Loe raamatut: «Esta Sola. Sind Sie allein?»

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Elke Weickelt, 1953 in Oldenburg i.O. geboren, wuchs in Hannover auf. Nach dem Abitur studierte sie Medizin in Kiel und reiste danach ein Jahr mit dem Rucksack durch Südostasien. Anschließend arbeitete sie an einem großen Psychiatrischen Krankenhaus in Süddeutschland, machte ihren Facharzt und promovierte über Alzheimer Demenz. Danach war sie in der Klinik nur noch halbtags tätig, um Kunst zu studieren. Nach Abschluss des Studiums arbei­tete sie hauptberuflich als Bildende Künstlerin, Teilzeit weiter in der Psychiatrie. Ihre Reise nach Südamerika startete sie, nachdem sie als Ärztin berentet war.

Elke Weickelt

Esta sola

Sind Sie allein?

Ein Jahr durch Südamerika

Ein Reisebericht

LINDEMANNS

Vorwort

Warum reisen? Das ist mein Traum. Wenn ich nicht mehr arbeiten muss, möchte ich mich zeitlos auf den Weg nach Südamerika machen. Mit 65 Jahren, mindestens ein Jahr ohne Rückflugticket, alleine mit wenig Gepäck. Nicht reisen, sondern sein, nicht planen, sondern alles auf mich zukommen lassen, alles offen, nichts festgelegt, keine Verpflichtungen. Ohne Kalender, ohne Zeitdruck. Die Länder Lateinamerikas kennenlernen, die Natur, die Menschen, die Verhältnisse.

Reisende sein, obwohl ich Touristen nicht mag, aber dennoch unter Fernweh leide. Zeitlos unterwegs sein heißt, nicht schon beim Aufbruch an die Rückkehr denken.

So beginnt mein letzter Lebensabschnitt. Ich muss gar nichts mehr. Das Einzige, was ich jetzt noch muss, ist sterben. Aber ich kann mich noch auf den Weg machen, unterwegs sein, die Welt kennenlernen, Neues suchen, Neues finden, mich erfahren, fühlen, Menschen begegnen. Ich bin gesund, keiner weiß, wie lange noch, und dafür bin ich dankbar. Jetzt werde ich diesen meinen Traum verwirklichen. Nicht morgen, nicht im nächsten Jahr – jetzt. Und was träume ich da eigentlich?

„Das Unsagbare finden – das Wirkende, des der Verstand nicht habhaft wird – denn es ist und kann nur im Sein erkannt werden.“ Das gibt mir meine Freundin Gudrun mit auf den Weg.

Gudrun treffe ich kurz vor meiner Abreise auf einer Vernissage. Sie kann sich so gut in Kunst einfühlen. Sie lebt in Hannover und arbeitet als Psychotherapeutin. Sie geht jetzt auch in Rente, sie ist über 70.

„Ja, was ist das Unsagbare?“, frage ich sie. Gudrun zitiert nicht, sie findet diese Sätze, obwohl ja natürlich alles Inhaltliche nicht neu ist und schon gedacht wurde, so wie alles Gemalte irgendwann auch schon einmal gemalt wurde.

Gudrun meint, unser Schicksal ist schon festgelegt, vorbestimmt. Wir erfüllen es, indem wir leben. Wir sind damit auch ein Teil vom ganzen Strom des Lebens. Wir leben unser Schicksal und dann können wir es erkennen, sozusagen retrospektiv.

Die Erkenntnis nur retrospektiv? Eine interessante Idee – natürlich – eigentlich logisch. Erst muss etwas da sein, erfahren sein, erlebt sein, bevor man es erkennen kann. Wie ist das in der Naturwissenschaft und in der Philosophie? Brauchen wir überhaupt Erkenntnis? Wir können das auch lassen. Das ist dann vielleicht noch einfacher und nicht so anstrengend. Tiere brauchen das auch nicht.

Was bedeutet der Satz, das Unsagbare finden, das nur im Sein erkannt wird? Sie meint, es sei wohl ein Spiegel auf mich, auf mein Vorhaben. Damit kann ich etwas anfangen und es hat in der Tat viel mit meinem Unterwegs – Sein zu tun.

Ich möchte nicht reisen, sondern sein. Ich reise nicht, ich bin. Ja, was ist dann der Unterschied? Natürlich reise ich auch. Aber ohne Zeitplan. Diese Zeitlosigkeit, das One-Way-Ticket sind meine Basis. Ich kann bleiben, wenn ich will und wo ich will und wie lange ich will.

