Loe raamatut: «Lebendige Seelsorge 2/2019», lehekülg 2

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Scheitern und Aufhören als spirituelle

Herausforderung und Ressource

Das Phänomen „Scheitern“ ist ambivalent. Es umfasst existentielle Brucherfahrungen, wenn etwa durch den Verlust der Arbeit Armut droht, ein entscheidender Plan nicht aufgeht, eine Beziehung zerbricht. Das damit einhergehende Erleben von Ohnmacht, Kontrollverlust und Versagen ist schwer auszuhalten. Scheitern ist in keinem Fall einfach und wird gesellschaftlich vielfach entweder verdrängt, voyeuristisch stilisiert oder marginalisiert. Scheitern kann existenzbedrohende Folgen haben und ist zunächst eine negative Erfahrung. Der Umgang damit kann jedoch eine Ressource für persönliches Wachstum darstellen.

Katharina Karl

SCHEITERN ALS „SIGNATUR DER MODERNE“

Der These, dass Scheitern eine „Signatur der Moderne“ (Jeggle, 221) darstellt, ist insofern zuzustimmen, als ein großes Augenmerk auf der Frage nach dem Glück und dem Gelingen von Lebensentwürfen liegt. Der gesellschaftliche Druck und Anspruch, glücklich zu sein, kann belastend sein und zum Scheitern führen, vor allem angesichts der Tatsache, dass in einer „Risikogesellschaft“ (Beck) die Verantwortung für das eigene Leben mit allen Chancen, aber eben auch Gefahren beim Individuum selbst liegt. Die Gesellschaft bietet Rahmenbedingungen, aber keine Garantien zur Absicherung der Daseinsbewältigung. Die Maßstäbe, an denen Scheitern gemessen wird, werden so zunehmend höher und die „Orte“ der Selbstverwirklichung oder auch des Scheiterns vervielfältigen sich. Jemand mag an einem Ziel scheitern, das er/sie sich persönlich gesetzt hat oder an Erwartungen an Wohlstand und Erfolg, die gesellschaftlich festgelegt und vom Subjekt anerkannt sind. Es sind ausgesprochene und unausgesprochene Ideale des gelungenen Lebens, an denen Menschen sich messen und gemessen werden – und an denen sie scheitern. Eine Karriere kann ebenso scheitern wie eine Beziehung.

Zu unterschieden sind hier für die eigene Identität relevante Teilbereiche des Scheiterns und das absolute Scheitern als Idealtyp nach Max Weber (vgl. Junge, 18). Gelingt es einer Person nicht mehr, handlungsfähig zu bleiben und Möglichkeitsspielräume zu entwickeln, umfasst das Krisenerleben zunehmend die ganze Existenz. Scheitern wird subjektiv empfunden und intersubjektiv verstärkt oder relativiert. Im Scheitern erlebt eine Person, dass identitätsstützende Faktoren wegfallen, dass etwa das eigene Kohärenzgefühl gestört ist und soziale Anerkennung ausbleibt. Beide, Kohärenz und Anerkennung, gehören zusammen und sind Teil der Syntheseleistungen von Identitätsarbeit (vgl. Keupp, 243-263).

Katharina Karl

geb. 1976 in Regensburg, Dr. theol. habil., Professorin für Pastoraltheologie und Religionspädagogik an der PTH der Kapuziner in Münster; Leiterin des dortigen Pastoralseminars für Ordenspriester sowie Leiterin des Jugendpastoralinstituts Don Bosco in Benediktbeuern.

Ein kohärentes Identitätsgefühl hängt neben anderen Faktoren auch davon ab, welche Ressourcen materieller, aber auch psychischer Art dem Individuum zur Verfügung stehen, um andere Identitätsbereiche zu stärken, und welche Begleitung ein soziales Umfeld im Fall des Scheiterns in einem Lebensbereich (Ehe, Arbeit) bereithält. „Die Kompetenz einer aufgeklärten Umgangsweise mit bedrohter und gebrochener Identität gehört zu den Grundausstattungen der Lernprozesse, die auf Zukunft ausgerichtet sind“ (Negt, 34). Umgang mit Scheitern bildet daher einen wesentlichen Teil von Identitätsarbeit und ist, prospektiv gesehen, Bestandteil der Konstruktion der eigenen Zukunft.

