Winzige Gefährten

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Winzige Gefährten
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ED YONG

WINZIGE GEFÄHRTEN

Wie Mikroben uns eine umfassendere

Ansicht vom Leben vermitteln

Aus dem Englischen

von Sebastian Vogel

Verlag Antje Kunstmann

Zum Buch

Eine erstaunliche, amüsante und kenntnisreiche Entdeckungsreise in den Kosmos der Mikrobiologie.

Unser Körper ist eine ganze Welt: Billionen Mikroorganismen bevölkern ihn. Sie gestalten unsere Organe mit, schützen uns vor Krankheiten, steuern unser Verhalten und bombardieren uns mit ihren Genen. Diese winzigen Gefährten verfügen über den Schlüssel zum Verständnis für das gesamte Leben auf der Erde, wie es begann, wie es sich fortentwickelte.

Ed Yong öffnet uns die Augen für diese unsichtbare Welt. Er erzählt von den erstaunlichen Symbiosen, die Korallen dazu bewegen, mächtige Riffe zu bauen, oder es Zwergtintenfischen ermöglichen, ihre eigenen Umrisse mit einem diffusen Licht zu tarnen, um sich vor Jägern zu schützen. Wir erfahren, wie Mikroben Viren in Schach halten, Einfluss auf unsere Emotionen und unser Wesen nehmen und sogar unsere genetische Veranlagung verändern können. Wir lernen die Wissenschaftler kennen, die mit ansteckender Begeisterung diese winzigen Begleiter erforschen – sehr zu unserem Nutzen.

Mit überraschendem Witz, großer Kenntnis und Anschaulichkeit lässt Ed Yong auf dieser Entdeckungsreise in den Kosmos der Mikrobiologie das Unsichtbare und Winzige sichtbar und groß werden.

»Ed Yong vermittelt uns eine überraschende und faszinierende Einsicht nach der anderen.

Wissenschaftsjournalismus in Höchstform.«

Bill Gates

Über den Autor

Ed Yong, geb. 1981, ist Wissenschaftsjournalist und schreibt für The Atlantic. Seine Artikel und Reportagen sind außerdem u.a. im National Geographic, New Yorker, Wired, Nature, New Scientist, Scientific American erschienen. Der New York Times-Bestseller "Winzige Gefährten“ ist sein erstes Buch. Er lebt derzeit in Washington DC.

INHALT

Prolog Ein Besuch im Zoo

Kapitel 1: Lebende Inseln

Kapitel 2: Die Idee, genauer hinzusehen

Kapitel 3: Baumeister des Körpers

Kapitel 4: Allgemeine Geschäftsbedingungen

Kapitel 5: In kranken und gesunden Tagen

Kapitel 6: Der lange Walzer

Kapitel 7: Wechselseitig gesicherter Erfolg

Kapitel 8: Allegro in E-Dur

Kapitel 9: Mikroben à la carte

Kapitel 10: Morgen: die Welt

Danksagungen

Anhang Anmerkungen

Literatur

Register

PROLOG
EIN BESUCH IM ZOO

BABA SCHRECKT NICHT ZURÜCK. Die Horde aufgeregter Kinder, die sich um ihn versammelt hat, lässt ihn vollkommen unbeeindruckt. Ebenso wenig stört ihn die kalifornische Sommerhitze. Und auch um die Wattestäbchen, die über sein Gesicht, seinen Körper und seine Pfoten gestrichen werden, kümmert er sich nicht. Die Lässigkeit kann er sich leisten, denn er führt ein sicheres, gemütliches Leben. Sein Zuhause ist der Zoo von San Diego. Er trägt einen undurchdringlichen Panzeranzug, und derzeit hat er sich um den Bauch eines Zoowärters geschlungen. Baba ist ein Weißbauchschuppentier – ein überaus liebenswerter Zeitgenosse, der wie eine Kreuzung zwischen einem Ameisenbär und einem Kiefernzapfen aussieht. Er ist ungefähr so groß wie eine kleine Katze. Seine schwarzen Augen blicken traurig drein, und die Haare, die seine Wangen rahmen, sehen aus wie widerspenstige Koteletten. Sein rosafarbenes Gesicht läuft in einer spitzen, zahnlosen Schnauze aus, die sich gut dafür eignet, Ameisen und Termiten zu schlürfen. Die langen, gebogenen Klauen an den Enden seiner stämmigen Vorderbeine sind dazu gebaut, sich an Bäumen festzuklammern und Insektennester auseinanderzureißen. Und mit dem langen Schwanz kann er sich von Ästen (oder freundlichen Zoowärtern) herunterhängen lassen.

