehmend gespaltenen ‚Erwerbsarbeitsgesellschaft‘.
Freilich oszilliert der Begriff der Inklusion zwischen einer funktional-deskriptiven und einer normativ-emphatischen Bedeutung. Eine funktional-deskriptive Bedeutung hat er prominent in der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Eine Person gilt dann als in die Gesellschaft hinreichend inkludiert, wenn sie in mindestens einem ihrer zentralen Teilsysteme einbezogen ist und dort vielleicht sogar eine aktive Funktion besitzt. Zwar mag ein Erwerbsloser aus dem gesellschaftlichen Teilsystem Arbeitsmarkt (vorübergehend) ausgeschlossen sein. Insofern er aber im Netz sozialer Sicherungssysteme abgefangen ist und überdies womöglich noch als Ehrenamtlicher in einer Selbsthilfegruppe oder Nachbarschaftsinitiative mitwirkt, kompensieren die letztgenannten Einschlüsse (‚Inklusionen‘) seine Exklusion aus dem Erwerbsarbeitsmarkt.
In ähnlicher Weise sind auch geflüchtete oder behinderte Menschen bereits dann gesellschaftlich inkludiert, wenn sie in einem prinzipiell offenstehenden Teilsystem eingebunden sind – und sei dies nur das asylrechtliche oder wohlfahrtstaatliche Sorgesystem, das für sie eigens eingerichtet ist. Von welcher Qualität dieser Einschluss und die damit verbundene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist, besitzt in dieser funktional-deskriptiven Betrachtungsweise von Inklusion keine nennenswerte Relevanz.
So hatten in früheren Zeiten die verunglimpften ‚Dorftrottel‘ in der dörflichen Gemeinschaft eine wichtige soziale Funktion. Ähnlich waren psychisch kranke Menschen, die als ‚Irre‘ in Käfigen ausgestellt wurden, eine zugkräftige Attraktion für jeden Jahrmarkt oder Zirkus. Heute setzen arbeitsfähige Geflüchtete im Niedriglohnsektor oder in der Schattenwirtschaft ‚wichtige Impulse‘, wenn sie vom ‚Arbeitsstrich‘ aktiviert werden und damit oftmals ein erheblich auskömmlicheres Dasein sichern können als in ihren Herkunftsländern. In systemfunktionaler Zuspitzung hatten und haben solche Menschen in der Gesellschaft Funktion und Auskommen; so besehen waren und sind sie inkludiert – aber in einer Art und Weise, die wir heute als zutiefst unwürdig und menschenverachtend brandmarken würden. Davon unterscheidet sich ein emphatischnormatives Verständnis von Inklusion, das etwa der UN-Behindertenrechtskonvention zu Grunde liegt. Es stellt die Qualitätsfrage in den Mittelpunkt: Die bloß funktionale Einbeziehung in ein gesellschaftliches Teilsystem ist keinesfalls ausreichend. Maßstab der Inklusion ist vielmehr die effektive Gewährleistung der Rechte von Menschen als Bürger/innen eines menschenrechtlich ambitionierten Gemeinwesens und damit ihrer Würde als Mensch.
Natürlich gibt es immer wieder Lebenssituationen, in denen Menschen von bestimmten Aktivitäten der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben müssen. Niemand kann überall inkludiert sein. Als Höhenphobiker, der fast panische Angst vor Höhen hat, muss ich in den Alpen jeden Klettersteig meiden. Ich werde niemals einem Klub von Extremkletterern beitreten können. In ähnlicher Weise wird ein gehörloser Mensch nur schwerlich in einem Opernchor mitsingen können. Die Liste solcher Ausschlüsse, die wir alle aus unserem Alltag kennen, ließe sich beliebig verlängern. Solche Ausschlüsse verhindern aber keinesfalls automatisch ein würdevolles Leben – und das ist entscheidend. Dagegen gibt es im privaten wie im öffentlichen Leben Ausschlüsse, die menschenrechtliche Ansprüche verletzen. Wenn eine zurechnungsfähige Person nicht entscheiden darf, wo, wie und mit wem sie leben möchte, werden ihre Selbstbestimmungs- und Freiheitsrechte verletzt. Wenn eine Person mit geistiger Beeinträchtigung die ‚normale‘ Sprache der Politik nicht versteht und ihr deshalb kein Wahlrecht eingeräumt wird, dann werden ihre politischen Partizipationsrechte verletzt. Wenn unsere Arbeitswelt in einer Weise auf Leistungserbringung getrimmt ist, dass Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen nicht mehr mithalten können und sie deshalb in geschützten Werkstätten arbeiten müssen, dann werden ihre Wirtschafts- und Sozialrechte verletzt. Solche Ausschlüsse hat ein normatives Verständnis von Inklusion im Blick. Solche Ausschlüsse müssen durch eine menschenrechtsorientierte Inklusion überwunden werden.