Aufhören ist vom Scheitern in mehrfacher Hinsicht abzugrenzen. Aufhören ist ein grundsätzlich wertneutraler, alltäglicher Vollzug. In manchem Kontext, wenn Aufhören mit Aufgeben verknüpft ist, rückt es je nach dem Kontext, in dem es bewertet wird, in die Nähe des Scheiterns. Bevor es zu einer letzten Konsequenz kommt, wird ein aktiver Handlungsimpuls gesetzt. Der bewusste Ausstieg aus einem System, einer Handlungsabfolge, einer Lebensform, einer Tätigkeit o.ä. kann ein Zeichen des Protests sein (etwa der Austritt aus der Kirche) und markiert eine Grenze. Aufhören oder Dabeibleiben ist in Konfliktsituationen eine schwierige Entscheidung. Ob es zum Scheitern führt, ist abhängig vom situativen Kontext und Faktoren.

Das aktuelle gesellschaftliche Narrativ ist ein Narrativ des Erfolgs, das Gescheiterte in der Regel marginalisiert. „Auch und vor allem Gescheiterten wird die Aufgabe zugeteilt, die Geltung der gesellschaftlichen Erzählung von den Möglichkeiten erfolgreichen Handelns zu bestätigen. Das […] erzeugt eine Situation von gesteigertem Sinn- und Transzendenzbedarf“ (Junge, 30). An dieser Stelle öffnet sich der Diskurs auf den Bereich der Spiritualität. Denn die Frage nach Sinn und Transzendenz trifft in den Kernbereich von Spiritualität. Spiritualität ist als Ressource für existentielle Daseinsbewältigung angefragt. Wie dies aussehen kann, dem soll im Folgenden genauer nachgegangen werden.

SCHEITERN (SPIRITUALITÄTS)THEOLOGISCH

„Die Stockwerke des Scheiterns scheinen sehr unterschiedlich. Im Dachgeschoss beschäftigen sich die Theologen mit der Christologie unter dem Aspekt des Scheiterns als Voraussetzung der Erlösung“ (Jeggle, 221). Ein spiritualitätstheologischer Kern im Blick auf das Scheitern findet sich in der Biografie Jesu. Sie hat, so behauptet es zumindest die narrative Exegese, exemplarische Funktion, präsentiert eine Relecture, aus der eine Identifikation mit Aspekten der eigenen Lebensgeschichte erfolgen kann (vgl. Karl 2013, 293). Im Scheitern Jesu wird „menschliche Existenz radikal auf die Gottesfrage hin geöffnet“ (Karl 2013, 293).

Ob man mit Jeggle so weit gehen kann, Scheitern als Voraussetzung für Erlösung zu bezeichnen, sei dahingestellt. Auch scheint es fraglich, den theologischen Blick auf das Scheitern bildlich gesprochen ins Dachgeschoss zu verlegen und ihn nicht ganzheitlich mit anderen Forschungsrichtungen verwoben zu verstehen. In jedem Fall ist das Kreuz als christliches Symbol des Heils ein Zeichen, das die Realität von Scheitern nicht außen vor lässt. Das entlastet. Es entlastet von dem Wahn eigener Perfektion und überhöhtem Erfolgsdruck und sensibilisiert für das Nicht-Machbare, dem sich jede Existenz ausgeliefert sieht.

Die christliche Botschaft scheint eindeutig, und doch stoßen wir auch hier auf Ambivalenzen. Auf der subjektiven Ebene sind persönliche Wertvorstellungen und Ideale involviert, die einen hochsensiblen Bereich betreffen, denn nicht selten geht Spiritualität mit Elite- und Perfektionsstreben einher. Auf der intersubjektiven Ebene übt eine Glaubensgemeinschaft auch die Funktion moralischer Bewertung aus. Innerhalb der christlichen Kirchen besteht dabei nicht selten Uneinigkeit darüber, wie die Botschaft der Barmherzigkeit Gottes und das Moment der menschlichen Verletzlichkeit, das dem Weg Jesu als Verkörperung der Menschenfreundlichkeit Gottes eingezeichnet ist, mit der systemischen Funktion als moralisch-ethischen Instanz vereinbar sind.

