Loe raamatut: «Die Geschichte der Zukunft»

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ERIK HÄNDELER

Die Geschichte

der Zukunft

Sozialverhalten heute und der Wohlstand von morgen / Kondratieffs Globalsicht

9., vollständig bearbeitete Auflage


Impressum

Widmung

Meinem Großvater Erich Händeler,

der 1931 als Bankangestellter arbeitslos wurde und erst 1936 wieder eine feste Stelle fand, um die Familie ernähren zu können (nach dem dritten, dem Elektro-Kondratieffzyklus);

meinen Eltern,

die in den 70er Jahren unter wirtschaftlichen Turbulenzen zu leiden hatten (nach dem vierten, dem Auto-Kondratieffzyklus),

meiner Generation,

dass wir stark genug sind, den Wandel zu gestalten (jetzt nach dem Computer-Strukturzyklus);

und meinen Kindern,

dass sie in 20 Jahren eine stabile, gesunde und lebenswerte Welt vorfinden.

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

9., vollständig bearbeitete Auflage 2013

ISBN 9783865064356

© 2003 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers Einbandgestaltung: Georg Design, Münster

Titelfotos: Getty Images

Autorenfoto: Manfred Remitz, Berlin

Satz: Brendow PrintMedien, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Titelinformationen

Vorwort

Die Krise ist da

Erst eine neue Kultur der Zusammenarbeit lässt in der Informationsgesellschaft den Wohlstand wieder steigen (Thesen über die nächsten 20 Jahre)

Kapitel 1: Die Zukunft beginnt in der Vergangenheit

Was die Geschichte über ähnliche Situationen wie heute erzählt

Kapitel 2: Kondratieffs Globaltheorie und unsere Wirtschaftspolitik heute

Warum es nicht um Geld geht, sondern um Produktivität, und warum dabei kulturelle Faktoren stärker wirken als Löhne, Zinsen und Staatsausgaben

Kapitel 3: In Zukunft viel Arbeit

Die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen wird zur wichtigsten Quelle der Wertschöpfung

Kapitel 4: Die neuen Spielregeln im Management

Künftig überleben nur jene Firmen am Markt, in denen Menschen produktiver mit Informationen umgehen www.neuearbeitskultur.de

Kapitel 5: Was wir uns künftig ersparen könnten

Die größten Produktivitätsreserven liegen in der Überwindung destruktiver Verhaltensweisen

Kapitel 6: Der Weg aus der Zahlungsunfähigkeit

Wie Gesundheits-Innovationen und gesunderhaltende Strukturen zum Wachstumsmotor werden

Kapitel 7: Börsenausblick

Immaterielle Faktoren entscheiden, welche Aktien künftig Gewinn abwerfen

Kapitel 8: Wissen für die Zukunft

Wie wir lernen, effizient mit Informationen umzugehen

Kapitel 9: Chancen und Perspektiven

Welche Regionen der Welt in den nächsten 20 Jahren prosperieren werden

Kapitel 10: Gelassenheit in Vielfalt

Die Chancen der Kirche(n) im ökonomischen Paradigma der Zukunft

Danksagung

Eine Einladung

Stichwortregister

»Eine wissenschaftliche Erkenntnis setzt sich nicht deshalb durch, weil die Vertreter des alten Systems überzeugt wurden, sondern weil sie aussterben und eine neue Generation an ihre Stelle tritt, die mit den neuen Gedanken aufgewachsen ist.«

Max Planck

»Eine neue Idee wird in der ersten Phase belächelt, in der zweiten Phase bekämpft, in der dritten Phase waren alle immer schon begeistert von ihr.«

Arthur Schopenhauer

»A ship in harbor is safe; but that’s not what ships are made for.«

John A. Shedd

Vorwort

Wer einen Weg aus der instabilen Lage sucht, die die Weltwirtschaft bedroht, sollte Erik Händeler lesen. Der Wirtschaftsjournalist begnügt sich nicht damit, in einer packenden Sprache den Daseinsvorsorgestaat zu kritisieren, mehr Eigenverantwortung zu fordern und von der Senkung von Steuern, Abgaben und Sozialleistungen einen neuen Wirtschaftsaufschwung zu erwarten. Er meint, notwendig sei viel mehr: eine Änderung der Lebensführung des Einzelnen, nicht zuletzt auch seines Verhaltens gegenüber anderen. Im Grunde ist Händelers Buch ein Plädoyer dafür, endlich zu begreifen, dass die Fähigkeit und Bereitschaft der Bürger zu Leistung und Kooperation heute der entscheidende Faktor geworden ist, der Wohlstand schafft.

