Weil du mich wärmst

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Sari: BELOVED #47
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Weil du mich wärmst
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Deutsche Erstausgabe (ePub) Dezember 2020

Für die Originalausgabe:

© 2018 by Elle Brownlee

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Staggered Cove Station«

Originalverlag:

Published by Arrangement with Dreamspinner Press LLC, 5032 Capital Circle SW, Ste 2, PMB# 279, Tallahassee, FL 32305-7886 USA

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2020 by Cursed Verlag, Inh. Julia Schwenk

beloved ist ein Imprint des Cursed Verlags

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Martina Stopp

ISBN-13: 978-3-95823-860-2

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


Aus dem Englischen

von Vanessa Tockner

Liebe Lesende,

vielen Dank, dass ihr dieses eBook gekauft habt! Damit unterstützt ihr vor allem die*der Autor*in des Buches und zeigt eure Wertschätzung gegenüber ihrer*seiner Arbeit. Außerdem schafft ihr dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der*des Autor*in und aus unserem Verlag, mit denen wir euch auch in Zukunft erfreuen möchten.

Vielen Dank!

Euer Cursed-Team

Klappentext:

Dan Farnsworth verschlägt es aus dem warmen Kalifornien auf eine Rettungsstation mitten im Nirgendwo Alaskas. Natürlich auch, um dort zu arbeiten, aber insgeheim will er das Verschwinden eines Seenotretters aufklären. War es wirklich nur ein Unfall oder steckt doch mehr dahinter? Sein erster Anlaufpunkt ist der distanzierte Karl Radin, der die unheilvolle Rettungsmission leitete und jetzt Dans Vorgesetzter ist. Während die beiden Männer Seite an Seite den Gefahren der rauen Umgebung trotzen müssen, knistert es schon bald gewaltig zwischen ihnen. Aber kann Dan Karl tatsächlich vertrauen?

Kapitel 1

Karl stürmte den Hang zur Klippe hinauf und atmete tief ein. Es war einer dieser Tage, für die er lebte. Gewaltige Wolken zogen über dem Meer hinweg und die vom Wasser reflektierten Strahlen der Sonne stießen am unermesslichen Horizont vom Himmel herab. Ihr Licht tanzte auf der Wasseroberfläche, den Schaumkronen und Wellen. Frische, salzige Gischt wurde vom Wind an Land getragen und hinterließ Nässe auf seinem Gesicht. Ein vertrautes Aroma – urgewaltig, ein Teil von ihm.

Er schloss die Augen und atmete zum dritten Mal im Takt, mit dem die Brandung an den Felsen unter ihm schlug, tief ein. Das Geräusch wurde mit einem dunklen Murmeln von den schneebedeckten Bergen hinter ihm zurückgeworfen.

Die Sonne und der anstrengende Lauf hatten ihm eingeheizt, aber die Temperatur unter zehn Grad Celsius holte ihn bald wieder ein. Der Wind blies durch seine Kleider und er schauderte.

»Hey, Radin!«

Er hob einen Arm und gestikulierte Fahr fort, ohne sich umzudrehen.

»Komm schon, Mann. Wir haben einen Heli im Anflug.«

Bei diesen Worten drehte er sich um und sah zum Landeplatz. Ein kleiner Helikopter – nicht mehr als eine Mücke, dachte er – näherte sich und war durch den Lärm der Brandung und des Windes kaum zu hören. Die Maschine flog tief und folgte den Serpentinen des Highways an der Küstenlinie entlang. Karl verabschiedete sich stumm vom Meer und begann den Abstieg hinunter zur Straße. Marcum nickte und hielt neben ihm Schritt.