KRITIK AN EINER SPIRITUALITÄT DES SCHEITERNS

In diesem Kontext ist auch auf mögliche und existierende Fehlformen hinzuweisen. Geht eine Idealisierung von Scheitern oder eine Stigmatisierung von Gescheiterten so weit, dass sie eine Selbstrücknahme, die zu menschlichem Scheitern führt, im Mantel der Demut als Teil eines geistlichen Weges spirituell zu validieren sucht, fördert und begünstigt dies Strukturen und Haltungen des Missbrauchs.Das Kreuz wird als ein Demutssymbol inszeniert, das Menschen in der Aufgabe ihrer selbst bestätigt und ihr Scheitern normiert. Dieses Phänomen ist subtil in verschiedenen Formen in der religiösen Landschaft präsent. Gerade das Frauenbild ist in verschiedenen Religionen oder religiösen Gruppierungen von einer solchen falschen Demutslogik gekennzeichnet.

In der pastoralen Arbeit mit missbrauchten Frauen ist mir dies begegnet. Eine betroffene Frau etwa fand im Leiden Jesu am Kreuz die Begründung, die Misshandlungen durch ihren Mann auszuhalten. Abgesehen davon, dass materielle Ressourcen fehlten, um aus der Situation auszubrechen, wurde Spiritualität hier zu einer negativen Identitätsstütze und dadurch der Missbrauch indirekt legitimiert. In künstlerischer Form ist dieses Phänomen im Film „Kreuzweg“ von Dietrich Brüggemann dargestellt, der 2014 in die Kinos kam. Er zeichnet den buchstäblichen Kreuzweg eines Mädchens, das an dem eigenen Anspruch der Demut und Selbstverleugnung und dem Druck von außen in höchst tragischer Weise zerbricht (vgl. Kreuzweg).

Auf ein analoges Muster stößt man im Zusammenhang mit Haltungen in der katholischen Kirche in Bezug auf das Scheitern und die Schwäche von Amtsträgern. Die Argumentationsstruktur, menschliches Fehlverhalten etwa im Vergleich mit dem Verrat des Petrus biblisch zu fundieren und damit strukturell zu entschuldigen, ist gerade angesichts der aktuellen Missbrauchsaufarbeitung höchst fraglich und nicht mehr akzeptabel. Denn es überhöht menschliche Schuld und menschliches Scheitern in einer unangemessenen Art und Weise. Es kann und darf also keine „Spiritualität des Scheiterns“ geben, sondern nur eine scheiternssensible Spiritualität und Pastoral (vgl. Sautermeister, 49).

SPIRITUALITÄT ALS RESSOURCE

Scheitern als eine biografische Aufgabe zu verstehen, bedeutet, Ressourcen in den Blick zu nehmen, die es zu stärken gilt. An den oben angeführten Beispielen wird deutlich, dass Werte und Bewertungen durch eine Institution mit eigenen Idealen und Bedürfnissen in einer vitalen Spannung stehen, die für eine Bewältigung von Krisen und Konflikten bearbeitet werden muss (vgl. Karl 2014, 95-98). Für die Integration von Scheitern in das biografische Narrativ kann Spiritualität, neben und mit anderen Ressourcen, eine wesentliche Rolle spielen. Sie stellt einen wesentlichen Faktor von Resilienz dar. Dies ist jedoch durchaus mit Herausforderungen verbunden, da Scheitern immer auch eine religiöse Bewährungsprobe darstellt (vgl. Sautermeister, 46). Der Glaube eines Menschen kann am Scheitern auch scheitern, daher bedarf es einer „produktiven Bewältigung“ (Sautermeister, 47).

In einem ersten Schritt kann Spiritualität von enormer Bedeutung für das eigene Selbstverhältnis sein. Die Fähigkeit zur Selbstannahme ist Teil einer spirituellen Kompetenz, die aus dem Glauben erwachsen kann, als Mensch in der conditio sine qua non jenseits aller Leistung und jenseits des Scheiterns angenommen zu sein. Sie gründet in der Annahme der eigenen Begrenztheit und Fragilität. Um nach einer radikalen Brucherfahrung neu anzufangen, sind der Glaube an sich selbst, aber auch an eine äußere sinnstiftende Instanz äußerst hilfreich.

