Loe raamatut: «Sein Leben schreiben», lehekülg 3

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2. Leben in der Zeit
2.1 Zeit und Zeittranszendenz

Zeit ist dem Menschen so fundamental wie die Sehnsucht nach der Freiheit von der Zeit. Der Urgegensatz zwischen der Zeit und ihrem Anderen weist in die ältesten Ursprünge der Denkgeschichte zurück. Für klassische Metaphysik ist das wahrhafte Sein ein zeittranszendentes Sein, jenseits des Entstehens, des Wandels und des Vergehens. Schon Parmenides, wichtigster Wegbereiter metaphysischen Denkens, beschreibt das Seiende als eines, das weder war noch sein wird, sondern jetzt, zusammen, ganz, eins ist1: Reine Gegenwart ist das absolut Andere der Zeit, jenseits des Flusses des Werdens und Veränderns, der Zerstreuung ins Gewesene und Noch-nicht-Seiende. Zeit erscheint als Negativum, als Seinsmangel. Was zeitlich ist, was in der Zeit existiert, ist nur in defizitärer Weise seiend.

Dieses Spannungsverhältnis, das in der Philosophie in seinen ontologischen und logischen Konsequenzen durchmessen wird, affiziert von vornherein das menschliche Leben. Der Mensch lebt in der Zeit, er ist glücklich in der Zeit und er leidet unter der Zeit, er sehnt sich nach dem Jenseits der Zeit. Im Folgenden soll die Frage nach der Zeit in dieser existentiellen Bedeutung, nicht ihrer metaphysischen und epistemologischen Weite verhandelt werden. Indessen ist auch in dieser eingeschränkteren Perspektive relevant, dass die systematische Dichotomie zwischen der Zeit und ihrem Anderen keine einfache ist und der gängige Begriffsgegensatz von Zeit und Ewigkeit das in Frage stehende Verhältnis nicht abschließend beschreibt. Jenseits der zeitlichen Prozessualität lassen sich unterschiedliche Gegeninstanzen auseinanderhalten: die reine Zeitlosigkeit dessen, was nicht temporal verfasst ist (logische Verhältnisse, Zahlen), die Dauerhaftigkeit des Seienden, das keinem Entstehen und Vergehen unterworfen ist (die Gestirne bei Aristoteles), die ›ewige‹ Immergleichheit dessen, was sich endlos in derselben Weise bewegt und reproduziert (die Wiederkehr des Gleichen, das mythische Verhängnis), die Ewigkeit des ewigen Lebens als jene Zeittranszendenz, die nicht die innere Bewegtheit hinter sich lässt, sondern sie auf einer höheren Ebene vollzieht, schließlich die Ewigkeit in der Zeit (als Teilhabe des Lebens am Ewigen, Mimesis ans Ewige, zeitloses Verweilen).2 Im Blick auf diese strukturelle Vielfalt geht es etwa in metaphysikkritischen Diskussionen darum, die von metaphysischen Positionen anvisierte ›Ewigkeit‹ als eine des Zeitfremden oder zwanghaft Immergleichen zu entlarven und ihr gegenüber die in einem höheren Leben vollzogene Transzendenz des Vergänglichen zu kontrastieren. Ebenso stellt sich mit Bezug auf den lebensinternen Umgang mit der Zeit die Frage, in welche Formen er sich ausdifferenziert und inwiefern in diesen zugleich die übergreifende Polarität von Zeit und Zeittranszendenz ausgetragen wird. Im Ganzen bleibt die Differenz zwischen der Zeit und ihrem Anderen für die Frage nach der Zeit kulturgeschichtlich und anthropologisch grundlegend. Nach der Zeit zu fragen heißt auch nach ihrer Grenze, ihrer Überwindung und ihrem Jenseits zu fragen.