Eine andere Freundin von mir spricht immer vom So-sein und Da-sein, das erinnert mich an den so vielfach gebrauchten Begriff vom Hier und Jetzt, den alle möglichen Ideologen und Welterklärer als einfache Regel zum Glücklichsein preisen.

So-sein ist „Ich“ mit allem, was dazu gehört, und Da-sein ist einfach „hier jetzt“ leben.

Mir gefällt das, es befreit mich von weiteren philosophischen Ausflügen und quälenden Recherchen über Vergangenheit und Zukunft. Damit erübrigt sich die Unfrage nach dem Sinn des Lebens.

Seneca sagt: Alle Menschen existieren, aber nur die wenigsten leben. Die Angst, nicht gelebt zu haben ist größer als die Angst vor dem Tod. Aber was heißt das? Für mich heißt leben auch der Zustand der Selbstvergessenheit, wie ihn Kinder haben und Erwachsene ihn sich mühsam „erarbeiten“ müssen. Wenn mir das gelingt, erfüllt es mich mit einer tiefen Zufriedenheit.

Und ja, ich werde allein reisen, auf Spanisch: „sola“. Erst einmal gibt es niemand, der mich begleiten könnte. Zeitlos – darauf lässt man sich nicht so einfach ein. Das birgt nur Unsicherheit in jeder Beziehung. Und jeder hat so viel zu tun zuhause, einen Terminkalender und sogenannte Verpflichtungen.

Und es müsste ja auch passen, in den Gewohnheiten, den Bedürfnissen, den Interessen. Obwohl ich mich ja für einen flexiblen und toleranten Menschen halte – ja doch, kann man vielleicht so sagen, habe ich vor dieser Reise eine einschneidende Erfahrung gemacht.

Eine alte Schulfreundin hatte mir vor einem Jahr, als ich ihr von meinem Plan erzählte, signalisiert: Oh, ich gehe zum selben Zeitpunkt in Rente, ich hätte große Lust mitzukommen.

Gut, dann erproben wir, ob wir zusammenpassen. Wir haben eine Woche Bilbao gebucht, ein Appartement und wollten schauen, wie es läuft.

Ja also, als wir am Flughafen waren, wollte sie mit dem Taxi in die Stadt. Viel zu teuer, völliger Quatsch, alle zehn Minuten fährt ein Bus. Ok. Im Zentrum sind wir ausgestiegen, 20 Minuten zu Fuß zur Unterkunft. Ein traumhaftes Wetter, ein schöner Gang durch die Altstadt. Wir nehmen ein Taxi – warum? Wir können laufen.

Das Laufen ist dann gescheitert, weil eine Rolle von ihrem Rollkoffer abgebrochen ist, weil der Koffer viel zu schwer war für eine Woche, weil ihr der Rücken wehtat. Wir haben ein Taxi genommen. Ich erzähle nur noch drei weitere Episoden dieses Aufenthaltes, das muss dann reichen, die Antwort auf die Ursprungsfrage erübrigt sich damit. Die Menschen sind eben so unterschiedlich.

Am nächsten Tag zu Fuß am Fluss entlang ins Museum, 30 Minuten Dauer. Kein Taxi, ok. Nach zehn Minuten eine Blase am Fuß, laufen erschwert bis unmöglich. Wie soll man da eine Stadt entdecken?

Jeden Abend E-Mails checken statt die Altstadt erkunden.

Dann Busfahrt nach San Sebastian, eine Stunde 15 Minuten. Nach 20 Minuten wurde ihr schlecht: Beim Busfahren wird mir immer übel. Meine Frage. Wie willst Du durch Südamerika reisen?

Ich sage nichts mehr. Sie musste sich vorne neben den Fahrer setzen, der einmal anhalten musste zum Kotzen.

Na ja, das reicht. Wir hatten dann kaum noch Kontakt. Es ist nicht so, dass ich das verurteile, aber für mich passt es eben nicht.

Und zu zweit zu reisen oder gar zu mehreren ist etwas ganz anderes, kein Vergleich. Niemals ist man so auf sich selbst zurückgeworfen, wie wenn man alleine unterwegs ist. Niemals lernt man so viele Menschen kennen, wirklich kennen, wie wenn man alleine ist. Niemals ist Selbstständigkeit, auch die seelische, so wichtig und niemals ist Kreativität so gefragt, wie wenn man alleine ist.

Abgesehen davon habe ich mich niemals alleine gefühlt, aber dazu später mehr.