Darüber hinaus erfüllt Spiritualität als eine Ressource im Umgang mit Scheitern die Funktion als Deutehilfe für persönliche Widerfahrnisse und biografische Erfahrungen. Spiritualität kann zur Coping-Strategie werden und ermöglicht eine positive Re-Evaluation des Erlebten. An Bekehrungsgeschichten von Menschen im Gefängnis wird dies deutlich. Ein Beispiel ist die Biografie von Stanley Tookie Williams (1953-2005), dem Mitbegründer der Crips-Gang in Los Angeles, der wegen mehrerer Morde, die er bis zuletzt bestritt begangen zu haben, zum Tode verurteilt wurde. Nach einem Bekehrungserlebnis – er kam mit der Bibel in Kontakt und sah sein Leben fortan unter dem Vorzeichen der Erlösung – setzte er sich dafür ein, Kinder zu stärken und zu schützen. Für seine Kinderbücher zur Prävention gegen Rassismus, Drogen und Gewalt wurde er für den Nobelpreis nominiert. Völlig unabhängig von der Schuldfrage ist das religiöse Konzept der Erlösung der Schlüssel für die Art und Weise, mit der Stanley Williams sein Scheitern deutete. Scheitern wurde für ihn zu einer „spirituelle[n] Erschließungserfahrung“ (Sautermeister, 46).

Als Beitrag der Spiritualität zum Identitätsdiskurs kann festgehalten werden: Im Sinne der Ganzheitlichkeit hat Spiritualität Bedeutung als ein Identitätsbereich, der in besonderer Weise Sinnstiftung ermöglicht und Bewältigungsstrategien für Brucherfahrungen generiert.

AN KRISEN HEIL WERDEN? INSTITUTIONELLE SCHEITERNSBEWÄLTIGUNG

Tatsächlich ist das Scheitern im Moment nicht nur eine Frage persönlicher Biografien, sondern Thema der ganzen Kirche. „Christliche[r] Glaube [ist] Erfahrung von Zerbrechlichkeit“, diese Erfahrung ist nicht neu, aber „heute wird sie kollektiv“ (de Certeau, 249) und konkretisiert sich etwa im Sterben der Idee der Volkskirche, im Relevanzverlust christlicher Kultur, in der Auseinandersetzung mit eigener Schuld durch Machtstrukturen und Missbrauch. Scheitern ist Teil der „Erfahrung der Boten“ (de Certeau, 249). Die Frage nach Akzeptanz und Bewältigung von Scheitern, die bislang vor allem Thema der Seelsorge war, wird notwendigerweise ausgeweitet auf das Kirchenbild, das Selbstverständnis christlicher Gemeinschaft. Dies erfordert eine Auseinandersetzung mit dem Scheitern im Sinne einer Sensibilität für das Scheitern als einem inhärenten Bestandteil christlicher Spiritualität, wobei Scheitern deutlich abzugrenzen ist von Schuld.

Lassen sich die ausgeführten Beobachtungen vom Individuum auf das System übertragen, bedeutet das, dass die Ressourcenlogik auch für eine Institution gilt. In der gegenwärtigen Situation der Kirche kann Spiritualität in oben beschriebener Art und Weise als Deutehilfe dienen, das eigene Narrativ zu bearbeiten, zu korrigieren und die eigene Kontingenz (wieder)zuentdecken – nicht mit der Absicht, das Scheitern beschönigen oder Schuld in unangemessener Weise entschuldigen zu wollen, sondern um seine Überhöhung und Relativierung zu vermeiden, Brüchigkeit im eigenen Selbstbild festzumachen und eine ehrliche Auseinandersetzung damit zu ermöglichen. Dies birgt das Potenzial eines durchaus konstruktiven Umgangs mit den Brucherfahrungen institutioneller Existenz, die einen Beitrag zur Aufarbeitung der traumatisierenden Erfahrungen des Scheiterns zu leisten vermag, indem Verletzlichkeit ihren Platz im Narrativ der christlichen Gemeinschaft findet.

