Loe raamatut: «Edgar Allan Poe: Erzählungen»
Edgar Allan Poe
Edgar Allan Poe: Erzählungen
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Bon-Bon
Das Faß Amontillado
Das Geheimnis der Marie Rogêt
Das Manuskript in der Flasche
Das schwatzende Herz
Das Stelldichein
Das System des Dr. Teer und Prof. Feder
Der Doppelmord in der Rue Morgue
Der Duc de l'Omelette
Der entwendete Brief
Der Mann der Menge
Der Teufel im Glockenstuhl
Der Untergang des Hauses Usher
Des wohlachtbaren Herrn Thingum Bob
Die Brille
Die Maske des roten Todes
Die schwarze Katze
Die Sphinx
Die Tatsachen im Falle Waldemar
Eine Geschichte aus Jerusalem
Hinab in den Maelström
Hopp-Frosch
König Pest
Landors Landhaus
Lebendig begraben
Ligeia
Vier Tiere in einem
Von Kempelen und seine Entdeckung
Wassergrube und Pendel
William Wilson
Impressum neobooks
Bon-Bon
Quand un bon vin meuble mon estomac,
Je suis plus savant que Balzac,
Plus sage que Pibrac;
Mon bras seul faisant l'attaque
De la nation Cossaque,
La mettroit au sac;
De Charon je passerois le lac
En dormant dans son bac;
J'irois au fier Eac,
Sans que mon cœur fit tic ni tac,
Présenter du tabac.
Französisches Vaudeville.
Bon-Bon war ein Wirt von vielen Gaben. Keiner, der je im Cul-de-sac Lefebvre zu Rouen seine kleine Kneipe besuchte, wird es, glaube ich, bestreiten. Noch unbegreiflicher aber ist Pierre Bon-Bons Bewandertsein in der Philosophie seiner Zeit. Seine pâtés à la foie waren zweifellos von höchster Vortrefflichkeit; aber welche Feder könnte seinen Essays »Sur la Nature«, seinen Gedanken »sur l'Ame«, seinen Betrachtungen »sur l'Esprit« Gerechtigkeit widerfahren lassen! Wohl waren seine Omelettes und Frikandeaus unschätzbar, doch welcher damals lebende Schriftsteller hätte nicht doppelt soviel für eine »idée de bon-bon« gegeben als für den ganzen Ideenplunder aller übrigen »Weisen«? Bon-Bon hatte Bibliotheken durchstöbert, die noch niemand sonst durchforscht hatte, unwahrscheinlich viel gelesen und Dinge begriffen, deren Auffaßbarkeit jeder andere für ausgeschlossen gehalten hätte. Trotz alledem gab es selbst zu der Zeit, da er auf seiner Höhe war, Autoren in Rouen, die behaupteten, daß »seine Dikta weder die Klarheit der Akademiker noch die Tiefe der Lyzeisten« aufwiesen. Ich kann versichern, daß seine Lehren durchaus nicht allgemein verstanden wurden, obgleich daraus keineswegs gefolgert werden darf, daß sie schwer zu verstehen waren. Ich glaube, es war gerade ihre Selbstverständlichkeit, die sie vielen so verworren erscheinen ließ. Sagt es nicht weiter – aber selbst Kant verdankt im wesentlichen Bon-Bon seine metaphysischen Begriffe. Bon-Bon gehörte weder zur Schule Platos, noch, streng genommen, zu der des Aristoteles, noch verschwendete er, wie der neuzeitlichere Leibniz, kostbare Stunden, die der Erfindung eines Frikassees oder, in leichter Abstufung, der Analyse einer Empfindung gewidmet werden konnten, in leichtfertigen Versuchen, die unverträglichen Öle und Wasser einer Moraldisputation zu verbinden. Ganz und gar nicht. Bon-Bon war ionisch; Bon-Bon war aber auch italisch. Er überlegte a priori; er überlegte a posteriori. Seine Ideen waren angeborene oder erworbene. Er glaubte an Georg von Trapezunt, er glaubte an Bossarion. Bon-Bon war ganz überzeugt ein – Bonbonist.