„Ja, und hast Du keine Angst?“, werde ich immer wieder gefragt. Südamerika, Kriminalität, Überfälle, Drogen, schlechtes Gesundheitssystem, vielleicht doch Verständigungsschwierigkeiten? Als Frau alleine? Einsamkeit? Machos, Anmache und sexuelle Übergriffe?

Lieber Gott, ich bin alt. Nein, ich habe keine Angst. Vielleicht doch ein bisschen. Wovor? Sicher nicht vor den Menschen. Ein bisschen Angst habe ich davor, dass ich krank werde. Krank sein und allein sein stelle ich mir ziemlich unangenehm vor. Hilflosigkeit – schrecklich, wenn man sich nicht mehr versorgen könnte.

Aber: Auf der ganzen Welt gibt es gute und schlechte Menschen. Auch in der Ferne gibt es gute und ich bin überzeugt, sie würden mir helfen. Das würde ich auch tun.

Also Angst nicht. Aber ich bin tierisch aufgeregt.

Ich bin auf der Suche nach dem Ursprünglichen, schon ein Leben lang, schon auf meiner ersten einjährigen Reise nach Südostasien vor 40 Jahren.

Aber was ist das eigentlich, das Ursprüngliche? Was verstehe ich darunter? Es ist das, was ich am Leben und an dem Glauben der Naturvölker in ihrer Beziehung zur Natur entdecke. Es ist das Reduzierte, das Eigentliche, das Wesentliche, was das Leben ausmacht: Geburt und Tod, Wohnen, Essen und Trinken, Arbeit, das Miteinander, immer in enger Verbindung mit der Natur, mit Mutter Erde. Pachamama, wie die Indigenen sagen. Es zeigt sich oft auch im künstlerischen Ausdruck sogenannter „Primitiver Völker“, in Ritualen und Festen.

Es ist das, was alle Menschen miteinander verbindet, unabhängig von ihrer Entwicklung und ihrer Kultur. Es ist das, was alle Menschen brauchen und gestalten in großer Vielfalt und Unterschiedlichkeit. Es ist das, warum manche Menschen flüchten, weil sie es nicht haben und was die Reichen gar nicht mehr erkennen oder wertschätzen, weil sie es zu viel haben und das schon zu lange oder weil es bei allem Wohlstand seine Bedeutung und seinen Wert verloren hat, weil sie es gar nicht mehr sehen.

Reduktion und Einfachheit sind verbunden mit einer Konzentration, die zu Intensivierung des Lebens und Vertiefung der Wahrnehmung führen kann und zum Finden des Wesentlichen. Für mich jedenfalls.

Auf diese Suche, Suche in anderen Kulturen, wie machen sie es, ihre Nähe zur Natur, ihr Authentisches, Eigenes – werde ich mich begeben.

Ich denke manchmal, ursprüngliche Kulturen haben vielleicht andere, vielleicht bessere Antworten als wir. Ob das stimmt, weiß ich nicht, ich werde es herausfinden. Vielleicht ist es auch nur eine romantische Illusion.

Und dann treibt mich natürlich die Frage um: Was wird aus unserer Welt, die wir gerade und schon so lange zerstören, das Klima, das wir so verändert haben, dass Naturkatastrophen uns überfluten und wir nicht in der Lage sind, die Stimme der Natur – Pachamama – zu hören.

Ich habe mich gut vorbereitet. Natürlich musste ich Spanisch lernen. Damit hatte ich schon vor vier Jahren angefangen, immer mal wieder. Nach fünf Volkshochschulkursen, zwei Besuchen einer Spanisch-Schule in Malaga und auf Ibiza sowie Unterricht bei einer Privatlehrerin aus Kolumbien habe ich keineswegs das Gefühl, nun spanisch sprechen zu können. Es ist mühsam, erfordert so viel Disziplin und ich werde vergesslicher. Aber eine neue Sprache zu lernen ist das beste kognitive Training, das es gibt.

Jeder sagt, es klappt nur, wenn du vor Ort bist und sprichst: hablar, hablar, hablar ... und das stimmt.

Aber anstrengend blieb es zunächst und wenn ich die Möglichkeit hatte, mich auch englisch zu verständigen, so zog ich das vor, weil es mir so von den Lippen kam.