Aber sein mit Abstand auffälligstes Merkmal sind die Schuppen, die Kopf, Rumpf, Gliedmaßen und Schwanz bedecken. Diese hellorangefarbenen, sich überlappenden Platten bilden einen äußerst widerstandsfähigen Abwehrpanzer. Sie bestehen aus dem gleichen Material wie unsere Fingernägel: Keratin. Sie sehen auch tatsächlich fast aus wie Fingernägel und fühlen sich so an – allerdings wie große, lackierte und übel abgekaute. Die Schuppen sind flexibel, aber fest am Körper verankert; deshalb geben sie nach, wenn ich mit der Hand über Babas Rücken streiche, und richten sich anschließend wieder auf. Würde ich ihn in der umgekehrten Richtung streicheln, ich würde mich vermutlich schneiden – viele der Schuppen haben scharfe Kanten. Nur Babas Gesicht, Bauch und Pfoten sind ungeschützt, aber bei Bedarf kann er sie leicht verteidigen, indem er sich zu einer Kugel zusammenrollt. Dieser Fähigkeit verdankt das Tier seinen englischen Namen pangolin: Er kommt von dem malaiischen Wort pengguling, und das bedeutet so viel wie »etwas, das sich einrollt«.

Baba gehört zu den Botschaftern des Zoos – das sind besonders gefügige, gut ausgebildete Tiere, die an öffentlichen Vorführungen mitwirken. Die Zoowärter nehmen sie häufig mit in Pflegeheime oder Kinderkrankenhäuser, damit kranke Menschen sich an ihnen erfreuen und gleichzeitig etwas über ungewöhnliche Tiere lernen können. Aber heute hat er frei. Er hat sich um die Körpermitte des Wärters geschlungen wie die seltsamste Bauchbinde der Welt, und Rob Knight tupft eine Seite seines Gesichts vorsichtig mit einem Wattestäbchen ab. »Das ist eine der Tierarten, von denen ich schon als Kind gefesselt war – dass es so etwas überhaupt gibt«, sagt er.

Knight, ein großer, schlaksiger Neuseeländer mit kurz geschorenen Haaren, ist Fachmann für mikroskopisch kleine Lebensformen – ein Connaisseur des Unsichtbaren. Er erforscht Mikroben, das heißt Bakterien und andere Lebewesen, die nur mit dem Mikroskop zu sehen sind. Insbesondere begeistert er sich für solche, die im oder auf dem Körper von Tieren leben. Um sie zu studieren, muss er sie erst einmal sammeln. Schmetterlingssammler benutzen Netze und Glasgefäße; Knights Lieblingswerkzeug ist das Wattestäbchen. Er rollt die kleine Verdickung ein paar Sekunden lang über Babas Nase – lang genug, um das Ende des Stäbchens mit einer Menge Gürteltierbakterien zu versehen. Tausende, wenn nicht Millionen Zellen haben sich jetzt in dem weißen Gewebe verfangen. Knight bewegt sich vorsichtig, er will das Schuppentier nicht stören. Baba könnte nicht ungestörter aussehen. Ich bekomme den Eindruck, er würde, selbst wenn neben ihm eine Bombe hochginge, nur mit einem leichten Zappeln reagieren.

Baba ist nicht nur ein Schuppentier. Er ist auch eine wimmelnde Masse von Mikroben. Manche davon leben in seinem Inneren, vor allem im Darm. Andere sind auf seiner Oberfläche zu Hause: auf Gesicht, Bauch, Pfoten, Klauen und Schuppen. Knight wischt nacheinander über all diese Stellen. Auch von seinen eigenen Körperteilen hat er mehr als einmal Wischproben genommen, denn auch er ist Gastgeber einer Mikrobengemeinschaft. Das Gleiche gilt für mich und für jedes Tier im Zoo. Und auch für jedes andere Lebewesen auf der Erde mit Ausnahme einiger Labortiere, die von Wissenschaftlern absichtlich keimfrei gezüchtet wurden.