Ich habe bereits davon gesprochen, wie hochbegabt der Philosoph als Wirt war. Es wäre aber falsch, wenn einer meiner Freunde mutmaßen wollte, daß der Held unserer Geschichte bei der Erfüllung seiner Standespflichten sich nicht vollständig ihrer Wichtigkeit und Würde bewußt gewesen wäre. Weit entfernt. Es war unmöglich zu sagen, auf welchen seiner »Berufe« er am meisten stolz war. Nach seiner Meinung waren die Geisteskräfte innig mit der Leistungsfähigkeit des Magens verbunden. Ich glaube, daß sich seine Auffassung fast mit der der Chinesen deckte, die der Meinung sind, der Aufenthaltsort der Seele sei der Bauch. Auf alle Fälle gab er den Griechen recht, die für Geist und Zwerchfell das gleiche Wort gebrauchten. Natürlich fällt es mir nicht bei, durch diese Äußerung die Metaphysiker der Schlemmerei oder ähnlicher Untugenden anzuklagen. Wenn Peter Bon-Bon seine Fehler hatte – und welcher große Mann hätte nicht tausende? – also, wenn Bon-Bon seine Schwächen hatte, waren sie sehr geringfügiger Art – Fehler, die bei anderen Naturen oft eher als Tugenden angesehen werden. Was nun die eine dieser Schwächen betrifft, so würde ich sie überhaupt hier nicht erwähnen, wenn sie nicht so außerordentlich hervorstechend, so sehr in alto rilievo aus der Ebene seines sonstigen Wesens herausragend gewesen wäre. Nie konnte er sich die Gelegenheit entschlüpfen lassen, Geschäfte zu machen.
Nicht, daß er habgierig gewesen wäre – o nein! Zum Vergnügen des Philosophen war es durchaus nicht notwendig, daß der Handel zu seinem eigenen Vorteil ausfiel. Wenn nur ein Geschäft zustande kam – irgendein Handel irgendwelcher Art unter irgendwelchen Bedingungen –, so erstrahlte tagelang sein Antlitz in triumphierendem Lächeln, und ein schlaues Augenzwinkern war der Verkünder seiner Klugheit.
Ein solches Benehmen würde sicher zu jeder Zeit die Aufmerksamkeit und das Befremden der Umwelt herausgefordert haben. Überaus erstaunlich aber wäre es gewesen, wenn diese Eigenheit zur Zeit unserer Erzählung nicht ganz besonders beachtet worden wäre. Bald lief ein Gerede herum, daß jedesmal dann das von Bon-Bon zur Schau getragene Lächeln sich grundsätzlich von dem Grinsen unterschied, wenn er seine eigenen Witze belachte oder einen akuten Bekannten begrüßte. Und aufregende Anspielungen wurden gemacht, auf gefährliche Handelsgeschäfte die schnell abgeschlossen und später bereut worden seien; und Umstände wurden des weiteren angeführt, die irgendwie den Beweis führen sollten für unverständliches Können, für unbestimmte Wünsche und unnatürliche Neigungen, die vom Urheber alles Übels zur Erreichung seiner eigenen klugen Zwecke in Bon-Bon eingepflanzt worden seien.
Der Philosoph hat andere Schwächen, aber sie sind kaum einer Betrachtung wert. Zum Beispiel gibt es wenige Männer von außerordentlicher Tiefe, denen eine Neigung zur Flasche fehlt. Ob diese Neigung die Ursache oder der Beweis dieser Tiefe ist, ist schwer zu sagen. Soweit ich im Bilde bin, hat Bon-Bon es nicht für nötig gehalten, die Frage gründlich zu durchdenken; ich stimme mit ihm überein. Ich halte es nicht für ausgemacht, daß der Restaurateur bei seiner Nachgiebigkeit gegen eine so wirklich klassische Neigung das intuitive Unterscheidungsvermögen verlor, welches zugleich seine Essays und seine Omelettes auszeichnete. In den Standen seiner Einsamkeit hatte der Burgunder seine Zeit, und auch für die Côtes du Rhône hatte er seine bestimmten Stunden. Sauternes und Médoc verhielten sich für ihn zueinander wie Catull und Homer. Er konnte mit Syllogismen spielen, während er St. Peray schlürfte, bei Clos de Vougeot war er analytisch, und der Chambertin baute ihm seine Theorien. Es wäre gut gewesen, wenn Bon-Bon diese abwägende Genauigkeit auch auf vorbesagte Handelsneigung ausgedehnt hätte. Aber das war keineswegs der Fall. Um die Wahrheit zu sagen, die Leidenschaft für den Handel begann bei unserm Philosophen allmählich immer intensiver und mystischer zu werden, und die Diablerie der deutschen Schriften, mit denen er sich beschäftigte, drückte seinem Denken immer mehr ihren Stempel auf.