Auch die Wirtschaftswissenschaft betont ja inzwischen die Bedeutung von Human Capital für die wirtschaftliche Entwicklung. Händeler begründet aber seine zentrale These anders. Er greift auf die Theorie von den langen Wellen der Konjunktur zurück, die in den 1920er Jahren von Nikolai Kondratieff entwickelt wurde. Dies ist ein Wagnis, bei dem ihm kein Vertreter der Volkswirtschaftslehre ohne Einschränkung folgen würde – die Existenz von »langen Wellen« bestreitet niemand, aber die Realität sei zu komplex, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern seien zu groß, eine umfassende Theorie im Stile Kondratieffs sei nicht möglich. Doch die gegenwärtigen Krisensymptome passen zu Kondratieffs langen Wellen: Eine grundlegende technische Innovation wie die Mikroelektronik hat ihren 20 Jahre anhaltenden Wachstumsimpuls verloren.

Erstmals wird hier beschrieben, wie sich in den vergleichbaren Situationen der vergangenen 250 Jahre alle Lebensbereiche im Rhythmus der Kondratieffwellen entwickelten: Sozialverhalten, Technik, Kriege, Machtverschiebungen, Managementmethoden, Revolutionen und Kunst. Damit verstehen die Leser den heutigen Veränderungsdruck. Wir sind einer Rezession mit ihren innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen jedoch nicht ausgeliefert: Detailliert beschreibt Händeler, was sich in den Schulen, in der Arbeitswelt, in der Gesundheitspolitik und im gegenseitigen Umgang ändern sollte. In diesem Umbruch entstehen neue Berufe und Tätigkeiten. Es liegt an uns, ob wir auf den nächsten langen Wachstumsschub hoffen können.

Prof. Dr. Dieter Grosser, Universität München

Die Krise ist da

Erst eine neue Kultur der Zusammenarbeit lässt in der Informationsgesellschaft den Wohlstand wieder steigen (Thesen über die nächsten 20 Jahre)

Zuerst die schlechte Nachricht: Die nächsten Jahre könnten ungemütlich werden. Die Welt wandelt sich zu langsam von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, deswegen wird die Arbeitslosigkeit global zunehmen – trotz stabiler Preise, großer Anstrengungen und niedrigster Zinsen. Das Wirtschaftswachstum sinkt, und das löst Verteilungskämpfe aus. Die Menschen sind verunsichert, weil sie die Veränderungen nicht einordnen können. Erklärungen setzen nur punktuell an. Wer glaubt, wir müssten jetzt nur auf den nächsten Aufschwung warten, um mit der Krise fertig zu werden, der wird lange warten.

Weltweit werden wir bei hoher Unterbeschäftigung auf der Stelle treten, weil der Computer unseren Wohlstand nicht mehr so spürbar erhöht wie seit den 80er Jahren: Mit ihm konnte man zum Beispiel Autos billiger und besser herstellen. Das geht uns jetzt ab: Ein noch schnellerer PC auf dem Schreibtisch macht einen Büroarbeiter nicht mehr effizienter, die Fabrikation ist längst automatisiert, für die meisten Anwendungen der breiten Masse bringt bessere Informationstechnik keinen so großen zusätzlichen Nutzen mehr wie früher. Seit den 50er Jahren hatte sie die Wirtschaft produktiver gemacht: zunächst mit den Groß- und Universalrechnern, die Datenbanken oder Gehaltsabrechnungen billiger und effizienter machten, dann die PCs, schließlich die multimediale Vernetzung mit Handy und Internet.1 Damit ist jetzt ein gigantischer Produktivitätsschub zu Ende gegangen. Er hat mit seinen vielen Anwendungen die Wirtschaft angetrieben, alle Bereiche der Gesellschaft durchdrungen und für sozialen, kulturellen und politischen Wandel gesorgt.2