Jeder von uns verfügt über ein üppiges, mikroskopisches Sammelsurium, das zusammenfassend als Mikroflora oder Mikrobiom bezeichnet wird.1 Die Mikroben leben auf unserer Oberfläche, in unserem Körper und manchmal sogar innerhalb unserer eigenen Zellen. In ihrer großen Mehrzahl sind es Bakterien, aber es gibt auch andere winzig kleine Organismen, darunter Pilze (beispielsweise die Hefen) und Archaea, eine rätselhafte Gruppe, die uns später wieder begegnen wird. Außerdem Viren in unvorstellbarer Zahl – sie bilden ein Virom, das alle anderen Mikroorganismen und gelegentlich auch die Zellen des Wirtsorganismus infiziert. Von all diesen winzigen Dingern sehen wir nichts. Würden unsere eigenen Zellen allerdings auf rätselhafte Weise verschwinden, könnten wir vielleicht einen gespenstischen Mikrobenschimmer wahrnehmen, der die Umrisse des verschwundenen Tieres nachzeichnet.2

In manchen Fällen würde man das Fehlen der Zellen kaum bemerken. Zu den einfachsten Tieren gehören die Schwämme: Ihr unbeweglicher Körper ist niemals dicker als ein paar Zellen, und auch sie beherbergen ein gedeihendes Mikrobiom.3 Wenn man Schwämme unter dem Mikroskop betrachtet, sieht man das Tier manchmal kaum, weil es vollständig von Mikroben bedeckt ist. Die noch einfacheren Plattentiere oder Placozoa sind eigentlich nicht mehr als feuchte Matten aus Zellen; sie sehen aus wie Amöben, sind aber Tiere wie wir und besitzen ebenfalls Mikroben als Partner. Ameisen leben manchmal zu Millionen in Kolonien zusammen, aber auch jede einzelne Ameise ist wiederum eine Kolonie. Ein Eisbär, der allein durch die Arktis schlendert und in alle Richtungen nichts sieht als Eis, ist in Wirklichkeit vollständig eingehüllt. Streifengänse tragen Mikroben über den Himalaja, und Elefantenrobben nehmen sie mit in die Tiefen der Ozeane. Als Neil Armstrong und Buzz Aldrin zum ersten Mal einen Fuß auf den Mond setzten, war das auch ein Riesenschritt für die Gemeinschaft der Mikroben.

 

Als Orson Welles sagte: »Wir werden allein geboren, wir leben allein, wir sterben allein«, hatte er unrecht. Selbst wenn wir allein sind, sind wir nie allein. Unser Dasein ist eine Symbiose – dieser wunderbare Begriff bezeichnet das Zusammenleben verschiedenartiger Organismen. Manche Tiere werden von Mikroben besiedelt, wenn sie noch unbefruchtete Eizellen sind; andere nehmen im Augenblick der Geburt ihre ersten Partner auf. Anschließend gehen wir in ihrer Gegenwart durch unser ganzes Leben. Wenn wir essen, essen sie auch, wenn wir reisen, kommen sie mit. Wenn wir sterben, fressen sie uns auf. Jeder von uns ist sein eigener Zoo – eine Kolonie, die in einem einzigen Körper eingeschlossen ist. Ein Kollektiv zahlreicher Arten. Eine ganze Welt.

Diese Vorstellungen sind mitunter schwer zu fassen, nicht zuletzt weil wir Menschen eine weltweit verbreitete Spezies sind. Unsere Reichweite ist grenzenlos. Wir haben uns bis in die hintersten Winkel unserer blauen Murmel ausgebreitet, und manche von uns haben sie sogar verlassen. Da mag es ein seltsamer Gedanke sein, dass so manches Dasein sich in einem Darm oder in einer einzelnen Zelle abspielt, und ebenso mag es merkwürdig erscheinen, sich unsere Körperteile als hügelige Landschaften vorzustellen. Und doch sind sie es. Die Erde beherbergt eine Fülle verschiedener Ökosysteme: Regenwälder, Graslandschaften, Korallenriffe, Wüsten, Salzmarschen, und jedes davon hat seine eigene Artengemeinschaft. Aber auch ein einzelnes Tier ist voller Ökosysteme. Haut, Mund, Darm, Genitalien – jedes Organ, das in einer Verbindung mit der Außenwelt steht, besitzt seine eigene, charakteristische Mikrobengemeinschaft.4 Alle Prinzipien, mit denen Ökologen die kontinentweiten, via Satellit sichtbaren Ökosysteme beschreiben, gelten auch für die Ökosysteme in unserem Körper, die wir mit dem Mikroskop betrachten. Wir können über die Vielfalt der Mikrobenarten sprechen. Wir können Nahrungsnetze zeichnen, in denen verschiedene Lebewesen sich gegenseitig fressen und gefressen werden. Wir können einzelne wichtige Mikroben herausgreifen, die in ihrer Umwelt einen überproportional großen Einfluss ausüben – ähnlich wie Seeotter oder Wölfe. Wir können Mikroorganismen, die Krankheiten auslösen – Krankheitserreger –, als invasive Arten betrachten wie Aga-Kröten oder Feuerameisen. Den Darm eines Menschen, der an einer entzündlichen Darmkrankheit leidet, können wir mit einem sterbenden Korallenriff oder einem brach liegenden Acker vergleichen: Er ist ein misshandeltes Ökosystem, in dem das Gleichgewicht der Organismen verloren gegangen ist.