Man schritt in das Heiligtum eines genialen Mannes, wenn man in jener Zeit die Kneipe im Cul-de-sac Lefebvre betrat. Bon-Bon war ein Genie. In ganz Rouen gab es nicht den kleinsten Koch, der nicht darauf geschworen hätte, daß Bon-Bon ein Genie sei. Sogar seine Katze wußte es und hörte auf mit dem Schweife zu wedeln, wenn er anwesend war. Seinem großen Neufundländer war die Tatsache ebenfalls wohl bekannt; wenn der Herr sich ihm näherte, so zeigte er deutlich sein Unterwürfigkeitsgefühl durch unschuldsvolles Benehmen, Niederhängen der Ohren und Herabfallenlassen des Unterkiefers, ein Benehmen, das eines Hundes würdig war. Andrerseits ist nicht zu leugnen, daß viel von dem dem Metaphysiker gezollten Respekt auf die Einwirkung seiner persönlichen Erscheinung zurückzuführen war. Meiner Meinung nach beeinflußt ein auffallendes Äußere sogar das Tier; und ich muß zugeben, daß in der Erscheinung Bon-Bons sehr viel dazu angetan war, die Einbildungskraft eines Vierfüßlers anzuregen. Die kleinen Großen (sofern es mir gütigst gestattet ist, diesen Ausdruck anzuwenden) tragen oft etwas Majestätisches zur Schau, ein Eindruck, den die Körpergröße an und für sich nicht hervorzubringen vermag. Wenn Bon-Bons Länge auch nicht mehr als drei Fuß betrug, wenn sein Kopf auch winzig klein war, so war es doch beim Anblick der Rundung seines Bauches unmöglich, sich eines Gefühls der Ehrerbietung, ja der Verehrung zu erwehren. In seiner Gestalt müssen Hunde und Menschen eine Verkörperung des Geistes, in seinem Umfang eine passende Behausung für seine unsterbliche Seele erblickt haben.
Ich könnte, wenn es mir Freude machte, nun auf Fragen des Aufputzes oder andere gleichgültige Äußerlichkeiten unseres Helden eingehen. Ich könnte sein Haar erwähnen, das kurz getragen und leicht über die Stirne gekämmt war und das eine kegelförmige, weiße, mit Quasten ausgezierte Flanellmütze überrag; ich könnte anführen, daß seine erbsengrüne Weste nicht den Schnitt zeigte, der bei den anderen Restaurators jener Zeit üblich war; daß die Ärmel etwas weiter waren, als die herrschende Mode vorschrieb; daß seine Manschetten nicht, wie es in jener barbarischen Geschmacksperiode üblich war, einen Umschlag von gleicher Farbe und Qualität wie der Anzug zeigten, sondern daß sie in zierlicher Weise mit dem verschiedenfarbig abgetönten Sammet von Genua überkleidet waren; daß seine Pantoffeln ein strahlendes Purpurrot in Durchbruchsarbeit zeigten und solch raffiniert spitze Form, solch herrliche Tönungen in Einfassung und Stickerei aufwiesen, daß man den Eindruck gewann, sie seien in Japan angefertigt; daß seine Kniehosen aus dem gelben atlasartigen Stoffe waren, den man »aimable« nannte, daß sein himmelblauer Überrock einem Morgenrock ähnlich, reich mit Hochrot gemustert und verziert war und so stolz um seine Schultern wallte, wie Morgennebel; daß sein »tout ensemble« die Benvenuta, eine florentinische Improvisatrice, zu der bemerkenswerten Äußerung veranlaßte: »Es ist schwer zu sagen, ob Bon-Bon ein Paradiesvogel oder die Vollkommenheit des Paradieses selbst ist.« Ich könnte, wie gesagt, über all diese Punkte weitläufig sprechen, aber ich enthalte mich solcher Ausführlichkeit; solche persönlichen Einzelheiten gehören ins Gebiet der historischen Novelle, sind aber unter der sittlichen Würde nüchterner Tatsachenschilderung.
Ich habe vorher gesagt, daß »man in das Heiligtum eines genialen Mannesschritt, wenn man die kleine Kneipe im Cul-de-sac betrat«; aber nur geniale Leute konnten die Vorzüge des Heiligtums richtig würdigen. Ein Aushängeschild in Gestalt eines großen Foliobandes schwebte vor der Eingangstür. Auf dem einen Deckel erblickte man eine gemalte Flasche, auf dem anderen eine Pastete, auf dem Buchrücken stand in großen Buchstaben »Oeuvres de Bon-Bon«. Auf diese Weise war der zwiefache Beruf des Besitzers zart angedeutet.