Vor sechs Jahren hatte Marcum sich als schlaksiger Junge aus der Bronx zum Dienst gemeldet, sicher, dass er seine Zeit absitzen und dann nach Hause zurückgehen würde, um im Hafen zu patrouillieren. An seinen dunklen Augen, der braunen Haut und den schwarzen Haaren hatte sich nichts geändert, an allem anderen schon. Er war mehrere Zentimeter gewachsen und sein Akzent war weicher geworden, während er die Berge und zu viel frische Luft immer mehr zu schätzen gelernt hatte. Entweder man liebte Alaska oder man hasste es und Marcum hatte nicht vor, zu gehen. Ebenso wenig wie Karl.

»Laufen wir um die Wette?«

»Ich dachte, das tun wir schon die ganze Zeit?« Karl hob eine Augenbraue und war vielleicht etwas zu zufrieden über seine gleichmäßige Atmung. »Deshalb bin ich stehen geblieben. Damit du aufholen kannst.«

»Ja, wie du meinst. Aber diesmal richtig.« Marcum tat einen komischen, kleinen Satz, stieß Karl in das hohe Gras und raste davon.

»Verdammt, du kleiner…« Karl knurrte den Rest und grub die Fersen in den Boden. Das Gras rutschte unter seinen Füßen weg und er stürzte nach vorne. Seine Hände streiften den harten Straßenrand und er trat Schotter los, als er die Verfolgung aufnahm.

Marcum blieb beinahe den ganzen Weg zu der Landzunge mitten in der rauen, doppelt geschwungenen Bucht vorne. Die Station kam in Sicht, als Karl die letzte Kurve hinter sich gebracht hatte. Sie war schlicht und zweckmäßig, mit Metallverkleidung und kleinen Fenstern, aber er nannte sie mit Freuden sein Zuhause. Die Windsäcke und Flaggen knatterten im Wind und irgendwelche Geräte klapperten vor sich hin. Rettungsboote wippten an der Anlegestelle und die Geräteschuppen waren verschlossen.

Er beobachtete, wie der Helikopter landete, konnte aber nicht ausmachen, wer ausstieg, nur den massigen Körperbau der Person – groß, breit, tief geduckt, um den Rotoren zu entgehen. Aus der Ferne zogen rasch dunkle Wolken herauf. Der Sturm, der für die Nacht vorhergesagt war, schien es eilig zu haben.

Jemand, der zusammen mit dem schlechten Wetter eintraf. Er versuchte, es nicht als Omen zu sehen, aber der Aberglaube, den sein Großvater ihm vor Jahren eingepflanzt hatte, sagte etwas anderes.

Karl ließ Marcum den Asphalt erreichen und wartete ab. Er wusste, dass Marcum einen Blick zurückwerfen würde, um zu prahlen, und als er das wirklich tat, simulierte Karl ein Stolpern. Das reichte, um Marcum zögern zu lassen, und Karl ging zum Endspurt über. Er erreichte die Eingangstüren als Erster und schaffte es, mit seinen Dehnübungen zu beginnen, bevor Marcum ihn erreichte.

»Nicht schlecht, alter Mann.« Marcum keuchte einige Male, bis sein Atem ruhiger ging, und dehnte seine Bizepse. »Ich meine, du musstest eine List anwenden, aber nicht schlecht.«

Karl zog eine Augenbraue hoch. »Ich bin nicht alt.«

»Sicher, sicher. Es ist nur, weil ich verglichen mit dir so jung bin und na ja, du weißt schon. Ignorier mich einfach.«

»Also nichts Neues.«

Marcum zuckte mit den Schultern und streckte die Arme demonstrativ einmal über den Kopf. »Na, mir geht’s gut. Wir sehen uns drinnen.«

Karl runzelte die Stirn und wandte sich von Marcums Grinsen ab. Er nahm einen Fuß in die Hand, zog die Ferse zum Hintern hoch und hielt sie einige Sekunden dort, bis es nicht mehr wehtat. Seine Muskeln waren erhitzt und müde von dem Sprint. Er war zwar nicht alt, aber er war definitiv nicht mehr jung.