2.2 Die Zeit des Lebens
(a) Dimensionen des Zeitlichen

Wenn wir nach der Zeit des Lebens, dem Zeiterleben im menschlichen Dasein fragen, so wird eine Unterscheidung relevant, die in Zeittheorien oft als Grundraster fungiert: die Unterscheidung von subjektiver und objektiver Zeit. In unserem Zusammenhang interessiert die Differenz nicht im Blick auf die prinzipielle Frage nach der Konstitution, dem ontologischen Ort der Zeit. Es gibt, auch im Raum der Existenz, die Zeit, die mein Erleben strukturiert, mein Zurückblicken auf Erlebtes und mein Entwerfen und Hoffen trägt, und es gibt die Zeit, die unabhängig von meinem Tun, meinem Verweilen und Drängen verläuft, für dieses einen Grund und Rahmen, je nachdem eine Gegendynamik bildet. Immer steht die innere Zeitlichkeit des Lebens im Verhältnis zu einer Zeit, die nicht nur aus dem Leben kommt, nicht in seiner Macht, zumal der des einzelnen Lebewesens, steht.

Zu dieser basalen Differenz kommt eine zweite hinzu, welche die Auffassungsweise des Zeitlichen betrifft. Seit der ältesten theoretischen Reflexion wird dieses nach zwei unterschiedlichen Rastern thematisiert, der Differenz von Vergangen – Gegenwärtig – Zukünftig und dem Schema von Früher – Gleichzeitig – Später. Es ist bemerkenswert, dass sich diese beiden Begriffsraster schon früh – etwa in den klassischen Zeitabhandlungen bei Platon, Aristoteles, Augustinus – finden und durch die Tradition hindurchziehen, in neueren Diskussionen meist im Anschluss an einen Vorschlag von McTaggart3 als A-Reihe und B-Reihe bezeichnet; bemerkenswert ist auch, dass gerade in der neueren Diskussion die Frage ihres Verhältnisses aufgeworfen wird, wobei ihre gegenseitige Nicht-Reduzierbarkeit zum Thema wird. Von Interesse in unserem Kontext ist das Verhältnis zur ersten Differenz von objektiver und subjektiver Zeit. Zwischen ihnen besteht keine einfache Analogie, sofern beide Raster von Früher – Gleichzeitig – Später und Vergangen – Gegenwärtig – Zukünftig innerhalb des subjektiven Auffassens und Artikulierens zum Tragen kommen: Wir strukturieren die Zeit unseres Lebens und vergegenwärtigen Phasen unseres Lebens nach beiden Relationen. Doch sind sie beide nicht in gleicher Weise subjektbezogen: Während die erste die relative Position von Ereignissen in einem Abfolgeverhältnis unabhängig vom Erleben bezeichnet und im Verlauf der Zeit unverändert bleibt, definiert sich die zweite im Bezug zu einem gegenwärtigen Referenzpunkt, idealiter dem Standpunkt subjektiven Erlebens und Auffassens, und verschiebt sich mit dessen Voranschreiten in der Zeit. Erlebnisse der frühen Kindheit bleiben immer hinter denen des Jugendlichen zurückliegend, während dessen nahe Zukunft dem Älteren zur Vergangenheit wird.

Die Dualität der Auffassungsweisen gehört mit zur Grundstruktur existentieller Zeitlichkeit. Ihre lebensweltliche Relevanz hat sie darin, dass sie das subjektive Erleben in Polarität zu einer nicht aus dem Subjekt kommenden, nicht (nur) in ihm verorteten Temporalität setzt. Es ist eine Polarität, die das Leben in der Zeit von Grund auf affiziert und die sich über die genannten Relationen hinaus erstreckt. Der Mensch bezieht sich in der Zeitlichkeit seines Lebens zugleich auf die Zeit der Welt, die Naturzeit wie die geschichtliche und soziale Weltzeit. Lebenszeit und Weltzeit4 bilden ein Verhältnis, welches das menschliche Leben umfängt und es zugleich in seinem Inneren betrifft und strukturiert, wie der Mensch generell mit der Welt kommuniziert, Gehalte und Formen der Sinnbildung aus der Welt aufnimmt und in sie hinein entwirft. Es ist eine Beziehung, in welcher unterschiedliche Zeitgefäße, Rhythmen und Verlaufsfiguren ineinander spielen und nebeneinander laufen, sich verschränken und sich gegeneinander sperren. Jenseits der Weltzeit kann sich das Leben auf eine der Sukzession enthobene Ordnung beziehen, das Verhältnis von Innerzeitlichem und Überzeitlichkeit eröffnen. Auch dieser Bezug kann als innere Dimensionalität des Selbst erschlossen, im Entwurf des Lebens verankert werden, das sich auf eine höhere Zeit hin öffnet.5