Aber mit der Zeit konnte ich mich dann doch mit einem kleinen Wortschatz mit den Einheimischen unterhalten. Am Schluss ging alles irgendwie aus dem Bauch heraus und ich hatte gelernt, fehlende Vokabeln wortreich zu umschreiben oder auf Spanisch nach ihnen zu fragen. Erleichternd war es, vor jedem Gespräch mitzuteilen, dass mein Spanisch ganz schlecht ist. Dann sprach man langsam und hatte keine großen Erwartungen. Zu meiner Freude konnte ich so auch eine Menge freundlicher Komplimente ernten, nämlich, dass ich sehr gut spanisch kann.

Das tat gut, auch wenn mir klar war, dass es nicht stimmte.

Jede Reiseerfahrung, jeder Eindruck ist subjektiv, jedes Bild ist durch meine Brille gesehen und erhebt nicht den Anspruch auf die Wahrheit über ein Land, das ich beschreibe. Diese Wahrheit gibt es ja sowieso nicht. Ich habe es so erlebt.

Ich will das unbedingt betonen, obwohl es eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist.

Nun sind viele Akten geschlossen und ich ziehe in die Welt, die so groß und so vielfältig ist und von der ich das Gefühl habe, dass ich sie gar nicht kenne.

Es ist ein Aufbruch. Und ein Aufbruch ist auch immer eine Trennung. Jede Trennung schafft Raum für Neues. Ein Aufbruch ohne Wiederkehr? Alles ist möglich.

Aber mich nehme ich mit, meine Biografie nehme ich mit.

Trennung entspricht meinen Wünschen nach Loslösung, Freiheit und Autonomie – Das sind immer schon wichtige Bedürfnisse von mir.

Als ich mich das letzte Mal mit Maria getroffen habe, hat sie mir erzählt, dass auf dem Boden ihres Balkons der Satz steht: „La Libertad hay que invertarla siempre“ (Die Freiheit muss immer wieder neu gefunden werden) von dem spanischen Dichter Jose Agostin Goytisolo. Und sie sagt: „Der Satz erinnert mich jetzt täglich an Deine Reise, an Dich und an die vielen Möglichkeiten, meine eigene Freiheit zu erfinden und auszuprobieren. Beispielsweise: warum nicht an die Endhaltestelle einer Straßenbahn fahren, die ich noch nicht kenne?“

Und natürlich ist das Reisen auch Selbstfindung. Flucht, wie manche meinen, ist es für mich nicht. Mir fällt nichts ein, vor dem ich fliehen wollte. Aber eine Suche ist es bestimmt, wobei ich nicht immer wissen muss, was ich suche. Vielleicht ist es eine Sehnsucht nach Entgrenzung, Abschütteln von alltäglicher Routine.

Und ich glaube nicht, dass die Welt kleiner geworden ist durch die Globalisierung. Auch wenn es auf der ganzen Welt Klimawandel und Internet gibt, bleibt sie so riesengroß und vielfältig. Auf der Suche sein ist unterwegs sein – ohne Ziel. Das macht es ja so spannend.

Argentinien

Buenos Aires

Der Billigflug wird dreimal verschoben. Meine Planung, nicht gerade um Mitternacht in Buenos Aires, einer völlig fremden Großstadt in Südamerika, anzukommen, misslingt total. Gelandet bin ich um 23.10 Uhr in der Nacht. Von Frankfurt mit einer Zwischenlandung in Santo Domingo und einer zweiten Zwischenlandung in Panama City plus Wartezeiten dauert es 18 Stunden bis nach Buenos Aires.

Aber was soll es, ich bin unterwegs. Der Flug über den Panamakanal und die Anden ist fantastisch und entführt mich auf einen fernen Kontinent.

Nachts anzukommen, ist dann doch nicht so schlimm, zumal ich mir ein Taxi zum Hotel vorbestellt hatte.

Aber aufgeregt bin ich und finde es irgendwie mutig von mir, mit 65 Jahren und Mini-Koffer, ich habe insgesamt acht kg dabei, allein in die Welt zu ziehen. Das meiste in meinem Koffer sind Medikamente. Da will ich autark sein. Den Rest, so glaube ich, kann ich überall kaufen, wenn ich etwas brauche.

Eine Sommer- und eine Winterhose, eine Regen- und Windjacke für jedes Wetter und ansonsten ein paar Basics und gute Schuhe – das muss reichen. Mütze, Schal und Handschuhe sind natürlich unverzichtbar.

Mir wird plötzlich bewusst, dass ich hier niemanden kenne und auf mich allein gestellt bin. Nur Mut.