Beim Überschreiten der Schwelle hatte man sofort eine vollständige Übersicht über das Hausinnere. Das ganze Café enthielt nur einen einzigen, langgestreckten, niedrigen Raum von altertümlicher Bauweise. In einer Ecke des Zimmers stand das Bett des Metaphysikers. Eine Vorhangumkleidung und ein Betthimmel à la grecque gaben der Lagerstatt ein zugleich klassisches und behagliches Aussehen. In der Ecke, die der vorgenannten diagonal gegenüber lag, erschienen in engster Verbindung die Küchengeräte und die Bibliothek. Auf der Anrichte stand friedlich eine Platte mit polemischen Schriften. Hier lag ein Ofen voll ethischer Veröffentlichungen, dort ein Kessel voller Aufsätze in Duodezformat. Deutsche Moralschriften lagen in innigster Nachbarschaft beim Rost; Plato dehnte sich behaglich in der Bratpfanne; auf dem Spieß steckten zeitgenössische Manuskripte.
In anderer Beziehung jedoch unterschied sich Bon-Bons Kneipe wenig von den Durchschnittsrestaurants jener Periode. Gegenüber der Türe gähnte ein großer Kamin. Und rechts von diesem Kamin stellte ein offener Schrank eine stattliche Reihe von etikettierten Flaschen zur Schau.
Es war eines schönen Abends im harten Winter des Jahres –. Pierre Bon-Bon hatte den Bemerkungen seiner Nachbarn über seine eigentümliche Schwäche für den Handel zugehört und sich endlich von ihnen befreit, indem er ihnen nahelegte, nach Hause zu gehen; dann verriegelte er, eine Verwünschung vor sich hin murmelnd, die Tür und überließ sich in nicht gerade rosigster Laune der Bequemlichkeit, die ihm ein lederner Armstuhl und ein loderndes Feuerboten.
Es war eine jener grausigen Nächte, wie sie nur ein- oder zweimal im Laufe eines Jahrhunderts vorkommen. Der Schnee wirbelte in dichten Flocken, und das Haus erbebte bis in seine Grundfesten bei den Stößen des Windes, die in alle Risse und Ritzen der Mauern drangen, heulend den Kaminschlot herabfuhren, die Vorhänge am Bett des Philosophen unheimlich hin- und herwehen ließen und die Ordnung in seinen Pastetengeräten störten. Das große Schild, das draußen im wütenden Sturmwinde hin- und herschwankte, knarrte unheilverkündend, und ein schauriges Ächzen ging von seinen alten Eichenstützen aus.
Wie ich schon gesagt habe, rückte der Metaphysiker seinen Stuhl nicht gerade in der rosigsten Laune an seinen gewohnten Platz am Herde. Viele Umstände verwirrender Art hatten sich im Laufe des vergangenen Tages vereinigt, um seine Seelenruhe zu stören. Beim Versuche, Oeufs à la Princesse zuzubereiten, hatte er das Versehen begangen, eine Omelette à la Rheine zu machen; die Entdeckung eines ethischen Prinzips war durch das Überlaufen eines Stews zunichte gemacht worden; und was am schlimmsten war, eines jener bewundernswerten Handelsgeschäfte, deren erfolgreicher Abschluß ihm so sehr am Herzen lag, war ihm durchkreuzt worden. Aber seiner inneren Aufregung diesen seltsamen Wechselfällen gegenüber war bis zu einem gewissen Grade jene nervöse Beklemmung beigemischt, die durch die Wildheit einer stürmischen Nacht so leicht ausgelöst wird. Er pfiff den großen schwarzen Hund zu sich her, damit er ihn in seiner unmittelbaren Nähe habe, warf sich mit dem Gefühl des Unbehagens in seinen Stuhl und konnte sich nicht enthalten, seine Augen vorsichtig und unruhig in jene entfernteren Winkel des Raumes wandern zu lassen, deren schwer durchdringliche Schatten nicht einmal durch das rote Licht des Feuers völlig verdrängt werden konnten. Nachdem er diese Durchforschung des Raumes, deren eigentlicher Zweck ihm selbst vielleicht nicht ganz klar war, beendigt hatte, zog er einen kleinen, mit Büchern und Papieren bedeckten Tisch zu sich heran und war bald in die letzte Durchsicht eines dicken Manuskripts vertieft, das am nächsten Morgen veröffentlicht werden sollte.