(b) Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

Von diesen externen Bezügen haben wir nun zur Binnenstruktur der existentiellen Zeitlichkeit zurückzugehen, die für die folgenden Betrachtungen den Ausgangspunkt bildet. Ihr Herz bildet die sogenannte dimensionale Zeit, das Aufgespanntsein des Lebens zwischen den Dimensionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft (entsprechend der genannten A-Reihe). In allem, was er ist und erlebt, findet sich der Mensch in diesem Horizont der Zeit, alles was er tut, vollzieht er in diesem zeitlichen Raum. Die moderne Phänomenologie hat die Konstitution der Zeit, die Ausbreitung des zeitlichen Feldes und das Unterwegssein der zeitlichen Bewegung als Grundlage und inneren Nerv aller Erfahrung herausgearbeitet. Immer kommen wir von Vergangenem her, finden wir uns in einem Hier und Jetzt und sind handelnd oder erwartend auf Kommendes gerichtet; diese zeitliche Substruktur ist im körperlichen Tätigsein, im sozialen Interagieren, im Schreiben eines Buchs oder im Musikhören (Paradigma der Zeitanalyse) gleichermaßen vorausgesetzt und an der Gestaltung des jeweiligen Gegenstandes beteiligt. Zuletzt wird die Konstitution des Subjekts selbst, sofern dieses nicht nur abstrakter Bezugspunkt der Erscheinung der Dinge, sondern für sich seiendes Selbst ist, in ihrer temporalen Dichte und Verweisung sichtbar. Die Temporalstruktur durchdringt das Subjekt und seine Welt in gleicher Weise.

Das Hauptgewicht der existentiellen Reflexion gilt nicht der allgemeinen Struktur, sondern den einzelnen Dimensionen dieses zeitlichen Ausgespanntseins. Es sind drei Ausrichtungen, die ihre Konkretisierung in unterschiedlichen Haltungen und Verhaltensweisen finden und mit denen sich je eigene Leitideen und Probleme verbinden.

In seiner ersten, ursprünglichen Haltung scheint menschliches Leben der Zukunft zugewandt. Seine Dynamik ist die einer teleologischen Gerichtetheit. Leben ist eine vorwärts drängende Bewegung; als strebender und handelnder ist der Mensch auf Ziele gerichtet, die vor ihm liegen. Kognitive, affektive, praktische Haltungen schreiben sich dieser Gerichtetheit ein. Als erwartendes, planendes, antizipierendes, aber auch hoffendes, fürchtendes Lebewesen hat der Mensch die Zukunft in allen möglichen Gestalten vor sich: als offene oder geschlossene, bekannte oder verdeckte Zukunft, als erfüllende oder bedrohliche, als von ihm selbst herbeizuführende oder ihm entgegenkommende, über ihn hereinbrechende Zukunft. Wenn der Mensch für die Existenzphilosophie ein sich selbst verstehendes und sich interpretierendes Wesen ist, so ist er dies in erster Linie darin, dass er sich auf seine Möglichkeiten hin entwirft und sich von ihnen her begreift. Sich aus der Macht seines Könnens verstehen heißt sich mit Bezug auf die Zukunft, auf seine Zukunft hin verstehen. Indessen ist die Zukunft nicht in seine Hände gelegt. So fundamental wie das Ausgreifen und Sichentwerfen ist die Erfahrung des Nichtverfügens, des Nichtkönnens und der Ohnmacht. Doch ebenso kann ihm die Zukunft als Verheißung entgegenkommen, als Raum der Utopien und Wünsche geöffnet sein. Emphatische Konzepte nehmen eine Zukunft in den Blick, auf welche das Subjekt nicht ausgreifen und die es nicht vorhersehen kann, sondern die ihm entgegenkommt und sich ihm öffnet – gleich dem Anderen, den ich nicht erwarten kann und der auf mich zukommt.6 Sich nicht von seinem Grund und Ursprung her zu verstehen, sondern vom Ausstehenden und Entgegenkommenden, den latenten Tendenzen und den nach vorne drängenden Bewegungen her, ist die Umkehrung, die Ernst Bloch im Prinzip Hoffnung fordert.