Die Einreise ist einfach. Ich erhalte ein Touristenvisum für drei Monate. Im Flughafen von Buenos Aires gibt es vier Geldautomaten und alle sind leer. Das ist erst mal ein Schock, schließlich brauche ich argentinische Pesos. Ich erfahre, dass es kein Geld gibt, Inflation. Die Inflationsrate liegt bei 54 %, so hoch wie in den letzten 28 Jahren nicht. Das Land ist total verschuldet. Zweistellige Inflationsraten sind nicht ungewöhnlich hier.

Wie soll ich nun das Taxi bezahlen? Da muss ich wohl an meine kleine Dollarreserve gehen und zahle natürlich zu viel. Fängt ja gut an.

In den nächsten Tagen ist mein dringendstes Bedürfnis, alle möglichen Bankautomaten auszuprobieren, um an Geld zu kommen. Schon vor Öffnung der Banken stehen die Leute in langen Warteschlangen davor. Als ich endlich eine Bank finde, gibt es nur 200 Euro umgerechnet und das in kleinsten Scheinen. Im Hotel packe ich ein Riesenbündel aus, das in kein Portemonnaie geht und auch nicht in den Geldgürtel – es ist einfach zu dick. Ich werde diesen Geldautomaten die nächsten Tage ein paar Mal erleichtern. In dieser Situation gibt mir das Geld Sicherheit. Die vielen Scheine auf dem Bett kommen mir vor wie Donald Ducks Geldspeicher.

Das Hotel ist wunderschön in altem Kolonialstil mit großem Innenhof mitten im Zentrum von Buenos Aires in der Avenida de Mayo. Und es ist nicht mal laut – oh Wunder.

Buenos Aires hat circa drei Millionen Einwohner. Auf der Plaza de Mayo finden jeden Tag Demonstrationen statt, große und kleine, die Argentinier sind diesbezüglich ein sehr aktives Volk.

Am zweiten Tag gibt es einen Marathon bei strömendem Regen. Es stürmt und schüttet den ganzen Tag. Wasser fließt ins Hotel, Stromausfall. Der ganze Innenhof ist überschwemmt. In die Zimmer kommt es nicht, aber trockenen Fußes kommt man auch nicht auf die Straße. Die Leute nehmen es cool. Offensichtlich ist es nicht das erste Mal. Bei uns würde man anders reagieren.

Ich helfe beim Wasser entfernen mit Eimern. Improvisation ist angesagt, das können sie mit einer selbstverständlichen Gelassenheit, die uns wohl völlig abgehen würde.

Die nächsten Tage herrscht Unwetter: Flüge fallen aus und das Fußballspiel. Wenn ein Fußballspiel in Argentinien ausfällt, ist das für die Leute eine der größten Katastrophen, die sie sich vorstellen können, lerne ich. Die Argentinier sind verrückt nach Fußball.

Im 19. Jahrhundert wurde er von englischen Einwanderern nach Argentinien gebracht. Darauf verweist der Name eines der wichtigsten Vereine: River Plate. 1986 holte die argentinische Nationalmannschaft den Weltmeistertitel gegen Deutschland.

Ich verstehe nichts von Fußball, aber man kann sich dem nicht entziehen, wenn man hier Kontakt zu den Menschen haben will und man muss sich dafür interessieren, weil es ihr Leben so bestimmt.

Genauso populär wie River Plate ist der auch aus Buenos Aires stammende Verein Boca. Die Begegnung der beiden Clubs gilt als Kampf zwischen zwei Klassen: Boca, der Arbeiterklasse, und River Plate, der Mittel- und Oberschicht. Bei vielen dieser Begegnungen gibt es Gewaltaktionen der Fans schon vor der Begegnung. Das habe ich unmittelbar miterlebt, zumal es fast das einzige beherrschende Thema der Nachrichten war und auch das Gesprächsthema überall. Es ging dann so aus, dass das Spiel nach Madrid verlagert werden musste, um überhaupt gewaltlos über die Bühne gehen zu können.

Ich besuche den Stadtteil La Boca. Bei einer großen Stadtrundfahrt kann man überall aussteigen und dann in den nächs­ten Bus wieder einsteigen. Diese Touristenbusse fahren alle 20 Minuten. Das ist prima und bequem.

Vor La Boca wurde ich gewarnt. Der Stadtteil liegt im Armenviertel von Buenos Aires und es wird dort wohl viel gestohlen. Überfälle soll es auch geben in den Randgebieten des Viertels. Das Zentrum ist fantastisch. Es ist ein einziges Kunstwerk mit bunt angestrichenen Wellblechhäusern. Eine Touristenattraktion mit vielen Restaurants und Bars. Man kann draußen sitzen und es werden Kunstwerke und Souvenirs verkauft. La Boca liegt am Riachuelo-Fluss und hat ein Museum für Moderne Kunst: Fundacion Proa mit dem Blick auf die alten Hafenanlagen.