Was solche Ähnlichkeiten bedeuten, ist klar: Wenn wir eine Termite, einen Schwamm oder eine Maus betrachten, werfen wir auch einen Blick auf uns selbst. Diese Tiere beherbergen vielleicht andere Mikroben als wir, aber die Bündnisse unterliegen den gleichen Prinzipien. Ein Tintenfisch, dessen Leuchtbakterien nur nachts glimmen, liefert uns Aufschlüsse über das tägliche Auf und Ab der Bakterien in unserem Darm. Ein Korallenriff, in dem die Mikroben wegen Wasserverschmutzung oder Überfischung Amok laufen, gibt einen Hinweis darauf, welches Chaos in unserem Darm ausbricht, wenn wir ungesunde Lebensmittel oder Antibiotika zu uns nehmen. Eine Maus, deren Verhalten sich unter dem Einfluss ihrer Darmmikroben ändert, sagt uns etwas über die weitreichenden Einflüsse, die unsere eigenen Gefährten in unserem Geist ausüben. Über die Mikroben finden wir trotz unseres unglaublich unterschiedlichen Lebens die Einheit mit unseren Mitgeschöpfen. Keines von ihnen lebt isoliert; ihr Dasein bewegt sich immer in einem mikrobiologischen Zusammenhang und umfasst den ständigen Austausch zwischen großen und kleinen Arten. Mikroben – auch Mikroorganismen genannt – wechseln nicht nur zwischen verschiedenen Tieren hin und her, sondern auch zwischen unserem Körper und dem Boden, dem Wasser, der Luft, Gebäuden und anderen Elementen unserer Umwelt. Sie verbinden uns miteinander und mit der Welt.

Alle Zoologie ist eigentlich Ökologie. Ohne etwas über unsere Mikroben und unsere Symbiose mit ihnen zu wissen, können wir das Leben der Tiere nicht vollständig verstehen. Und wir können unser eigenes Mikrobiom nicht umfassend einschätzen, wenn wir nicht wissen, wie das Mikrobiom anderer Arten deren Leben bereichert und beeinflusst. Wir müssen das Panorama des gesamten Tierreichs betrachten und gleichzeitig die verborgenen Ökosysteme, die in jedem Lebewesen stecken, aus der Nähe betrachten. Wenn wir uns Käfer und Elefanten ansehen, Seeigel und Regenwürmer, Eltern und Freunde, dann sehen wir Individuen, die als Haufen von Zellen in einem einzigen Körper ihren Weg durchs Leben gehen, angetrieben von einem einzigen Gehirn und gelenkt von einem einzigen Genom. Aber das ist nur angenehme Fiktion. In Wirklichkeit sind wir, jeder und jede Einzelne von uns, ganz viele. Sind immer ein »Wir« und niemals nur ein »Ich«. Vergessen wir Orson Welles, und hören wir auf Walt Whitman: »Ich bin groß, ich enthalte Vielheiten.«5

KAPITEL 1
LEBENDE INSELN

DIE ERDE IST 4,54 MILLIARDEN JAHRE ALT. Ein so atemberaubend langer Zeitraum ist nicht zu begreifen, also drängen wir einmal die gesamte Geschichte unseres Planeten auf ein einziges Kalenderjahr zusammen.1 Gerade jetzt, da Sie diese Seite lesen, schreiben wir den 31. Dezember unmittelbar vor Mitternacht. (Dankenswerterweise wurde das Feuerwerk erst vor neun Sekunden erfunden.) Menschen gibt es seit höchstens dreißig Minuten. Bis zum Abend des 26. Dezember beherrschten Dinosaurier die Erde, dann aber traf ein Aste roid den Planeten und löschte sie (mit Ausnahme der Vögel) aus. Blumen und Säugetiere entwickelten sich im Laufe des Dezember. Im November besiedelten Pflanzen das Land, und in den Meeren erschienen die meisten Hauptgruppen der Tiere. Pflanzen und Tiere bestehen aus vielen Zellen, und ähnliche vielzellige Organismen hatten sich mit Sicherheit bereits Anfang Oktober entwickelt. Möglicherweise erschienen sie schon früher auf der Bildfläche – die Fossilien sind zweideutig und lassen verschiedene Interpretationen zu –, aber in jedem Fall waren sie selten. Vor dem Oktober handelte es sich bei nahezu allen Lebewesen auf dem Planeten um einzelne Zellen. Sie wären für das bloße Auge unsichtbar gewesen, wenn es Augen gegeben hätte. So war es seit irgendeinem Zeitpunkt im März, als zum ersten Mal Leben entstand.