In so vielfältiger Gestalt wie die Zukunft erscheint die Vergangenheit im Leben des Menschen. Sie eröffnet ihm Möglichkeiten und sie engt ihn ein, sie trägt ihn in seinem Sein und sie drückt ihn nieder. Sie legitimiert ihn und klagt ihn an, sie ist Quelle der Befreiung und lähmende Macht. In allen Formen gehören das Vergangenheitsbewusstsein, das bewahrende Gedächtnis, die vergegenwärtigende Erinnerung zum menschlichen Leben. Je nach dem Charakter des Vergangenen, den Erfordernissen der Gegenwart und der seelischen Disposition der Menschen gewinnt Erinnerung für sie einen verschiedenen Stellenwert. Dem hohen Lied der Memorialkultur steht die soziale Marginalisierung, zuweilen die polemische Verbannnung des Gedächtnisses gegenüber. Für den einzelnen wie für die Gesellschaft kann beides zum vitalen Bedürfnis werden, die Vergangenheit aufzuarbeiten und kritisch zu durchleuchten, aber auch mit ihr zurecht zu kommen, sie ruhen zu lassen, sich von ihr frei zu machen. Worauf das Bedürfnis geht, kann gleichzeitig zur Belastung, zur existentiellen Herausforderung werden. Der Rückblick und die Besinnung können Gegenstand der Freude und des Stolzes, aber auch der Scham und der Trauer sein. Auch erkenntnismäßig findet der Bezug zum Vergangenen in variierenden, teils entgegengesetzten Formen statt. Die Vergangenheit kann uns bedrängen, in unseren Alltag eindringen, sie kann uns transparent vor Augen stehen, aber auch verdeckt und verborgen sein, sich dem Erinnern hartnäckig verschließen.

Gegenüber den beiden Zeitekstasen ins Gewesene und Künftige erscheint die Gegenwart zunächst wie der neutrale Bezugspunkt, der nichtthematische Boden der Zeitreflexion. Indessen verbinden sich auch mit ihr genuine Zeitvorstellungen, denen sowohl ontologische wie anthropologische Bedeutung zukommt. Zwischen Vergangenheit und Zukunft erscheint Gegenwart als Schwelle und Übergangspunkt, als der flüchtige, nicht festzuhaltende Augenblick des Umschlagens vom Kommenden ins Gewesene, vom Möglichen ins Wirkliche. Als ausdehnungsloser Moment scheint sie keine eigene Realität, kein wirkliches Sein zu besitzen. Doch kann sie auch umgekehrt als das allein Seiende erscheinen, dem gegenüber das Vergangene und das Künftige, als abwesende, nicht da-seiende, in Wahrheit nicht ›sind‹. Die eigentümliche Doppelvalenz findet ihre Korrespondenz im Existentiellen. Auf der einen Seite gilt der Augenblick als Ort der Flüchtigkeit, der Instabilität, des Verschwindens und unablässigen Sichentgleitens; das Leben findet im Jetzt keine Dichte und keinen Halt. Auf der Gegenseite verbinden sich mit der Gegenwart – wie in der ontologischen Vision des Parmenides – Vorstellungen des integralen, erfüllten Seins, der Vollendung und des Mit-sich-Einsseins. Der Begriff der Gegenwärtigkeit schwankt dabei – wie der Gegenbegriff des Abwesenden – zwischen temporaler und räumlicher Bedeutung. Wer wirklich, jetzt ist, ist sichtbar, Aktualsein heißt Sichmanifestieren; wer in der Gegenwart ist, ist sich selbst gegenwärtig. Gegenwart wird zu einer emphatischen, affirmativen Bestimmung des vollendeten Seins und Selbstseins (wie umgekehrt eine Strömung der Metaphysikkritik als Kritik an der Präsenzmetaphysik auftritt). Gegenwärtigkeit steht für ein Ideal des wahrhaften Seins, des Identischseins und Ganzseins.