Ein Blitz zuckte näher, als er erwartet hatte, über den Himmel und kribbelte in den Haaren an seinem Hinterkopf. Donner grollte und rüttelte an den Türen der Station. Karl griff nach einer Tür, die gerade aufschwang und die ihn kräftiger zurückschob, als der Wind es tun sollte. Jameson lehnte sich zu ihm heraus.

»Radin? Curtis will dich sehen.« Jameson öffnete die Tür noch weiter und hielt sie fest. Er wirkte immer beherrscht – schlank, ruhige, braune Augen hinter einer Brille mit Drahtgestell, die etwas schief saß, der Schnurrbart immer gepflegt – und seine Haltung verriet nichts über den Grund seiner Ernsthaftigkeit.

Karl schlüpfte mit einem Nicken hinein. »Ist irgendetwas los?« Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf das Wetter.

»Weiß nicht. Er hat mich nur angeraunzt, ich sollte dich holen, anstatt es selbst zu tun.« Jameson sah zur Tür hinaus in den sich verdüsternden Himmel. »Aber er hat dabei nicht mürrischer geklungen als sonst.«

»Na gut. Danke, Jamesy.«

Jameson hob zwei Finger und verschwand wieder im Kommandozentrum.

»Hey, Bennett.« Karl hob die Hand. »Etwas Hilfe?«

Bennetts hellgrüne Augen funkelten und sein rötlicher Teint unter dem weißblonden Haar wurde vor Belustigung noch röter, als er unter die Theke griff und Karl ein Handtuch zuwarf. Er hielt ein zweites hoch, das in seiner großen, eckigen Hand wie ein winziger Lappen aussah, aber Karl brauchte nur eins.

Er zog sein Sweatshirt aus und ließ es in einen Blumentopf ohne Blumen fallen, der neben der Tür stand. Er wischte sich den Schweiß von Hals und Armen und trocknete sich die Haare, während er die Büro-Insel umrundete.

»Cap?« Er lehnte sich mit einem Klopfen in Curtis' Eckbüro. »Du wolltest mich sehen?«

»Setz dich.« Curtis warf ihm einen Blick zu und deutete auf den Plastikgartenstuhl, der an der Wand stand. »Diese Front kommt schneller als erwartet.«

Curtis war ein so klischeehafter Küstenwächter, dass er eine Figur auf den Rekrutierungsflyern darstellen könnte. Er war groß und sehnig, hatte durchdringende stahlgraue Augen in einem attraktiven, edlen Gesicht und eine breite Brust, die dank seiner aufrechten Haltung noch breiter wirkte.

 

»Ach, nur ein bisschen.« Karl zog den Stuhl mit einem Fuß zu Curtis' Schreibtisch heran. »Hat das Wetter schon seinen Spaß gehabt?«

»Nein. Keine Meldungen.« Curtis drehte sich auf dem Sessel, kramte in der untersten Schublade eines Aktenschranks herum und warf eine Packung Mini-Schokoladenriegel auf den Tisch.

Karl nahm sich drei – Karamell und Toffee – und lehnte sich wieder zurück. Ein Lächeln zerrte an seinen Lippen, während er aß, aber er unterdrückte es. Curtis mochte keine Schokolade, wusste aber, dass Karl es tat. Es war ein lockeres Ritual zwischen ihnen, das sie nie ansprachen.

»Und was ist mit dir?«

»Alles in Ordnung, Sir.« Auf Curtis' vielsagenden Blick hin sagte er: »Es geht mir gut. Laut Marcum bin ich alt, aber abgesehen davon ist alles in Ordnung.«

Curtis' Blick wurde noch durchdringender.

»Wirklich. Alles in Butter. Bei uns allen.« Karl nahm sich noch einen Riegel. »Der Lauf war gut. Dem Kopf geht’s gut. Alles gut.«

»Marcum muss sich noch nicht mal rasieren. Aber gut. Ich zähle darauf, aber ich höre es trotzdem gerne.« Curtis wirkte einen Moment lang in Gedanken versunken, während er auf die bunten Sturmwellen auf dem Radar starrte. Dann reichte er Karl eine dicke Mappe.