Um es noch einmal zu betonen: Alle sichtbaren Lebewesen, die uns heute vertraut sind, alles, was uns einfällt, wenn wir an die »Natur« denken, sind Nachzügler in der Geschichte des Lebendigen. Sie gehören zum Schlussakkord. Während des größten Teils der Geschichte waren Mikroorganismen die einzigen Lebewesen auf der Erde. In unserem imaginären Kalender hatten sie von März bis Oktober den Planeten für sich allein.

In dieser Zeit veränderten sie die Erde ein für alle Mal. Bakterien reichern die Böden an und bauen Schadstoffe ab. Sie treiben die globalen Kreisläufe von Kohlenstoff, Stickstoff, Schwefel und Phosphor an; dazu verwandeln sie diese Elemente in Verbindungen, die von Tieren und Pflanzen genutzt werden können, und anschließend geben sie die gleichen Verbindungen durch den Abbau organischer Körper der Welt zurück. Als erste Organismen stellten sie ihre eigenen Nähr stoffe her, weil sie durch einen Prozess, den man Fotosynthese nennt, die Sonnenenergie nutzbar machten. Als Abfallprodukt setzten sie Sauerstoff frei und gaben das Gas in so großen Mengen ab, dass die Atmosphäre unseres Planeten sich dauerhaft veränderte. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir in einer Welt des Sauerstoffs leben. Noch heute produzieren die Fotosynthesebakterien in den Ozeanen den Sauerstoff in der Hälfte aller unserer Atemzüge, außerdem binden sie eine ebenso große Menge an Kohlendioxid.2 Manchmal wird gesagt, wir würden heute im Anthropozän leben, einer neuen Epoche der Erdgeschichte, die durch die ungeheueren Auswirkungen der Menschheit auf unseren Planeten charakterisiert ist. Ebenso gut kann man die Ansicht vertreten, dass wir uns immer noch im Mikrobiozän befinden, dem Zeitalter, das mit der Entstehung des Lebens einsetzte und bis zu seinem Ende fortdauern wird.

Mikroorganismen sind wahrlich überall. Sie leben im Wasser der tiefsten Ozeangräben und in dem Gestein darunter. Sie überleben in dampfenden hydrothermalen Schloten, siedenden Quellen und im Eis der Antarktis. Man findet sie sogar in den Wolken, wo sie als Keime für Regentropfen und Schneeflocken dienen können. Es gibt sie in astronomischer Zahl. Eigentlich ist ihre Zahl sogar weit größer als nur astronomisch: Es gibt mehr Bakterien in unserem Darm als Sterne in unserer Galaxis.3

So sah die Welt aus, in der die Tiere entstanden: Sie war völlig von Mikroorganismen bedeckt und wurde von ihnen verändert. Oder, wie der Paläontologe Andrew Knoll es einmal formulierte: »Tiere mögen der Zuckerguss der Evolution sein, aber der eigentliche Kuchen sind die Bakterien.«4 Sie waren immer Teil unserer Ökologie. Wir haben uns unter ihnen entwickelt, und wir haben uns aus ihnen entwickelt. Die Tiere gehören zu einer Gruppe von Lebewesen, die Eukaryonten genannt wird und auch alle Pflanzen, Pilze und Algen umfasst. Trotz ihrer offenkundigen Vielfalt sind alle Eukaryonten aus Zellen aufgebaut, die den gleichen Grundbauplan haben, und dieser Bauplan unterscheidet sie von anderen Lebensformen. Nahezu ihre gesamte DNA ist in einem zentralen Zellkern verpackt, einer Struktur, die der Gruppe ihren Namen gibt – »Eukaryont« kommt aus dem Griechi schen und bedeutet »echter Kern«. Sie besitzen in ihrem Inneren ein »Skelett«, das als Stütze für ihre Struktur dient und Moleküle von einem Ort zum anderen transportiert. Und sie enthalten Mitochondrien, bohnenförmige Kraftwerke, die den Zellen ihre Energie liefern.