Interessant ist nun, dass diese Leitidee nicht nur eine der drei Sphären des dimensionalen Zeitbewusstseins strukturiert. Die Idee der Gegenwärtigkeit bildet desgleichen einen Fluchtpunkt sowohl des Zukunfts- wie des Vergangenheitsbezugs. In beiden Weisen des Hinausgehens über das Jetzt, im Vorausgehen wie im Zurückblicken, fungiert das Ideal des Ganzseins und Sich-selbst-Findens als Richtschnur und treibendes Motiv. Nach Heidegger ist es das Vorlaufen zum Ende, das Sein zum Tode, welches in bevorzugter Weise das Ganzseinkönnen des Daseins ermöglicht. Vom Ende her, angesichts des Endes und im Zurückblenden vom Ende her, sind wir mit dem Ganzen unseres Lebens konfrontiert, uns in der Ganzheit unseres Lebens gegeben. Doch auch im offenen Entwurf, im Wünschen und Projizieren ins Künftige kann die Vorstellung, zu sich zu kommen und sich gegenwärtig zu werden, zum Leitstern werden. Ebenso aber kann die Sehnsucht nach Gegenwart als Triebkraft des Erinnerns wirken. In der Herkunft heimisch zu werden, sich in ältesten Hoffnungen wiederzuerkennen, seine Geschichte zu erkunden und auszubreiten kann vom Bedürfnis getragen sein, nicht nur Früheres aus dem Entschwundensein heraufzuholen, sondern sich selbst im Rückgang zum Vergangenen in seinem Leben präsent zu werden. Das von Proust evozierte Glück ist nicht zuletzt eines der erfüllenden Präsenz.

Nun hat nicht nur Proust die Fragilität dieses Glücks erkannt, die ungesicherte Mühsal des Erinnerns beschworen. Viel umfassender ist das Leben in der Zeit seit je in seiner Abgründigkeit, seiner Gefährdetheit erfahren und reflektiert worden. Zeit ist nicht nur eine tragende Dimension menschlichen Lebens, sondern gleichzeitig eine existentielle Herausforderung. Die ungelöste Spannung zwischen Gelingen und Misslingen bleibt dem Leben in der Zeit unhintergehbar.

2.3 Die Herausforderung der Zeit

Nach allen drei Dimensionen kann das Leben in der Zeit gelingen oder misslingen. Es kann zur erstrebten Fülle und Selbstgegenwart führen – oder leer sein, dem Menschen entgleiten, die Präsenz in Abwesenheit verkehren. Zeit fordert den Menschen heraus, im Denken wie im Leben. Kaum etwas ist in vergleichbarer Mannigfaltigkeit und vielfältigerer Wertung in den kulturellen Zeugnissen der Menschheit, in Dichtung, Sinnsprüchen und Theorien beschrieben und bedacht worden. Für die theoretische Reflexion gilt Zeit spätestens seit dem berühmten Satz des Augustinus als ein Rätsel par excellence; sie ist jedem selbstverständlich und doch von keinem verstanden.7 Für das praktische Leben ist sie Gegenstand des Glücks wie der Not, Freiheit und Zwang, »unser Erzfeind und unser innigster Freund«.8 Zeit gehört zu den Grundbedingungen des Daseins und stellt gleichzeitig ein Problem, eine existentielle Herausforderung für den Menschen dar. Mit ihr zurechtzukommen, in der Zeit glücklich zu werden, versteht sich nicht von selbst. Nicht nur sind Alltagsphänomene wie Zeitdruck und Zeitknappheit in der modernen Gesellschaft allgegenwärtig geworden. Nicht nur tritt das Leiden an der Zeit in psychopathologischen Phänomenen in Erscheinung. Allgemeiner ist gerade in neueren Theorien die Negativität der Zeit, die seit den ältesten Klagen über die Flüchtigkeit des Lebens und die Sterblichkeit des Menschen zu Wort gekommen ist, als grundsätzliches Problem der menschlichen Existenz aufgeworfen worden.