Karl zog die Augenbrauen hoch, nahm sie aber kommentarlos entgegen. Klare und offene haselnussbraune Augen – wie das Meer in warmen Breitengraden, Grün und funkelndes Braun mit blauem Rand – blickten Karl aus dem Profilfoto heraus an, das an die Papiere geheftet war. Daniel Farnsworth. Der Name sagte ihm nichts. Humor tanzte in den beinahe opalen Tiefen und das lässige Lächeln des Kerls wirkte, als könnte es sich jederzeit in ein verschmitztes Grinsen verwandeln. Klassenbester, Eliteschwimmer, nur drei Zentimeter größer als Karl, aber weit schwerer, offenbar stämmig statt sehnig gebaut.

Er dachte an die Gestalt, die aus dem Helikopter gestiegen war. Aha.

»Und? Was denkst du?«

»In Bezug auf?« Karl überflog noch einige Seiten, bevor er die Mappe zu Curtis zurückwarf. Er würde nicht sagen, was ihn am meisten beschäftigte – wie attraktiv Farnsworth war.

»Das ist unser Neuling.«

»Ich dachte, der wäre erst in ein paar Tagen fällig?«

Curtis schob die Mappe zurecht, bis sie parallel zu seinem Tischkalender lag. »Er hat sich von einem Zulieferer mitnehmen lassen, der bereit war, hier Halt zu machen. Gab keinen Grund, der dagegen sprach, und er hat uns den Trip erspart. Also?«

»Der Junge hat keine Erfahrung mit kalten Gewässern, oder?« Eine sichere, korrekte Beobachtung – weit besser als über das kurze, interessierte Kribbeln zu stottern, das er in eine dunkle Ecke mit der Aufschrift Denk nicht mal dran verbannte.

»Du hast auch noch niemanden in einem Hurrikan gerettet, aber ich würde dich ohne Bedenken nach Florida versetzen.«

»Scheiße – ist das eine offizielle Verwarnung?« Karl sah über Curtis' Schulter hinweg zum Fenster, das auf die Berge und die Küstenstraße hinausging. Er schauderte bei dem Gedanken an Florida mit seinen Sümpfen, aber dann grinste er listig. »Eine inoffizielle Drohung?«

»Nur Perspektive.« Curtis hob eine Ecke der Papiere an und ließ sie wieder zufallen. »Er ist solide und bringt ausgezeichnete Referenzen mit. Farnsworth wird sich unbedingt beweisen wollen, was bedeutet –«

»Was bedeutet, er wird gefährliche Stunts hinlegen und ich werde dafür verantwortlich sein, ihm den Kopf zu kühlen.«

»Was bedeutet«, wiederholte Curtis stirnrunzelnd, »dass wir zusammenarbeiten müssen, damit er sich hier leichter eingewöhnt und weiß, dass er zur Mannschaft gehört.«

Karl verschränkte die Arme. »Das ist dasselbe. Ich meine, mehr oder weniger. Der Unterschied ist, dass du dabei trocken bleibst und weniger Gefahrenzulage bekommst.«

»Wenn du es so formulieren willst.« Curtis tippte mit denselben präzisen Bewegungen auf die Mappe, mit der er alles tat. »Aber übertreib es nicht. Er ist gut und diese abgelegene Station am Arsch der Welt hat Glück, jemanden mit solchen Leistungen direkt von der Akademie abzubekommen.«

»Was hat er denn angestellt, um hierher geschickt zu werden, anstatt an einen sexy Ort wie Miami oder Honolulu?« Karl meinte das nicht sarkastisch. Er wollte es wirklich wissen. »Ich will hier nicht den Zyniker spielen, aber wenn er wirklich so wunderbar ist, dann war seine erste Wahl bestimmt nicht das Hinterland von Alaska.«