Diese Merkmale sind allen Eukaryonten gemeinsam, denn wir alle haben uns aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt, der vor rund 2 Milliarden Jahren lebte. Davor konnte man das Leben auf der Erde in zwei große Lager oder Domänen einteilen: die Bakterien, die wir bereits kennengelernt haben, und die Archaea, eine Gruppe von Lebewesen, die uns weniger vertraut ist und die eine Vorliebe für die Besiedelung unwirtlicher und extremer Lebensräume hat. Beide Gruppen bestanden aus einzelnen Zellen, denen die raffinierte Struktur der Eukaryonten fehlte. Sie hatten kein inneres Skelett, sie hatten keinen Zellkern, und sie hatten aus Gründen, mit denen wir uns in Kürze ausführlich beschäftigen werden, keine energieliefernden Mitochondrien. Außerdem sahen sie sich oberflächlich ähnlich, weshalb die Wissenschaftler ursprünglich glaubten, Archaea seien Bakterien. Aber das Äußere täuscht; die biochemischen Eigenschaften von Archaea und Bakterien sind so unterschiedlich wie die Betriebssysteme von PC und Mac.

Ungefähr während der ersten 2,5 Milliarden Jahre, in denen es Leben auf der Erde gab, gingen Bakterien und Archaea im Wesentlichen getrennte Evolutionswege. Dann, bei einer schicksalhaften Gelegenheit, verschmolz auf nicht genau geklärte Weise ein Bakterium mit einem Archaeon, gab sein frei lebendes Dasein auf und war für immer in seinem neuen Wirt gefangen. So entstanden nach Ansicht vieler Wissenschaftler die Eukaryonten. Das ist unsere Schöpfungsgeschichte: Zwei große Domänen des Lebendigen verschmolzen und schufen mit der größten Symbiose aller Zeiten eine dritte. Das Archaeon bildete das Grundgerüst der Eukaryontenzelle, und aus den Bakterien wurden im Laufe der Zeit die Mitochondrien.5

Dieser schicksalhaften Vereinigung entstammen alle Eukaryonten. Sie ist der Grund, warum unser Genom so viele Gene enthält, die in ihren Eigenschaften noch auf Archaea hindeuten, während andere eher denen von Bakterien ähneln. Auch ist sie der Grund, warum all unsere Zellen Mitochondrien enthalten. Durch die domestizierten Bakterien veränderte sich alles. Da sie zusätzliche Energie lieferten, konnten die Eukaryonten nun größer werden, mehr Gene anhäufen und eine kompliziertere Struktur annehmen. Das ist die Erklärung für das »schwarze Loch im Zentrum der Biologie«, wie der Biochemiker Nick Lane es nannte: die große Leere zwischen den einfacheren Zellen der Bakterien und Archaea auf der einen und den komplizierteren Eukaryontenzellen auf der anderen Seite. In 4 Milliarden Jahren gelang es dem Lebendigen genau ein Mal, diese Kluft zu überbrücken. Seitdem ist es den unzähligen Bakterien und Archaea auf der Welt, deren Evolution mit halsbrecherischer Geschwindigkeit abläuft, nie wieder gelungen, einen Eukaryonten hervorzubringen. Wie ist das möglich? Andere komplexe Strukturen – von Augen über Körperpanzer bis hin zum vielzelligen Körper – sind in der Evolution viele Male unabhängig voneinander entstanden, die Eukaryontenzelle aber ist eine einmalige Innovation. Nach Ansicht von Lane und anderen liegt das daran, dass die entscheidende Verschmelzung eines Archaeons und eines Bakteriums derart atemberaubend unwahrscheinlich war, dass sie sich nie wiederholt hat – oder zumindest nie erfolgreich. Indem die beiden Mikroorganismen ihre Vereinigung vollzogen, trotzten sie den Wahrscheinlichkeiten und machten die Existenz aller Pflanzen und Tiere möglich, von allem, das für das bloße Auge sichtbar ist – oder selbst Augen hat, wenn wir schon dabei sind. Sie ist der Grund, warum ich hier bin und dieses Buch schreiben kann, und warum Sie hier sind und es lesen können. In unserem imaginären Kalender ereignete sich die Verschmelzung irgendwann Mitte Juli. Dieses Buch handelt davon, was danach geschah.