Im Verhältnis zur Zukunft manifestiert sie sich in der Unfähigkeit, sein Leben zu entwerfen und seine Zukunft zu gestalten. Der Schwund der Kraft, sein Leben zu organisieren und temporal zu strukturieren, der das Lebensgefühl in seiner ganzen Weite affizieren kann, untergräbt hier die elementare Lebenskraft, die uns nach vorne wirft, uns die Initiative ergreifen und tätig sein lässt. Das Versiegen der Kraft, Neues hervorzubringen und Kommendes in die Hand zu nehmen, vertieft sich zur Unfähigkeit, die Zukunft aufzuschließen, ja, sich selbst der Zukunft zu öffnen. Der Mensch steht vor einer versperrten oder einer unbestimmt-leeren Zeit; zuletzt geht er des Zukunftsraums als solchen, der dynamisch-offenen Gerichtetheit der Existenz selbst verlustig. Das von der Existenzphilosophie beschriebene Vorauslaufen des Daseins, das Sichentwerfen in den Raum der Möglichkeiten kann aufgrund der Schwäche des Subjekts, aber auch der Widerständigkeit der Welt erschwert, gegebenenfalls verunmöglicht werden. Die Selbstlähmung des Handelns spiegelt sich in der Implosion der Zeit wider. Das Gewicht des Vergangenen überlagert die Zukunft, hält diese in der Starre des Gewesenen, den Ketten der Wiederholung gefangen.

In anderer Weise kann die Immobilität und Entzeitlichung die Gegenwart selbst durchdringen. Was idealiter als erfüllte Aktualität, als höchste Verdichtung erstrebt wird, zerfällt zum Stillstand der Zeit, zur toten Leere. Es ist eine Gegenwart ohne kommunikativen Austausch mit dem Gewesenen und dem Kommenden, eine auf sich fixierte und starre, substanzlose Präsenz, weder in sich lebendig noch sich übersteigend in den Fluss des Lebens hinein. Es ist eine Zeit, die nicht vergehen will, die nicht als lebendig-bewegte Zeit erfahren wird. Pascal, Kierkegaard und Heidegger haben die Langeweile als menschliche Grundbefindlichkeit geschildert, als jenen Zustand, in welchem sich die Monotonie des linearen Verlaufs mit der Wesenlosigkeit der Existenz im Vakuum der entseelten Zeit verschränkt. In der Depression wird dieser Zustand als seelisches Leiden erfahren, wobei hier wie beim Zerfall der Zukunft die Frage im Raum steht, wieweit die pathologische Form gegenüber dem normalen Leben ein strukturell Anderes ist oder nur eine graduelle Steigerung verkörpert und auf den Begriff bringt, was der conditio humana als solcher wesensmäßig innewohnt.9

Nicht zuletzt findet die Blockierung des Zeitlichen im Verhältnis zum Vergangenen statt. Belastend wird sie dort erlebt, wo das Vergangene die Gegenwart in ihrem Bann hält, statt von ihr verflüssigt, kognitiv und praktisch angeeignet zu werden. Die Unfähigkeit zur erkenntnismäßigen Durchdringung und kritischen Verarbeitung, das Versagen der Kraft zur temporalen Synthese und narrativen Strukturierung zeigen sich auch hier als Symptome einer subjektiven Ohnmacht, die ihr Pendant, teils ihren Grund, in der Übermacht und repressiven Verstellung des Vergangenen selbst haben kann. Gerade mit Bezug auf Vergangenheit wird das existentielle Problem der Zeit, die Schwierigkeit, im Vergehen mit sich eins sein zu können, unmittelbar erfahren und vielfältig thematisiert; die Sehnsucht und Aporie des Erinnerns sind ebenso lebensweltliche Motive wie Angelpunkte der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Gedächtniskultur. Jede Befassung mit dem Vergangenen ist von vornherein mit dem Problem des Entzugs ihres Gegenstandes konfrontiert, dessen Unzugänglichkeit nicht nur durch äußere Distanz, Fremdheit oder Komplexität bedingt ist, sondern ebenso der Abwehr, aber auch der Verschließung und Selbstverhüllung geschuldet sein kann. Die Arbeit des Gedächtnisses hat immer auch und in unterschiedlicher Weise mit dessen Grenze, mit dem Nichterinnerbaren und dem Nichterinnernkönnen zu tun.