Diese Beschäftigung dauerte kaum einige Minuten, als eine weinerliche Stimme plötzlich durch den Raum flüsterte: »Mir eilt es ganz und gar nicht, Herr Bon-Bon.«
»Zum Teufel!« stieß unser Held hervor, indem er aufsprang, den Tisch an seiner Seite umstieß und erstaunt im Zimmer umherstarrte.
»Stimmt genau.« antwortete die Stimme in größter Ruhe.
»Stimmt genau! – was stimmt genau? Wie kamen Sie hier herein?« schrie der Metaphysiker, als sein Blick auf ein gewisses Etwas fiel, das lang ausgestreckt auf dem Bette lag.
»Ich habe gesagt,« sprach der Eindringling, ohne auf die Fragen zu achten, »ich habe gesagt, daß ich es ganz und gar nicht eilig habe. Das Geschäft, um derentwillen ich mir die Freiheit genommen habe, vorzusprechen, ist nicht von so großer Dringlichkeit – kurz, ich kann sehr wohl warten, bis Sie Ihre Darlegungen dort vollendet haben.«
»Meine Darlegungen! – nun aber! – wieso wissen Sie denn? Wie kamen Sie dazu, zu wissen, daß ich Darlegungen schreibe? Gütiger Himmel?«
»Pst!« antwortete der andere, mit merkwürdig schriller Stimme, sprang vom Bette auf und machte einen einzigen Schritt auf unseren Helden zu. Eine eiserne Lampe, die von oben herabhing, zuckte bei seiner Annäherung zurück.
Die Überraschung des Philosophen hinderte ihn nicht, Erscheinung und Kleidung des Fremden genau zu mustern. Die Umrisse der äußerst dürren, aber übermenschlich hohen Gestalt wurden deutlich hervorgehoben durch einen schäbigen Anzug aus schwarzem Tuch, der, abgesehen davon, daß er dem Körper ganz eng anlag, ziemlich nach der Mode des verflossenen Jahrhunderts geschnitten war. Diese Kleidung war offenbar für eine viel kleinere Gestalt als die des nunmehrigen Besitzers bestimmt gewesen. Seine Fuß- und Handknöchel ragten ein paar Zoll weit aus der Bekleidung hervor. Die glänzenden Schnallen seiner Schuhe straften jedoch den Eindruck Lügen, der durch die Armseligkeit seines übrigen Äußeren hervorgerufen wurde. Sein Kopf war unbedeckt und vollständig kahl, mit Ausnahme des hinteren Teiles, von dem ein Zopf in respektabler Länge herabhing. Eine grüne Brille mit Seitengläsern schützte seine Augen vor der Einwirkung des Lichtes und hinderte zugleich Bon-Bon daran, die Farbe oder die Form derselben festzustellen. An der Persönlichkeit war nichts die Spur von einem Hemd zu erblicken, hingegen schlang sich um seinem Hals eine mit außerordentlicher Genauigkeit gewundene Krawatte, deren beide Enden feierlich dicht nebeneinander herabhingen und so (meiner Überzeugung nach allerdings unabsichtlich) den Eindruck erweckten, man habe einen Geistlichen vor sich. Sowohl in seinem Benehmen als auch in seiner Erscheinung zeigte sich außerdem noch manches, was diesen Eindruck bestätigen konnte. Hinter seinem linken Ohre steckte nach Art und Gewohnheit moderner Schreiber ein Ding, das dem Stylus der Alten ähnlich war. Aus einer Brusttasche seines Rockes lugte deutlich ein kleiner, schwarzer, mit stählernen Klammern zusammengehaltener Band hervor. Ob aus Absicht oder nicht, jedenfalls war dieses Buch auf eine Weise in die Tasche gesteckt, daß die in weißen Buchstaben auf den Rücken aufgedruckten Worte »Rituel Catholique« sichtbar wurden. Sein Gesicht flößte durch einen seltsam finsteren Ausdruck und eine leichenhafte Blässe Interesse ein. Die hohe Stirn war von tiefen Falten gefurcht, die auf andauerndes Nachdenken schließen ließen. Die Mundwinkel waren herabgezogen, so daß der Mund einen Ausdruck unterwürfigster