»Laut seiner Akte doch. Er will eine Herausforderung und Fähigkeiten erlernen, die er in Stationen wie der, wo er aufgewachsen ist, ausgebildet wurde und seinen ersten Dienst hatte, nicht üben konnte. Das ist bewundernswert. Findest du nicht?« Curtis blinzelte weder, noch sah er weg, bis Karl widerwillig nickte. »Klassenbester, lernbereit – und du wirst ihn noch besser machen.«

Karl brummte unbestimmt. Er wollte nicht zeigen, wie sehr dieses Vertrauen ihn freute, aber er wollte auch keine so große Verantwortung. Er würde seinen Job erledigen und das außergewöhnlich gut, aber er war nicht hier, um irgendeine hitzköpfige Diva zu betreuen.

»Übertreib es nicht, Radin. Du hast ihn noch gar nicht getroffen.«

Curtis gab Karl eine Menge Freiheit, nicht nur weil er ein altgedienter Veteran war, sondern weil er dem Job alles gab und sich etwas Entgegenkommen verdient hatte. Aber etwas Entgegenkommen war keine offene Tür zum Ungehorsam.

»Ja, Sir.« Karl aß seine letzte Schokolade und warf die zerknüllten Verpackungen in den Müll. »Glaubst du, er steht den ersten richtigen Kälteeinbruch und Sturm durch?«

Niemand, der nach Alaska versetzt wurde, blieb davon unberührt. Rekruten meldeten sich zum Dienst und wollten entweder nie wieder weg oder die Intensität und oft grausame Bitterkeit, die diesen Ort mit seinen so wilden Extremen beherrschten, vertrieb sie schnell wieder.

»Ich glaube, er wird sich gut schlagen. Immerhin wird man nicht Rettungsschwimmer, wenn man ein Schlappschwanz ist. Er könnte dich überraschen.« Curtis zuckte mit den Schultern. »So oder so finden wir es bald heraus. Also verzieh dich und geh an die Arbeit. Ich habe hier wichtigen Papierkram zu erledigen.«

Karl kicherte. »Ich bete, dass mich an meinem letzten Tag das Meer in seine Tiefe zieht, anstatt dass ich zwischen Listen und Dienstformularen am Schreibtisch darauf warte.«

»Und nur dafür solltest du nach Cape May gerufen werden und grüne Rekruten trainieren.« Curtis grinste. »Das hättest du auch verdient.«

»Ach, ist May nicht in Jersey?« Karl verzog angewidert die Lippen. »In Jersey gibt es Lärm und heiße Tage und Smog. Leute leben in Jersey.«

»Betrachte das als Warnung.« Curtis öffnete einen riesigen Ordner und klickte auf seinem Computer herum. »Oh, und Radin? Mach keinen Umweg für Kaffee. Geh gleich in dein Zimmer.« Er ließ die Packung Schokoriegel in die Schublade fallen und knallte sie zu.

Damit entlassen, salutierte Karl nachlässig und zog sich zurück.

Scobey – zierlich, die lohfarbenen Haare in einem strengen Knoten, die Tattoos auf ihrer Brust nicht ganz bedeckt – stand in der Tür zur Messe und grinste Bennett, der immer noch hinter der Theke war, über ihren Kaffee hinweg an. »Was sagst du, Bennett? Gehen wir mit und sehen uns die Show an?«

Karl nahm sein Sweatshirt und starrte sie finster an. Scobeys Grinsen wurde noch breiter.

»Nein. Auf keinen Fall.« Bennett hob die Arme. »Ich bin im Dienst und der Dienst ist heilig, also bewege ich mich nicht von der Stelle.«

»Lusche.« Scobey schmollte und nahm schlürfend einen Schluck.

Lang – groß und schlank, mit den graumelierten Haaren, den blauen Augen und dem markanten Kinn praktisch der perfekte Soldat – erschien hinter ihr. Scobey war so klein, gerade noch über der zugelassenen Größe, dass beide Piloten zugleich in der Tür zu sehen waren. »Wer ist eine Lusche?«, fragte er.