 

Nachdem die Eukaryontenzellen entstanden waren, fingen manche von ihnen an, zusammenzuarbeiten und sich zusammenzulagern. So entstanden die vielzelligen Lebewesen wie Tiere und Pflanzen. Zum ersten Mal wurden Lebewesen groß – so groß, dass sie in ihrem Inneren riesige Lebensgemeinschaften von Bakterien und anderen Mikroorganismen beherbergen konnten.6 Diese Mikroben zu zählen ist schwierig. Häufig wird gesagt, in einem durchschnittlichen Menschen kämen auf jede menschliche Zelle ungefähr zehn Mikro organismen, sodass wir in unserem eigenen Körper zu einem Rundungsfehler werden. Aber dieses Verhältnis von 10 zu 1, das in Büchern, Zeitschriften, Konferenzbeiträgen und praktisch jedem wissenschaftlichen Übersichtsartikel zum Thema genannt wird, ist eigentlich nur eine grobe Vermutung; sie beruht auf einer provisorischen Berechnung, die unglücklicherweise als Tatsache festgeschrieben wurde.7 Neuesten Schätzungen zufolge enthalten wir rund 30 Billionen menschliche Zellen und 39 Billionen Mikroorganismen – womit ungefähr Gleichstand herrschen würde. Auch diese Zahlen sind ungenau, aber das spielt eigentlich keine Rolle: Wie man auch rechnet, wir enthalten Vielheiten.

Würden wir unsere Haut aus allernächster Nähe betrachten, so würden wir sie sehen: kugelförmige Perlen, würstchenähnliche Stäbchen und kommaförmige Bohnen, allesamt nur wenige Tausendstelmillimeter groß. Sie sind so klein, dass sie trotz ihrer gewaltigen Zahl zusammen nur wenige Kilo wiegen. Ein Dutzend oder mehr von ihnen könnte sich auf dem Durchmesser eines menschlichen Haares gemütlich nebeneinanderlegen. Eine Million könnten auf einem Stecknadelkopf tanzen.

Die meisten von uns werden diese winzigen Lebewesen mangels eines Mikroskops nie unmittelbar zu Gesicht bekommen. Wir bemerken nur ihre Auswirkungen, und zwar insbesondere die negativen. Wir spüren den schmerzhaften Krampf eines entzündeten Darms und hören das Geräusch eines unkontrollierbaren Niesens. Das Bakterium Mycobacterium tuberculosis können wir mit bloßem Auge nicht sehen, aber wir sehen den blutigen Auswurf eines Tuberkulosepatienten. Auch Yersinia pestis, ein weiteres Bakterium, ist für uns unsichtbar, aber die Pestepidemien, die es auslöst, sind nur allzu offensichtlich. Solche Pathogene – Mikroorganismen, die Krankheiten hervorrufen – haben die Menschen während ihrer gesamten Geschichte traumatisiert und eine immer noch nachwirkende kulturelle Narbe hinterlassen. Die meisten Menschen sehen in den Mikroben nur Keime, unerwünschte Überbringer von Seuchen, die wir um jeden Preis meiden müssen. In der Zeitung lesen wir regelmäßig beängstigende Berichte, in denen Alltagsgegenstände von Tastaturen über Handys bis zu Türklinken – keuch! – über und über von Bakterien bedeckt sind. Mehr Bakterien als auf einem Toilettensitz! Damit wird angedeutet, diese Mikroorganismen seien eine Verunreinigung und ihre Gegenwart ein Anzeichen für Schmutz, Vernachlässigung und Krankheitsgefahr. Solche Klischees sind zutiefst ungerecht. Die meisten Mikroorganismen sind keine Krankheitserreger. Sie machen uns nicht krank. Noch nicht einmal hundert Bakterienarten lösen beim Menschen ansteckende Krankheiten aus;8 dagegen sind die vielen Tausend Arten in unserem Darm in ihrer Mehrzahl harmlos. Im schlimmsten Fall sind sie blinde Passagiere oder Mitreisende. Bestenfalls jedoch sind sie ein unschätzbar wertvoller Bestandteil unseres Körpers: Sie nehmen ihm nicht das Leben, sondern hüten es. Die Mikroben verhalten sich wie ein verborgenes Organ, das ebenso wichtig ist wie der Magen oder das Auge, aber nicht aus einer einzigen, einheitlichen Masse besteht, sondern aus Billionen wimmelnder Einzelzellen.