Demut zur Schau trug. Als er nun mit gefalteten Händen, tiefem Seufzern und Blicken innigster Frömmigkeit auf unseren Helden zuschritt, machte er einen unzweifelhaft fesselnden Eindruck. Auch der letzte Schatten von Ärger verschwand vom Antlitz unseres Metaphysikers, als er nach einer offenbar zufriedenstellenden Inspektion seinem Besucher die Hand schüttelte und ihm einen Sitz anbot. Es würde jedoch ein schwerer Irrtum sein, wollte man den plötzlichen Wechsel der Gefühle bei unserem Philosophen einem der Gründe zuschreiben, die man logischerweise als ausschlaggebend annehmen könnte. Aus allem, was uns über die Veranlagung Pierre Bon-Bons bekannt ist, geht klar hervor, daß gerade er unter allen Menschen am wenigsten dazu neigte, sich durch äußeren Schein imponieren zu lassen. Ein so scharfer Beobachter der Menschen und der Dinge mußte natürlich sofort das wahre Wesen desjenigen erkennen, der sich auf solche Weise das Gastrecht bei ihm angemaßt hatte. Noch mehr: die Fußbildung des Besuchers war auffallend genug; auf seinem Kopfe saß ein ungewöhnlich hoher Hut; an der Hinterseite seiner Kniehosen war eine bewegliche Beule bemerkbar, und die Schwingung seiner Rockschöße war eine handgreifliche Tatsache. Man beurteile also, mit welcher Befriedigung unser Held sich plötzlich in die Gesellschaft einer Persönlichkeit verseht sah, vor der er schon immer die höchste Achtung empfunden hatte. Er war jedoch zu sehr Diplomat, um sich eine Andeutung darüber entwischen zu lassen, daß er den wahren Stand der Dinge ahne. Es paßte nicht in seinen Plan, zu zeigen, daß er die hohe Ehre, deren er so unverhofft teilhaftig geworden war, empfinde; sondern er hielt es für vorteilhafter, seinen Gast in ein Gespräch zu verwickeln, um den einen oder andern Gedanken über Ethik aus ihm zu ziehen und diesen Gedanken in seiner beabsichtigten Veröffentlichung zu verwerten zur Aufklärung der Menschheit und zu Nutz und Frommen seiner eignen Unsterblichkeit. Wir müssen hinzufügen, daß das hohe Alter und die anerkannt hervorragende wissenschaftliche Stellung des Besuchers diesen wohl in den Stand setzten, moralische Gedanken von hohem Werte hervorzubringen.
Diese glänzenden Zukunftsträume erweckten den Tätigkeitstrieb unseres Helden, er forderte den Ankömmling auf, sich niederziehen, und nahm die Gelegenheit wahr, einige Blöcke Holz auf die Flammen zu werfen, einige Flaschen Champagner auf den jetzt freigewordenen Tisch zu stellen. Als diese Vorbereitungen flink beendigt waren, rückte er seinen Stuhl dem seines Gefährten gegenüber und wartete, bis jener die Unterhaltung beginne. Aber Pläne schlagen häufig fehl, wenn sie auch noch so reiflich überlegt sind, oft sogar beim ersten Versuch, sie zur Ausführung zu bringen, und der Wirt befand sich bereits bei den ersten Worten seines Gastes in der Klemme. »Ich sehe, du kennst mich, Bon-Bon,« sagte er, »ha! ha! ha! – he! he! he! – hi! hi! hi! – ho! ho! ho! – hu! hu! hu!« – und der Teufel ließ auf einmal die Heiligkeitsmaske fallen, riß seinen Mund von Ohr zu Ohr auf, so weit ihm dies irgend möglich war, zeigte ein zackiges Gebiß mit großen, hauerartigen Zähnen, warf den Kopf zurück und lachte ein böses, lautes, wieherndes und dröhnendes Lachen, so daß der schwarze Hund sich aufrichtete und kräftig in den Chor mit einstimmte, während die getigerte Katze mit einem Sprunge in den äußersten Winkel des Raumes setzte und von dort aus ein klägliches Miauen hören ließ.