LITERATUR

Certeau, Michel de, Glaubensschwachheit (Religionskulturen 2), Stuttgart 2009.

Jeggle, Utz, Scheitern lernen, in: Zahlmann, Stefan/Scholz, Sylka (Hg.), Scheitern und Biographie, Gießen 2005, 221-236.

Junge, Matthias, Scheitern und Scheiternsbewältigung vor dem Hintergrund empirischer Daten, in: Karl, Katharina (Hg.), Scheitern und Glauben als Herausforderung (Spirituelle Theologie 4), Würzburg 2014, 9-31.

Karl, Katharina, Biografieforschung als Weg der Theologie, in: MThZ 64 (2013/3) 291-301.

Karl, Katharina, Scheitern auf dem Glaubensweg? Krise und Neuanfang am Beispiel von Ordensbiographien, in: Dies. (Hg.), Scheitern und Glauben als Herausforderung (Spirituelle Theologie 4), Würzburg 2014, 93-110.

Keupp, Heiner u. a., Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg 1999. Kreuzweg: www.kreuzweg-derfilm.de/ (21.2.2019).

Negt, Oskar, Lernen in einer Welt gesellschaftlicher Umbrüche, in: Dieckmann, Heinrich/Schachtsiek, Bernd (Hg.), Lernkonzepte im Wandel, Stuttgart 1998, 21-44.

Sautermeister, Jochen, Scheitern hat nicht das letzte Wort.

Radikale Brucherfahrung als theologisch-ethische Herausforderung, in: Karl, Katharina (Hg.), Scheitern und Glauben als Herausforderung (Spirituelle Theologie 4), Würzburg 2014, 33-53.

Was hat Scheitern mit Gott zu tun?

Die Replik von Maria Elisabeth Aigner auf Katharina Karl

Ich habe Katharina Karls Beitrag mit Interesse gelesen und kann ihr in fast allem nur zustimmen. Ihre Ausführungen haben mich angeregt, weiterzudenken und weiter zu fragen – vor allem was das Scheitern und unseren theologischen und seelsorglichen Umgang damit betrifft. Zugleich stoße ich dabei erneut auf die Frage, was Scheitern in einem ganz existenziellen Sinn für uns Menschen bedeutet. Worin besteht der Zusammenhang zwischen Scheitern und unserer menschlichen Existenz? Und viel mehr noch: Wann kommt es dabei zu Transzendenz und Überschreitung des Diesseitigen? Was hat Scheitern mit Gott zu tun?

Vorneweg beschäftigt mich jedoch – angeregt dadurch, dass Scheitern als „Signatur der Moderne“ betrachtet werden kann, der interkulturelle Aspekt des Themas. Seit etlichen Jahren verbringe ich einen Monat im Jahr in Afrika, genau genommen in Tanzania, einem für afrikanische Verhältnisse relativ sicheren Land, in dem ich nicht nur auf Not und Elend treffe, auch wenn nach wie vor vierzig Prozent der Bevölkerung dort hungern. Seit ich kontinuierlich mit Schwarzafrika „in touch“ bin, begegnet mir der Begriff des Scheiterns in einer anderen Dimension als hierzulande – und das ebenso in der ganzen Ambivalenz, von der auch in Katharina Karls Ausführungen gleich zu Beginn die Rede ist. Wo mangelnde Bildung, und unzureichende medizinische Versorgung, Arbeitslosigkeit, Hunger und Naturkatastrophen,Korruption und politische Repression Not und Elend hervorrufen, stehen keine Ressourcen mehr zur Verfügung, um dem Scheitern noch in irgendeiner Form eine damit verbundene Erfahrung persönlicher Wachstumsprozesse abzuringen. Hierzulande scheitern wir, wenn es uns an Erfolg und Wohlstand mangelt. In Afrika liegt der Erfolg darin, trotz des allgegenwärtigen, tagtäglichen Scheiterns den Mut nicht zu verlieren und sein Leben nicht aufzugeben, sondern irgendwie weiterzukämpfen. Wichtig erscheint mir anzuerkennen, dass Scheitern zum Menschsein gehört und zwar nicht nur individuell und gemeinschaftlich bzw. in einem systemischen Sinn, sondern auch in einem existenziellen sowie theologischen Sinn. Es stimmt, dass das Kreuz als christliches Symbol eben auf diese Realität hinweist und dass dies – so Katharina Karl – eine Entlastungsfunktion hat. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass im Verlauf des Lebens einzig im Anerkennen dieser Realität die heilsamen Wenden liegen können und das Kreuz auch dafür Sinnbild ist.