Das Mikrobiom ist unendlich viel flexibler als die uns vertrauten Körperteile. Unsere Zellen enthalten zwischen 20.000 und 25.000 Gene, die Zahl der Gene in den Mikroorganismen in unserem Inneren liegt dagegen nach Schätzungen 500-mal höher.9 Dieser genetische Reichtum macht sie in Verbindung mit ihrer schnellen Evolution zu biochemischen Virtuosen, die sich auf praktisch jede erdenkliche Herausforderung einstellen können. Sie wirken an der Verdauung unserer Nahrung mit und setzen Nährstoffe frei, die ansonsten unzugänglich wären. Sie produzieren Vitamine und Mineralstoffe, die in unserer Ernährung fehlen. Sie bauen Giftstoffe und gefährliche Chemikalien ab. Sie schützen uns vor Krankheiten, weil sie gefährlichere Mikroorganismen zahlenmäßig überflügeln oder unmittelbar mit mikrobenhemmenden Wirkstoffen abtöten. Sie produzieren Substanzen, die sich auf unseren Geruchssinn auswirken. Ihre Gegenwart ist so unvermeidlich, dass wir erstaunliche Aspekte unseres Lebens in sie ausgelagert haben. Sie lenken den Aufbau unseres Körpers, indem sie Moleküle und Signale abgeben, die das Wachstum unserer Organe steuern. Sie erziehen unser Immunsystem und bringen ihm bei, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Sie wirken sich auf die Entwicklung des Nervensystems aus und beeinflussen vielleicht sogar unser Verhalten. Sie tragen auf tief greifende, vielfältige Weise zu unserem Leben bei; kein Winkel unserer Biologie bleibt von ihnen unberührt. Wenn wir sie nicht zur Kenntnis nehmen, betrachten wir unser Leben nur durchs Schlüsselloch.

Dieses Buch soll die Tür weit aufstoßen. Wir werden das unglaubliche Universum erkunden, das sich innerhalb unseres Körpers befindet. Wir werden etwas über die Ursprünge unserer Bündnisse mit Mikroorganismen erfahren, über die völlig unerwartete Art, auf die sie unseren Körper formen und unser Alltagsleben prägen, und über die Kunstgriffe, mit denen wir sie im Zaum halten und eine herzliche Partnerschaft sicherstellen. Wir werden uns ansehen, wie wir diese Partnerschaft manchmal unabsichtlich beeinträchtigen und damit unsere Gesundheit untergraben. Wir werden erfahren, wie wir solche Probleme rückgängig machen können, indem wir das Mikrobiom zu unserem Vorteil verändern. Und wir werden Geschichten über die vergnügten, fantasievollen, betriebsamen Wissenschaftler hören, die ihr Leben dem Ziel gewidmet haben, die Welt der Mikroorganismen zu verstehen, und das häufig angesichts von Hohn, Ablehnung und Fehlschlägen.

Dabei werden wir uns nicht nur auf die Menschen konzentrieren.10 Vielmehr werden wir erfahren, wie Mikroben auch Tiere mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, evolutionären Möglichkeiten und sogar mit ihren eigenen Genen ausgestattet haben. Der Wiedehopf, ein Vogel mit dem Profil einer Spitzhacke und den Farben eines Tigers, bestreicht seine Eier mit einer bakterienhaltigen Flüssigkeit, die er aus einer Drüse unterhalb des Schwanzes ausscheidet; die Bakterien setzen Antibiotika frei und verhindern so, dass gefährlichere Mikroorganismen in die Eier eindringen und die Jungen schädigen. Auch Blattschneiderameisen tragen antibiotikaproduzierende Mikroorganismen im Körper und desinfizieren mit ihnen die Pilze, die sie in ihren unterirdischen Gärten heranzüchten. Der stachelige, aufblasbare Kugelfisch benutzt Bakterien, um Tetrodotoxin herzustellen, eine außerordentlich giftige Substanz, die natürliche Feinde tötet, wenn sie versuchen, den Fisch zu fressen. Bakterien im Speichel des Kartoffelkäfers, eines wichtigen Schädlings, unterdrücken die Abwehrmechanismen der Pflanzen, die er frisst. Gestreifte Kardinalbarsche locken mit Leuchtbakterien, die sie im Körper tragen, ihre Beute an. Die Ameisenjungfer, ein Raubinsekt mit Furcht einflößenden Kiefern, lähmt ihre Opfer mit Giftstoffen, die von Bakterien im Speichel produziert werden. Manche Fadenwürmer töten Insekten, indem sie giftige Leuchtbakterien in deren Körper speien;11 andere bohren sich in Pflanzenzellen und verursachen mithilfe von Genen, die sie von Mikroben gestohlen haben, gewaltige Verluste in der Landwirtschaft.