Ganz anders war das Benehmen des Philosophen. Er war zu sehr Mann von Welt, um sich an den Gefühlsäußerungen des Hundes oder an den eine ungehörige Furcht verratenden Schreien der Katze zu beteiligen. Es darf immerhin nicht verschwiegen werden, daß Bon-Bon ein Gefühl des Erstaunens nicht ganz unterdrücken konnte, als er die weißen Buchstaben, die auf dem in der Tasche des Gastes steckenden Buche die Worte »Rituel Catholique« bildeten, plötzlich ihren Sinn und ihre Farbe verändern sah, so daß anstelle des ursprünglichen Titels mit einem Schlage die Worte »Registre des Condamnés« ihm in roten Lettern entgegenfunkelten. Diesem aufregenden Umstand ist es wohl zuzuschreiben, daß die Antwort auf die Bemerkung des Gastes in einem sonst bei Bon-Bon nie gehörten Tone von Verlegenheit gegeben wurde.
»O, mein Herr,« sagte der Philosoph, »o, mein Herr, ehrlich gesagt, glaube ich, Sie sind – auf mein Ehrenwort – der Leibh ... selbst – das heißt, ich glaube – ich denke–ich habe einen schwachen – ich habe einen sehr schwachen Begriff – von der überwältigenden Ehre – – –«
»O! – ah! – ja! – sehr gut!« unterbrach hier Seine Majestät; »bemühe dich nicht weiter, ich sehe wie die Dinge liegen.« Darauf nahm er seine grüne Brille ab, wischte sorgfältig die Gläser mit dem Ärmel seines Überrockes und steckte die Brille in die Tasche.
War Bon-Bon schon über das Erlebnis mit dem Buche erstaunt gewesen, so nahm seine Verblüffung wesentlich zu bei dem Schauspiel, das sich nun seinen Augen darbot. Als er mit dem Gefühl lebhafter Neugier seine Blicke erhob, um die Augenfarbe seines Gastes festzustellen, fand er sie entgegen seinen Erwartungen weder schwarz noch grau, wie es schließlich auch seinen Vorstellungen entsprochen hätte, weder gelb noch rot noch violett noch weiß noch grün noch von irgendeiner oben im Himmel oder unten auf Erden oder im Wasser unter der Erde auffindbaren Farbe. Kurz, Pierre Bon-Bon sah nicht nur, daß Seine Majestät überhaupt keine Augen hatte, sondern er konnte auch keine Spuren von einer früheren Anwesenheit derselben entdecken; denn der Platz, welchen die Natur den Augen sonst anweist, war einfach eine – Fleischfläche.
Es lag aber nicht in der Natur des Metaphysikers, sich der Frage zu enthalten, woher dieses außergewöhnliche Verhalten stamme; und Seine Majestät antwortete würdig, befriedigend und ohne Zögern.
»Augen? mein lieber Bon-Bon, Augen? Sagtest du nicht so? – oh! – ah! – Ich verstehe. Die lächerlichen Drucke, die im Umlauf sind, haben dir eine falsche Vorstellung von meinem Äußeren beigebracht. Augen, Pierre Bon-Bon, sind gut und schön an ihrem richtigen Orte – der ist, wie du behaupten möchtest, der Kopf? Richtig – der Kopf eines Wurms. Auch dir sind diese Sehwerkzeuge unentbehrlich, ich werde dich aber überzeugen, daß meine Sehkraft durchdringender ist als die deine. In der Ecke dort sehe ich eine Katze, eine hübsche Katze; sieh sie dir an, beobachte sie gut. Nun, Bon-Bon, kannst du ihre Gedanken erkennen – die Gedanken, sage ich, die Überlegungen, die Vorstellungen, die sich in ihrem Schädel entwickeln? Da hast du's ja – du kannst es nicht. Sie denkt, daß wir die Länge ihres Schwanzes und die Tiefgründigkeit ihres Gemütes bewundern. Sie ist eben mit sich darüber ins reine gekommen, daß ich der ausgezeichnetste aller Priester bin und daß sie in dir den oberflächlichsten aller Metaphysiker erblickt. Du siehst also, daß ich keineswegs ganz blind bin; aber für einen meines Standes würden die Augen, von denen du sprichst, nur eine Last und im übrigen jederzeit der Gefahr ausgesetzt sein, durch eine Röstgabel oder durch eine Ofengabel aus den Höhlen gerissen zu werden. Ich gestehe allerdings zu, daß dir diese optischen Dinger hier unentbehrlich sein mögen. Bemühe dich also, Bon-Bon, sie gut zu gebrauchen; – meine Sehkraft aber liegt im Innern.«
Hierauf schenkte sich der Gast von dem Weine ein, der auf dem Tische stand, schenkte auch Bon-Bons Humpen voll und forderte ihn auf, ohne Bedenken zu trinken und sich ganz wie zu Hause zu fühlen.