Es geht mit Blick auf das Kreuz als Heilssymbol eben nicht um jene perfide Verkehrung, die den ohnedies durch das Scheitern gedemütigten Menschen noch zusätzlich die Demut abverlangt, ihr Leid aufzuopfern. Das kommt einem frömmelnd-verbrämten Sadismus gleich. Scheitern als „Voraussetzung für Erlösung“ zu bezeichnen oder von einer „Spiritualität des Scheiterns“ zu sprechen, leistet der Gefahr einer solchen Demutslogik massiven Vorschub. Wenn das Kreuz das Symbol des Heils ist, dann heißt das, die Realität des Scheiterns als Tatsache menschlicher Existenz anzuerkennen, jedoch nicht, dass das Scheitern zu ertragen, oder womöglich sogar als gerechte Sündenfolge zu verstehen ist.

Das Junktim zwischen Scheitern und Chance oder Scheitern und Erlösung ist verachtend denjenigen gegenüber, die mitten im Scheitern und den damit verbundenen Leiden stehen. Denn Scheitern hat zuerst mit einem Mangel an Lebensmöglichkeiten, Freude und Zukunftsaussichten zu tun. Scheitern kann Menschen so sehr in die Verzweiflung führen, dass sie verstummen, sich zurückziehen, aus allen sozialen Netzen fallen. Der Weg des existenziellen Scheiterns führt so wie das Leiden „[…] nicht geradewegs in die Weisheit, nicht in die Sprache, nicht zu Gott, zumindest zu keinem, der all dies will und weiß. Der Weg in das Leiden führt zu Niedrigkeit, Einsamkeit, Verzweiflung“ (Bucher, 33). Es gibt also eine Logik der Abfolge im Bewältigungsprozess des Scheiterns. Wenn durch das Scheitern das Vertrauen in die Menschen und in das Leben verloren geht und sich dieser selbstverständliche Vertrauensraum lediglich wie ein winzig kleines dunkles Kämmerchen anfühlt, wird das als eine Form der Ausgrenzung erlebt, die Menschen nicht nur aus dem Gemeinschaftsnetz, sondern gewissermaßen ‚aus der Welt‘ fallen lässt.

An dieser Stelle Gottes Nähe vermitteln zu wollen, kann nur scheitern. Als Prävention und Intervention bleiben einzig das solidarische Wahrnehmen und Aushalten dessen, was beim Gegenüber ist. Das schafft im weitläufigen, von Verwirrung durchzogenen Raum des Scheiterns Anerkennung und verleiht den Betroffenen Autorität und Würde. Das ist viel. Vor allem aber drängt es jene, die mit den Konsequenzen des Scheiterns konfrontiert sind, nicht zusätzlich in das Gefühl zu versagen, weil sie die Anwesenheit Gottes in alledem nicht spüren und wahrnehmen können. Die Deutungsmacht darüber, welchen Sinn das Scheitern hat, liegt einzig bei den Gescheiterten selbst. Wer Gott in alle dem ist und wie er sich zeigt, bleibt unverfügbar. Als Sigel erkennbar ist lediglich die Bodenlosigkeit im Scheitern Jesu – in seinem Leben und durch sein Lebensende am Kreuz –, und dass Gott in diesem Jesus alles Zerborstene, Zerschellte, Zerstörte menschlicher Existenz teilt.

LITERATUR

Bucher, Rainer, Gott, das Kreuz, das Leiden, in: Spendel, Aurelia (Hg.), Glaubenskunst. Vom Reichtum christlicher Spiritualität, Ostfildern 2008, 28-35.

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