Als ich die Touristengassen mit den bunten Häusern verlasse, wird es öde und die Armut ist unübersehbar.

Schaut man hin, sieht man viel Armut in Buenos Aires. Ich habe schon viel auf meinen Reisen gesehen, aber dass ein Säugling im Bordstein der Straße liegt, das habe ich auch noch nie gesehen. Keiner kümmert sich, es scheint niemanden aufzuregen. Die Eltern lehnen an einer Häuserwand, offensichtlich vollgepumpt mit Drogen.

Ich spreche einen Polizisten an, aber der tut auch nichts, die Leute gehen daran vorbei. Kann ich etwas machen?

Heute gibt es eine Demonstration von Frauen auf der Avenida de Mayo. Es sind viele. Sie kämpfen für Gleichberechtigung, für Abtreibung. Hinterher kommen die Frauen, die gegen Abtreibung sind. Und Gewalt gegen Frauen, das Thema Femizid wird auf den Plakaten aufgegriffen. Dazu erfahre ich später mehr. Die Frauenbewegung ist hier sehr aktiv. Es geht um Themen, die uns in Europa so intensiv vor vielen Jahren beschäftigt haben.

Die Argentinier denken viel nach, diskutieren über gesellschaftlichen Wandel, sind kritisch, mutig und energiegeladen und machen ihren Mund auf: klar, deutlich, rigoros, modern, offen. So erlebe ich es jedenfalls. Das hätte ich nicht gedacht.

Buenos Aires ist auch eine laute Stadt, ein Moloch, voll, hektisch, schlechte Luft, viel Verkehr, aber immer spannend. Eine anstrengende Stadt, am frühen Abend, ich bin müde und schlafe viel.

Meine vornehme Zurückhaltung und mein defensives Auftreten, empfohlen in allen Reiseführern, besonders für allein reisende Frauen, gebe ich nach zwei Tagen auf. Erstens bin ich das nicht, zweitens bin ich allein und will Kontakt haben und drittens: Wenn ich die Menschen nicht anspreche, dann lerne ich auch kein Spanisch.

Mein Spanisch ist in der ersten Zeit miserabel. Ich habe einen Fernseher im Zimmer und die Idee, beim Fernsehen mit einem Wörterbuch spanisch zu lernen. Es ist mir wichtig, wann immer möglich, die Nachrichten zu sehen. Sehr rasch kenne ich Worte wie Mord, Raub, Verhaftung, Opfer, Femizide, Vergewaltigung auf Spanisch. Das ist das wesentliche Vokabular der Nachrichtensendungen. Sie bringen immer wieder die gleichen Bilder dazu, stundenlang, den ganzen Tag, das ist eine Art Gehirnwäsche. Es wird den ganzen Tag immer wieder über Verbrechen gesprochen in vielen Gesprächsrunden. Reißerische Szenen, Mord, Überfälle, Raub und sonstige Katastrophen werden ständig wiederholt. Keine gute Idee, um Spanisch zu lernen und nicht gut für die Psyche.

Derzeit findet hier der Weltkongress der Psychoanalytiker statt. Ich erfahre, dass es in Buenos Aires mehr davon gibt als in jeder anderen Stadt der Welt.

Am nächsten Morgen ist überall Polizei und alles Mögliche ist abgesperrt, auch immer wieder die Avenida de Mayo. Es gibt noch mehr Demonstrationen. Es findet hier in einer Woche der G7-Gipfel statt, das internationale Treffen von sieben Außenministern. Kein Wunder, die viele Polizei.

Ich flüchte zum Recoleta Friedhof. Mit der U-Bahn ist das völlig unkompliziert. Dieser Friedhof liegt in einem der teuersten und wohlhabendsten Viertel von Buenos Aires. Eine Ruhestätte vieler prominenter Einwohner mit eindrucksvollen Gräbern und Mausoleen. Es ist wie eine eigene Stadt, durch die man stundenlang spazieren kann.

Am nächsten Tag lautet die Schlagzeile: Bombe auf dem Recoleta-Friedhof. Diese Bombe an einem Grab, an das ich mich gut erinnern kann, vor dem ich lange gestanden habe, muss kurz nachdem ich den Friedhof verlassen habe explodiert sein. Glück gehabt. Es wurde niemand verletzt.