»Bennett. Er will nicht zu Radins Zimmer mitkommen.«

»Ich glaube, du meinst, er ist weise.« Lang stupste Scobey an und ging um sie herum. Er reichte Karl einen Kaffee. »Ist süßer, als du ihn gerne hast, aber du wirst ihn brauchen. Viel Glück. Mach’s gut. Vergiss nicht, dass wir diese Dinge nicht entscheiden.«

Karl nahm den Kaffee und zog nach dem ersten Schluck eine Grimasse. Supersüß. Er gab die Tasse mit angewidertem Gesicht zurück. Lang nahm sie schulterzuckend und trank sie zur Hälfte aus. Als Scobey Karl folgen wollte, schlang Lang einen Arm um ihre Schultern, um sie zurückzuhalten. Sie schmollte, widersprach aber nicht.

Eine böse Vorahnung überkam Karl und er schüttelte den Kopf. Alle beobachteten gespannt, wie er durch die Lobby zum Korridor und dem überdachten Durchgang ging, der ihre Unterkünfte mit der Station verband.

Die Gestalt vom Helikopter – Farnsworth – stand in seinem Zimmer und starrte mit den Händen auf den Hüften und nachdenklich zur Seite geneigtem Kopf auf die Pinnwand über seinem Tisch.

Dan Farnsworth war groß mit breiten Schultern, die sich perfekt zu schmalen Hüften und flachen Bauchmuskeln hin verjüngten. Seine weizenblonden Haare waren gnadenlos geschoren und seine vollen Lippen sahen aus, als wollten sie sich zu einem Grinsen verziehen und tiefe Grübchen zeigen.

Karl blieb in seiner eigenen, halb offenen Tür stehen und räusperte sich. Farnsworth zuckte nicht zusammen, aber als er sich umdrehte, ging sein klarer, haselnussbrauner Blick noch nachdenklich in die Ferne. Instinktiv musterte Karl den Raum. Sein Bett war nach wie vor ordentlich gemacht, die Ecken perfekt und die Decke glatt gestrichen, sein Tisch und die Kommode unberührt, der Kleiderschrank geschlossen. Alles war dort, wo es hingehörte, trotzdem hatte er das Gefühl, dass er dem Schein nicht trauen konnte.

»Hallo. Ich bin Dan, Daniel Farnsworth. Und du bist Flugingenieur Radin, oder?« Dan war direkt, aber sein eifriges Lächeln wirkte angespannt und die Grübchen, die Karl sehen wollte, kamen nicht ganz heraus. »Ich bin der neue Rettungsschwimmer, also hey, wir werden viel zusammenarbeiten.«

»Chief Petty Officer Radin. Das ist richtig.« Es gab keinen Grund, seinen Rang zu erwähnen, aber er kam ihm ungebeten über die Lippen.

Karl nahm Dans Hand und versuchte, nicht zu beachten, dass sie größer war als seine, dass Wärme in seinem Bauch flatterte oder dass der Junge Hitze ausstrahlte. Karl starrte ihn regungslos an, bevor er losließ, die Hand an der Hüfte zur Faust ballte und sich an Dan vorbei ins Zimmer schob.

Ideen kamen ihm in den Sinn – ungebeten, versaut, unerwünscht – und er knurrte. Die Tür zu seiner inneren Ja, denk nicht mal dran-Ecke bebte. Heftig.

»Also. Kann ich dir helfen?«, fragte er, während er überflüssigerweise seinen ohnehin aufgeräumten Tisch ordnete.

»Nur wenn du dich um meine Sockenschublade kümmern willst.« Dans Lächeln verblasste und er rieb sich mit dem Daumen über den Zeigefinger, als Karl ihn verwirrt anstarrte.