Nach allen drei Hinsichten steht das Mit-sich-Einswerden in der Zeit in Frage. Dass das Selbst in seinem Rückblick und seinem Ausgespanntsein in die Zukunft sich selbst gegenwärtig sein kann, wird durch die Zeit ermöglicht, aber auch bedroht oder verhindert. Ganzseinkönnen in der Zeit ist ein prekärer, ungesicherter Zustand. Die Negativität des Zeiterlebens umfasst unterschiedliche Aspekte, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen: die Immobilität und Starrheit des Nichtvergehens, die Leere und Gestaltlosigkeit des Jetzt, die Verschlossenheit und Undurchdringlichkeit der Zukunft, die Last und Fessel des Vergangenen, aber ebenso das unaufhaltsame Fließen, das Entgleiten der Zeit und das Sichverlieren in ihr, die Knappheit und Befristetheit der Zeit, das Schwinden des Zusammenhalts und die Zerstreuung im desintegrierten Zeitfeld.

Aufs Ganze gesehen scheint es sinnvoll, im vielgestaltigen Bereich temporaler Organisation drei Kristallisationspunkte herauszuheben. Ein erster bildet sich um den Gegensatz von Sammlung und Zerstreuung. Dass wir uns im Fluss der Zeit abhanden kommen, uns im Vergangenen nicht finden, uns in der Leere und Diffusion der Gegenwart verlieren, in der dunklen Zukunft nicht erkennen, sind akut erlebte Bedrohungen des Selbst in der Zeit. Dagegen verlangt das Leben, das im Zeitlichen zu sich kommen will, die innere Sammlung, welche den wechselseitigen Zusammenhalt der Erlebnisse und Prozesse und deren Einswerden mit dem Selbst begründet. Der zweite Kern des Zeitlichen liegt im Widerstreit von Vergehen und Bewahren. Darin artikuliert sich die Urerfahrung der Temporalität. Menschen sind mit dem Vergehen aller Dinge konfrontiert und der Vergängnis ihrer selbst ausgesetzt. Die radikalste Drohung des Selbstverlusts liegt in der Sterblichkeit; die erste Gegenwehr gegen die Not der Zeit liegt im Festhalten des Gewesenen. Das Ideal der erfüllten Präsenz behauptet sich als erstes gegen die Auflösung aller Dinge, gegen ihr Entgleiten ins Nicht-mehr-Sein. Dieser Widerstand überlagert sich schließlich mit dem dritten Kristallisationspunkt des Zeitlichen, der Dynamik von Gestaltung und Entformung. Das Festhalten des Zeitlichen ist kein abstraktes Anhalten und Fixieren, sondern ein strukturierendes Gestalten. Die Verwandlung von Zeit in Sinn, die exemplarisch in der narrativen Organisation geleistet wird, verleiht der verlaufenden Zeit die Konsistenz, die sie erinnerungsfähig macht.

So konvergieren die drei Fluchtlinien in einem gemeinsamen Fokus, die vereinigende Sammlung, das bewahrende Festhalten, die gestaltende Strukturierung der Zeit. Sie bilden drei Knotenpunkte der Erinnerung, die als ganze eine tätige Aneignung der Zeit und ein Sichfinden des Menschen in der Zeit realisiert. Wenn Hegel die »Ohnmacht des Lebens« darin sieht, dass in ihm »was anfängt und was Resultat ist, auseinanderfallen«, so ist es erst die Erinnerung, die über diese Unzulänglichkeit des bloß Lebendigen hinauskommt und die Zerstreuung der Zeit überwindet, dem Menschen ein strukturiertes Leben in der Zeit ermöglicht.10 Es ist eine zweifache Kraft, die in dieser Stabilisierung zusammenwirkt, die Kraft des erinnernden Festhaltens gegen den Sog des Vergehens und die Kraft der – temporalen, narrativen, sinnhaften – Strukturierung des Lebens, in welchem der Mensch sich findet und bei sich sein kann. Erst kraft der Formgebung wird Erinnerung zur Potenz der Bewahrung (wie nach Hegel erst die sittliche Schöpfung dem »Verschlingen der Zeit« ein Ziel und Ende gesetzt hat11). In gestaltender Erinnerung setzt sich der Mensch mit der ursprünglichen Herrschaft der Zeit auseinander, mit dem Zerfallen und Vergehen der Welt und seiner selbst. In zugespitzter Weise findet die Erfahrung dieser Herrschaft in einer besonderen Phase des Lebens statt, in der Begegnung mit dem Alter, dem Sterben, dem Tod. Auf sie ist ein Blick zu werfen, bevor die Gegenmacht der Memoria zur Sprache kommt.

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