Dieses Erlebnis beschäftigt mich aber doch noch ein paar Tage. Es ist alles ziemlich ungewohnt hier und man muss doch wohl immer auf der Hut sein. Das ist anstrengend. Kein Wunder, dass ich so viel schlafe. Das kommt mir aber entgegen, weil ich nicht allein im Dunkeln durch diese Stadt gehe. Ich bin erst mal sehr vorsichtig.

Es gibt so viel zu sehen, was mich veranlasst, zwei Wochen zu bleiben. Ich möchte alles sehr langsam machen und auch viel ausruhen, in Cafés sitzen und nur alles beobachten, ohne mich zu bewegen. Ich habe Geburtstag und überlege, was ich mir da Gutes tun kann und möchte mir etwas schenken.

Es gibt das Café Tortoni direkt neben meinem Hotel. Ein wunderschönes altes Kaffeehaus, das 1858 von einem französischen Immigranten eröffnet wurde. Es soll das älteste Kaffeehaus von Buenos Aires sein, mit einer eleganten Inneneinrichtung, vielen Kunstwerken an den Wänden und ein Treffpunkt für Literaten, Künstler und berühmte Tangotänzer.

Die Tangoveranstaltungen hier sind meistens ausverkauft. Mir ist das Café aufgefallen, weil sich draußen immer eine Warteschlange gebildet hat, auch schon morgens früh. Man wird durch den Portier eingelassen, wenn ein Tisch frei ist und betritt den Raum durch ein prächtiges Portal. Manche warten, je nach Tageszeit, bis zu einer Stunde auf einen Platz.

Dieser Ort scheint mir nun für meinen Geburtstag angemessen. Dort möchte ich einen Sekt trinken und eine Köstlichkeit essen, auch wenn das wahrscheinlich sehr teuer ist und mein Tagesbudget übersteigen dürfte. Das hat es dann aber zu meinem Erstaunen gar nicht.

Ich stoße mit mir selber an und bin sehr stolz, hier zu sein, und es ist ein Moment großer Freude. Die Verwirklichung meines Traumes hat begonnen. Ich habe in dieser kurzen Zeit schon so viel erlebt, dass ich mir abends ganz diszipliniert immer Tagebuchnotizen mache, damit ich nichts wieder vergesse. Es geht mir richtig gut und in diesem Moment vermisse ich absolut nichts.

Nachmittags fahre ich mit der Metro ins Malba-Museum nach Palermo und sehe Spitzenwerke lateinamerikanischer Kunst; danach ins ethnografische Museum. Ich werde auf dieser Reise jedes Museum besuchen. Erstens liebe ich Museen und zweitens kann man nirgends mehr lernen.

Einige Museen sind auch geschlossen oder in einem schlechten Zustand, ungeschützt, keine Aufsichten und mit schlechter Beleuchtung. Insbesondere die kleineren.

Auch die Oper und das Teatro Colon kann man nicht auslassen in dieser Stadt.

Mir brennen die Augen von der schlechten Luft.

Die Argentinier erlebe ich freundlich und hilfsbereit. Aber es ist hier alles teurer, als ich dachte.

Nach einer geführten Graffiti-Tour geht es die nächsten Tage noch zu den Shopping Meilen und Prachtkaufhäusern. Hier gibt es alles. Es bedeutet mir noch einmal, dass die Schere zwischen Armut und Reichtum gewaltig ist. Aber um das zu sehen, muss man natürlich nicht nach Südamerika.

Für einen Abend habe ich mir eine Karte für eine Tango-Show besorgt. Tango ist ein Teil von Buenos Aires und Argentinien. Ich werde mit dem Bus abgeholt und wieder ins Hotel gebracht. Das ist gut, weil diese Veranstaltungen ja so spät anfangen und auch erst nach Mitternacht zu Ende sind. Dann muss ich nicht alleine nachts durch die Stadt zurück. Ein Abendessen ist eingeschlossen. Das ist mein Geburtstagsgeschenk für mich.

Es ist alles sehr fein, weiß gedeckte Tische und die Damen haben sich schwer rausgeputzt. Es sind eher wenige Touristen, viele Einheimische da, was mir schon mal gut gefällt, aber ich liege natürlich mit meinem Outfit in meiner Reisekleidung voll daneben. Tut mir leid, geht nicht anders. Die Argentinierinnen sind wahre Schönheiten. Es sind für mich die attraktivsten Frauen in ganz Südamerika und sehr sexy.