INKLUSION ALS HALTUNG UND PROZESS
Inklusion ist deshalb kein Zustand, sondern Haltung und Prozess – Haltung, weil es vor allem auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft darauf ankommt, jene stigmatisierenden Einstellungen abzulegen, die soziale Exklusionen bewirken und gleichsam als ‚Kopfbarrieren‘ den gleichberechtigten Zugang aller zum gesellschaftlichen Leben be- oder sogar verhindern; Prozess, weil sich solche Haltungsänderungen nicht autoritativ verordnen und per Knopfdruck herstellen lassen, sondern sich erst in einem mitunter mühsamen Prozess gemeinsamen Lebens und Lernens in der Arbeitswelt, in der Kindertagesstätte, in Kirchengemeinden oder auch im Kulturleben einstellen können.
Prozesse der Inklusion sind in der Regel konfliktreich. Denn über die konzeptionellen wie ‚handwerklichen‘ Details ihrer Umsetzung hinaus entstehen Streitpunkte, die konkurrierende Interessen bis hin zu Stellvertreterkonflikte spiegeln. Eindrückliches Beispiel ist die Kontroverse um die Einführung der einen Schule für alle. Von einer herkömmlichen integrativen unterscheidet sich die inklusive Schule dadurch, dass sie auf den Vorbehalt der prinzipiellen Integrierbarkeit von ‚außergewöhnlich ausgestatteten‘ Schüler/innen verzichtet und stattdessen – im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention – den prinzipiellen Zugang zur Regelschule für alle ermöglicht. Denn nur in der Regelschule als Ort gemeinsamen Lernens und Lebens (!) lässt auf Seiten der bislang Ausgeschlossenen ein „gestärktes Gefühl der Zugehörigkei“ („enhanced sense of belonging“ [Präambel UN-BRK]) und auf Seiten nichtbehinderter Schüler/innen eine „respektvolle Einstellung gegenüber den Rechten von Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen des Bildungssystems, auch bei allen Kindern von früher Kindheit“ an (Art. 8 Abs. 2 UN-BRK) entstehen.
Im Mittelpunkt schulischen Lernens – das sich bekanntlich nicht auf das unterrichtliche Geschehen beschränkt – steht deshalb die identitätsbildende Kraft wechselseitig zugespielter Achtungserfahrungen, von der grundsätzlich alle profitieren können. Dieses Kernziel von Schule – übrigens in nahezu allen Schulgesetzen der Bundesländer in der einen oder anderen Formulierung hinterlegt – kollidiert aber nahezu zwangsläufig mit der heimlichen, gleichwohl dominierenden Zielvorgabe von Schule: nämlich die stratifizierende Verteilung gesellschaftlicher Aufstiegschancen der Schüler/innen auf der Basis curricular formulierter und komparatistisch gemessener Leistung; einem Ziel, das die einen fürchten, von dem aber die Mehrzahl aller Betroffenen (Eltern) zu profitieren hoffen.