Etwas Vertrautes kribbelte am Rand von Karls Bewusstsein, aber er konnte es nicht einordnen. Diese Bewegung – wie Dans Daumen den Finger umkreiste. Etwas daran zupfte an ihm. Karl schüttelte es ab.

»Äh, ich habe dieses Zimmer zugeteilt bekommen.«

»Dieses Zimmer? Meins?« Karls Inneres tat einen Satz.

Dan kramte sich durch einen Papierstapel auf dem leeren Bett. Er faltete ein Blatt an einer bestimmten Zeile und hielt es ihm hin. »Außer ich habe das hier falsch gelesen?«

Karl überflog es. Eindeutig seine Zimmernummer. »Nein. Du bist hier richtig.«

Er hatte den Platz und die Ausstattung für einen Mitbewohner – ein zweites Stockbett und den Tisch darunter, ebenso wie mehrere leere Schrankfächer –, aber schon seit einer Weile keinen mehr zugeteilt bekommen. Dank einer Kombination günstiger Umstände hatte er Glück gehabt: Es war eine kleine Station und Karl war lange genug dabei, um übergangen zu werden, wenn jemand Neues einzog.

Der Junge würde auf keinen Fall hier wohnen, hier schlafen und so dicht neben ihm leben.

Dan starrte ihn angespannt an und wartete darauf, dass Karl noch etwas sagte. Irgendetwas an Dan beunruhigte ihn noch über diesen Irrsinn hinaus. Er konnte es nicht genau benennen, aber da lauerte unterdrückte Angst oder sogar Wut in Dans Blick. Wahrscheinlich war er nur nervös, weil er an einem neuen Ort war und gefallen wollte.

Gefallen wollte hallte in Karls Kopf wider und er rammte beinahe die Faust gegen seinen Tisch.

Gottverdammt. Karl griff sich an die Nasenwurzel, wirbelte herum, um wahllos irgendwelche Gegenstände zu packen, und schlüpfte an Dan vorbei auf den Gang. Er mochte keine Komplikationen, also würde Dan einfach keine werden. Ende.

 

»Ich wollte gerade duschen. Fühl dich wie zu Hause.«

Er erspähte Scobey, die sich am anderen Ende des Gangs herumdrückte, und knurrte in ihre Richtung. Ein Blitz zuckte, erhellte einen Moment lang den Gang und das Bild von Dan erschien vor seinem inneren Auge. Er ließ Dan mit einem buchstäblichen Donnerschlag hinter sich und nahm eine kochend heiße Dusche, um sich selbst zu bestrafen. Sein Körper war taub und seine Gedanken liefen wild durcheinander.

***

Dan schloss die Tür, die Karl offen gelassen hatte, und lehnte die Stirn dagegen. Er stieß einen langen Seufzer aus und lauschte dem schnellen Hämmern seines Herzschlags.

Radin, sein neu zugeteilter Mitbewohner, der Mensch, den er am meisten kennenlernen und am wenigsten treffen wollte. In seinem Zimmer zu stehen – durch und durch Radins – , hatte sich angefühlt, als hätte er Feindesland betreten.

Radins Sachen durchzugehen, ohne etwas gegen ihn in der Hand zu haben, war eine schlechte Idee gewesen, aber seine Ungeduld hatte gegen die Vernunft gewonnen. Wenigstens war er nur dabei erwischt worden, wie er die Pinnwand betrachtete. Dort hing eine ausgeschnittene Schlagzeile, die ihn erschüttert hatte, ebenso wie der anhaltende Schock und die Abneigung, die er gespürt hatte, als Radin ihn berührt hatte.

Eine Menge Abneigung. Er hatte zwar erwartet, dass Radin ihn nicht mögen würde, aber nicht, dass ihn das so stören würde.

Dan streckte die Finger und stieß sich von der Tür ab. Es war eine schlechte Entscheidung, herumzuschnüffeln, aber er beschloss, Radins Abwesenheit zu nutzen und den Rest hinter sich zu bringen.