»Dein Buch hier ist tatsächlich hervorragend, Pierre«, mit diesen Worten nahm Seine Majestät die Unterhaltung wieder auf und klopfte ihrem Freund verständnisvoll auf die Schulter, gerade als letzterer sein Glas niedersetzte, nachdem er seine unbedingte Zustimmung zur Rede des Gastes zu erkennen gegeben hatte. »Dein Buch ist gut gemacht, auf Ehre, es ist ein Werk nach meinem Sinne. Immerhin könnte, meiner Meinung nach, in der Sache noch manches verbessert werden, und manche Begriffe erinnern an Aristoteles. Dieser war einer meiner allerintimsten Bekannten. Ich hatte eine große Zuneigung zu ihm wegen seines schrecklich schlechten Charakters und wegen seiner herrlichen Fertigkeit, Verwirrung anzurichten. Nur eine wirklich begründete Wahrheit ist in allem zu finden, was er schrieb, und die habe ich ihm eingegeben aus purem Mitleid mit seiner Albernheit. Ich vermute, Pierre Bon-Bon, daß du wohl weißt, von welcher herrlichen Lehre hier die Rede ist?«
»Ich kann nicht behaupten, daß ich – – –«
»Wirklich? Nun, ich war es, der Aristoteles beibrachte, daß die Menschen durch das Niesen überschüssige Gedanken auf dem Wege des Gesichtsvorsprunges entfernen.«
»Und das ist – hup! – zweifellos auch der Fall«, sagte der Metaphysiker, füllte sich zu gleicher Zeit seinen Humpen aufs neue mit Champagner und bot dem Gaste seine Schnupftabaksdose hin.
»Auch zu Plato,« fuhr Seine Majestät fort, indem Sie die Schnupftabaksdose und das damit verbundene Kompliment bescheiden ablehnte, »auch zu Plato fühlte ich einst freundschaftliche Zuneigung. Du kennst Plato, Bon-Bon? – Ah, nein, bitte tausendmal um Entschuldigung. Er traf mit mir eines Tages im Parthenon von Athen zusammen und sagte mir, daß er um eine Idee verlegen sei. Ich forderte ihn auf, niederzuschreiben, daß ὁ νους ἐστιν αὐλος. Er sagte, dies würde er tun und ging nach Hause, während ich mich hinüber zu den Pyramiden begab. Aber mein Gewissen strafte mich, weil ich eine Wahrheit geäußert hatte, wenn auch nur, um einem Freunde zu helfen. Ich eilte zurück nach Athen und kam hinter dem Stuhle des Philosophen an, als er gerade das Wort αὐλος niederschrieb.
Nun gab ich schleunigst dem Lambda einen Nasenstüber mit meinem Finger, so daß es auf dem Kopfe stand. Der Satz steht also jetzt folgendermaßen da: ὁ νους ἐστιν αὐγος und dieser Satz ist, wie dir bekannt sein wird, die Grunddoktrin seiner metaphysischen Schriften.«
»Waren Sie jemals in Rom?« fragte der Restaurateur, als er seine zweite Flasche Champagner austrank und für eine genügende Zufuhr von Chambertin sorgte.
»Nur einmal, Herr Bon-Bon, nur ein einziges Mal,« sprach der Teufel in einem Tone, als sagte er etwas Auswendiggelerntes her. »In früheren Zeiten herrschte dort fünf Jahre lang Anarchie. Während dieser Zeit war die Republik aller ihrer Beamten beraubt und hatte keine Oberleitung außer der der Volkstribunen, denen aber keinerlei Exekutivmacht zuband; damals, Herr Bon-Bon, damals war ich zum einzigen Male in Rom, und so kann ich keinerlei irdische Verbindung mit den dortigen Philosophen haben.«
»Wie denken Sie über – wie denken Sie über – hup! – Epikur?«
»Was ich über wen denke?« rief der Teufel im Tone höchstens Erstaunens. »Es fällt Ihnen doch wohl kaum bei, Epikur irgendwie zu tadeln. Was ich über Epikur denke. Meinen Sie mich damit, Herr? – Ich bin Epikur. Ich bin derselbe Philosoph, der jene hundert Abhandlungen erfaßte, die Diogenes Laertes bewahrte.«
»Das ist eine Lüge.« schrie der Metaphysiker, denn der Wein war ihm ein wenig zu Kopfe gestiegen.