Ich werde an einen Vierertisch gelotst. Ich teile den Tisch mit einer Kanadierin, sie ist Soldatin, kurzgeschorene Haare, burschikos und ich verstehe mich gut mit ihr. Kleidungsmäßig passt es. Und dann sitzt noch ein sehr junges, sehr aufgemöbeltes, aufgekratzt lautes, expansives und überhaupt auch äußerlich auffälliges Pärchen aus USA mit am Tisch. Er wirkt wie ein Börsianer, sie wie eine Barbiepuppe. Aber sie sind nett, wenn auch irgendwie distanzlos, wie US-Amerikaner eben manchmal sind. Sie wollen uns immer umarmen und Selfies davon machen. Sie bestellen Champagner und laden uns ein und drücken ihre überschwängliche Freude darüber aus, uns kennengelernt zu haben. So ein Quatsch, sie kennen uns überhaupt nicht. Geld scheint keine Rolle zu spielen. Der Kellner wird häufig zum Nachschenken aufgefordert. Dann kommen wieder übertriebene Bewunderungen dafür, dass sowohl die Kanadierin als auch ich alleine reisen.

Ich lasse mich auf diese Nummer ein und erlebe einen wunderschönen exaltierten und ziemlich verrückten Abend und habe selten so viel gelacht bei einigen Gläsern Champagner. Über was wir gelacht haben, weiß ich gar nicht mehr. Man muss sich auf die Dinge einlassen, auch wenn sie einem so völlig fremd sind. Das werde ich machen – wunderbar. Auf in ein Neuland. Ich werde mal meine ganzen Bewertungen und damit auch Vorurteile, die man so mit sich rumschleppt, über den Haufen werfen für dieses Neuland. Es zumindest versuchen.

Aber die Hauptattraktion ist der Tango. Zum Weinen schön. Sie tanzen um ihr Leben. Das ist alles so surreal: dieser oberflächliche Barbiepuppen-Wahnsinn im Kontrast zur erotischen und existentiellen Melancholie dieser Musik und des Tanzes, wahrgenommen unter dem Einfluss des wahrscheinlich teuersten Champagners, den ich je getrunken habe, nachts in Buenos Aires. Die Aufführung findet in der Maldita Milonga, Peru 571, statt. In einer Milonga trifft man sich zum Tangotanzen bei Livemusik, aber es gibt auch Shows mit berühmten Tänzern.

Ein weiterer Höhepunkt meines Aufenthaltes in dieser Stadt ist die Schwulen- und Lesben-Parade auf der Avenida de Mayo, in die ich am Samstag zufällig rein stolpere. Unglaubliche Menschen. Bin ich im Film, im Traum, Schwule, Lesben, Transsexuelle, alles, was es gibt. Faszinierende Kostüme, Auftritte, halbnackte Menschen, Glanz und Glimmer, Musik, Theater, Performances. So etwas, glaube ich, sieht man vielleicht nicht mal beim Karneval in Rio, aber da war ich noch nicht. Sicherlich aber nicht in Europa. Auch Proteste gibt es hier gegen Vorurteile und Diskriminierung, Ausgrenzung und Mord an Transgendern „basta de genozido trans“.

Ich verbringe viele Stunden dort, schaue mir die Augen aus dem Kopf, rede mit den Leuten, versuche zu verstehen. Oft werde ich angesprochen, bekomme Rosen überreicht oder werde zu einem Drink eingeladen.

Alle sehen so extrem fremdartig aus und sind so liebevoll und freundlich und friedlich.

Es gibt fast keine Polizisten, es scheint alles erlaubt. Am meisten aber staune ich, dass das in Buenos Aires möglich ist. Ich habe alle Länder in Südamerika für viel strikter, autoritärer, konservativer gegenüber solchen Aufzügen und überhaupt gegenüber Demonstrationen gehalten. In Buenos Aires ist das aber offensichtlich nicht so.

Jeden Tag, den ich länger hier bin, habe ich mehr das Gefühl, alles, was ich meinte schon zu wissen, trifft so nicht zu.

Sonntag ist mein Hotel voll. Die Einheimischen haben Feiertag und reisen ebenfalls gerne und viel auf ihrem Kontinent, immer mit Familie. Man trifft aus fast allen anderen Ländern Südamerikas Touristen: Chile, Peru, Uruguay, Brasilien.

Sie gehen im Schlafanzug zum Frühstück, sicher auch ungewaschen, für mich gewöhnungsbedürftig. Aber sie sind locker, begrüßen mich und fragen gleich, was ich hier tue und wo ich herkomme und überhäufen mich mit Reisetipps und guten Ratschlägen.