Der Streit um die inklusive Schule erfährt gegenwärtig eine Neuauflage: Zehntausende geflüchteter Kinder und Jugendlicher erfahren zwar relativ unproblematisch ihre (von der UN-Kinderrechtskonvention geforderte) Beschulung in speziell eingerichteten ‚Willkommensklassen‘. Auch viele ‚höhere Schulen‘ wie Gymnasien bieten solche Klassen an, auch wenn für viele geflüchtete Schüler/innen schon aus sprachlichen Gründen das Qualifikationsziel Abitur kaum erreichbar scheint.
‚Willkommensklassen‘ laufen aber in der Regel nach einem Jahr aus – just zu einem Zeitpunkt, an dem die entstandenen Beziehungsnetze innerhalb der Schule ihre volle positive Kraft zu entfalten beginnen. Ob aber die Schüler/innen der sich auflösenden ‚Willkommensklassen‘ an der jeweiligen Schule verbleiben können, hängt – neben kapazitären Möglichkeiten – immer wieder davon ab, ob sie den gewöhnlichen Leistungsansprüchen gewachsen sind. Daran scheitern viele, und so werden sie weiteren Einsortierungen zugeführt, ohne das Inklusionspotential ihres weiteren Verbleibs zu nutzen. Der Verzicht auf ihre Fähigkeit zum Erwerb eines Abiturs – normalerweise von Gesetzes wegen die Voraussetzung für den Besuch eines Gymnasiums – könnte dagegen den Verbleib von geflüchteten Kindern und Jugendlichen und damit Inklusion wenigstens fragmentarisch ermöglichen.
Es ist unstrittig, dass Prozesse der Inklusion in den einzelnen Lebensbereichen (Schule, Arbeitswelt, politische Mitwirkung usw.) kaum isoliert erfolgen können. Sie müssen in eine umfassend inklusiv-aktive Bürgergesellschaft eingebettet sein, zu der neben den vielfältigen Vereinen und Vereinigungen nicht zuletzt auch die Religionsgemeinschaften und Kirchen in Gestalt ihrer vielstimmigen Gemeinden und Gemeinschaften, Institutionen und Werke zählen.
Solche Bürgergesellschaften – zu denen nicht nur die Staatsbürger/innen gehören, sondern selbstverständlich die ganze Bevölkerung – sind in gewisser Weise enabling communities: gleichermaßen befähigte wie befähigende Gemeinschaften also, die zwischen ihren Mitgliedern soziale Nähen und Handlungsr äume etablieren helfen, in denen die notwendigen persönlichen wie gesellschaftlichen Transformationsprozesse bereits selbst schon inklusiv, also unter Beteiligung potentiell aller Betroffenen vorangetrieben werden können.
Enabling communities stiften Solidargemein-schaften, in denen selbst der primäre Empfänger von materiellen oder immateriellen Unterstützungsleistungen sich „stets als vollwertiges
Mitglied der Gesellschaft empfinden kann“, wie die katholischen deutschen Bischöfe gemeinsam mit dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland Inklusion als Zielperspektive kirchlicher Sozialverkündigung in ihrem Wort „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ aus dem Jahr 2014 festhalten.
Damit kein Missverständnis entsteht: Inklusion verspricht keinesfalls paradiesische Zustände, also gleichsam den Himmel auf Erden. Eigentlich hat sie nur jene elementaren Gelingensbedingungen im Blick, die ein gedeihliches Zusammenleben zwischen den oftmals sehr verschiedenen Menschen ermöglichen helfen. In gewisser Weise ist sie sogar wohltuend nüchtern: Sie verlangt von niemandem, dass wir ihn ob seiner Eigen- und Andersheiten besonders wertschätzen, ihn sympathisch finden oder gar als beglückende Bereicherung für unser Leben erfahren. Wenn sich so etwas einstellen mag – und die Empirie basierten Prognosen sind sogar erstaunlich günstig –, umso besser. Was menschenrechtsbasierte Inklusion allerdings kategorisch fordert, ist die bedingungslose Akzeptanz anderer Menschen in ihrem Sosein, ohne ihnen die Teilhabechancen an der Gesellschaft zu verwehren – nicht mehr, aber auch nicht weniger.