Drei Poster von Ansel Adams dominierten die Wand auf Radins Seite: schlichte, schwarz weiße Landschaften von Bergen, Eis und Flüssen. Sie gefielen Dan und es gefiel ihm auch, dass Radin den Raum ziemlich spartanisch gehalten hatte. Doch das bedeutete nur, dass sie beide Schnickschnack ablehnten und die Natur mochten. An den hohen, schmalen Fenstern hingen keine Vorhänge, aber die dunkelgraue Wandfarbe war nicht schlecht.

Regen prasselte gegen die Metallfassade, ließ die Aussicht verschwimmen und der Donner war so mächtig, dass das Gebäude darunter erbebte. Dan schaltete das Deckenlicht ein, als der Sturm den Raum verdüsterte. Was für ein Start für eine ohnehin düstere Aufgabe.

Er sah die Kommode und dann den Kleiderschrank durch und fand wie erwartet Socken, Thermowäsche und perfekt gebügelte Uniformen. Dann hockte er sich vor das Schließfach. Eine Wolke Zedernduft stieg von den an den Deckel geklebten Säckchen und den großen Holzkugeln in den Ecken auf. Dan klopfte den Inhalt des Schließfachs ab – Wolldecken, ein Parka, ein leerer Rucksack – und genoss den kribbeligen, sauberen Geruch. Aber nichts davon nützte ihm etwas, also schloss er das Fach wieder und lugte unter das Bett. Zwei durchsichtige Plastikboxen und Schuhe. In den Boxen waren Notizbücher und Papiere über verschiedene Vorfälle, die datiert und archiviert waren, aber keine von dem Tag, den Dan suchte.

Er brummte und kam vorsichtig auf die Füße, um das perfekt gemachte Bett nicht durcheinanderzubringen.

Bestimmungsbücher und ein Glossar für Signalflaggen füllten das kleine Bücherregal auf dem Schreibtisch. Er fuhr mit einem Finger über die abgenutzten Buchrücken und seufzte. Nicht ein Krimi oder Science-Fiction-Roman war darunter. Die Schubladen im Tisch stellten sich als interessanter heraus. Die untere war voll mit Schokoladenriegel-Familienpackungen, aber Dan hielt sich davon ab, einen Riegel zu nehmen. In der obersten Lade waren neuere Akten und in der mittleren ein überraschendes Chaos aus Bleistiften, Kulis, leeren Riegelverpackungen, einem E-Reader mitsamt verdrehtem Kabel und einem handgroßen, schlichten schwarzen Notizbuch.

Dan setzte sich, zog das Gummiband vom Notizbuch und blätterte es durch. Radin machte sich knappe Notizen zu jedem Tag sowie den Wetterbedingungen und fügte winzige Illustrationen hinzu wie eine Sonne, die hinter den Wolken hervorlugte, oder ein Blitz mit Regentropfen. Es gab einige andere Symbole, die er nicht deuten konnte. Sie variierten von Tag zu Tag, wiederholten sich aber im Lauf der Wochen.

Er las mehrere Seiten, ohne nachzudenken, und hielt dann inne. Es war lächerlich, sich zu fühlen, als würde er herumschnüffeln, denn genau das war ja sein Ziel, aber er schloss trotzdem das Buch, zog das Gummiband wieder darum und legte es in die Lade zurück.

Vielleicht hatte Radin irgendwo einen Lagerraum, aber Dan fand keine Schlüssel oder Rechnungen dafür. Er würde heute ohnehin keine Zeit für einen Ausflug haben.

Er seufzte und schob die Lade zu, bevor er aufstand. Die Schlagzeile fiel ihm wieder ins Auge und dröhnte in seinem Kopf wie ein Signalhorn oder ein geflüsterter Fluch.

Rettungsschwimmer auf See verschollen, tot geglaubt.

Dan legte eine Hand auf die Überschrift, schloss die Augen und schwor sich erneut, herauszufinden, warum.