Das alleine ist noch keine Katastrophe: Wirtschaft entwickelt sich eben nicht gleichmäßig, sondern sie schwankt – das wissen wir aus eigener Erfahrung. Es gibt aber auch langfristige Konjunkturzyklen, die mit 40 bis 60 Jahren viel länger dauern als die Zeiträume, in denen Politiker die nächsten Wahlen planen und jeder Einzelne von uns seinen Werdegang. Das lässt sich durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch verfolgen3, vor allem aber während der letzten beiden Jahrhunderte: Grundlegende Erfindungen wie Dampfmaschine, Eisenbahn, Elektrifizierung oder das Auto haben den Wohlstand auf völlig neue Höhen getragen (siehe Grafik). Benannt sind diese langen Konjunkturzyklen heute nach dem Russen Nikolai Kondratieff (1892 – 1938), der sie 1926 anhand von statistischem Material in der Berliner Zeitschrift »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« beschrieb4. Vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis 1919 hatte er zweieinhalb lange Wellen festgestellt und sagte einen langen Abschwung für die 20er und 30er Jahre voraus (der als Weltwirtschaftskrise auch so eintraf).

Kondratieff suchte den Grund für mehr Wohlstand in produktiveren Herstellungsverfahren: Als die Dampfkraft nach 1769 Spinnmaschinen antrieb, leisteten diese 200-mal mehr als das Spinnrad. Textilien wurden viel billiger, mehr Menschen als vorher konnten sich nun welche leisten. Dazu benötigte dieses Paradigma eine neue Infrastruktur und beschäftigte zusätzlich viele Menschen, um Kohle und Erz zu beschaffen und Waren auf Dampfschiffen in neu gegrabenen Binnenkanälen zu transportieren. Doch das, was man so zum Herstellen und Vermarkten von Gütern braucht, wächst nicht gleichmäßig mit: Irgendwann gibt es einen Produktionsfaktor, der lässt sich kurzfristig nicht mehr vermehren und wird daher so teuer, dass sich weiteres Wachstum nicht mehr lohnt: Das waren ab den 1820ern die Transportkosten. Der Transport war so aufwändig, dass er sich mit ein paar Kutschen mehr auch nicht effektiver lösen ließ. Die Produktivität stagnierte, es kam zu Massenelend und Arbeitslosigkeit.

In dieser Situation – und das war bisher nach dem Ende aller langen Aufschwünge so – wächst der zu verteilende Kuchen nicht mehr. Zwar haben alle Akteure auch weiterhin zusätzliche Bedürfnisse: der Staat in der Verwaltung und Infrastruktur, die Wirtschaft in der Investition und Ausbildung, die Bevölkerung im Konsum, für Krankenbehandlung, Altersrenten und Kindererziehung. Doch die lassen sich nicht mehr durch die langsamer hinzuwachsenden Ressourcen befriedigen, sondern nur noch, indem einem anderen Bereich Ressourcen entzogen werden. Deswegen türmten sich in der Vergangenheit während eines langen Kondratieffabschwungs die Probleme immer auf: Verteilungskämpfe, Handelskriege, Massenarbeitslosigkeit, Lohneinbußen. Stagnierende Wachstumsraten über einen längeren Zeitraum hinweg drücken die öffentliche Stimmung, erzeugen Unzufriedenheit und verschärfen die Diskussionen, nach welchen Prioritäten eine Gesellschaft ihre Ressourcen verteilen soll. Diese Depression endet erst, wenn der knappe Produktionsfaktor durch bessere Lösungen wieder verfügbar wird: Als die Eisenbahn gebaut wurde, verbilligte sie die Transportkosten derart, dass Handel und Industrie über weite Entfernungen ausgedehnt werden konnten. Die Wirtschaft boomte, wieder wurden neue Arbeitsplätze massenweise geschaffen. Das heißt: Wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, kann es nach einem langen Abschwung wieder aufwärts gehen.

Und das ist die gute Nachricht: Die Entwicklung des Computers ist nicht das Ende der Entwicklung der Menschheit. Auch heute gibt es knappe Produktionsfaktoren, die sich nicht einfach von heute auf morgen vermehren lassen und der Wirtschaft weltweit den Atem abdrücken: Jeder hat den Mangel an Energie vor Augen, der zu neuen, aber jetzt nachhaltigen Energien und Technologien führen wird. Die Öffentlichkeit nimmt jedoch kaum wahr, dass es jetzt vor allem um immaterielle Knappheiten geht. Die computerisierte Gesellschaft hat aus einer ökonomischen Notwendigkeit heraus flachere Strukturen in der Arbeitswelt geschaffen. Doch die Menschen, die in der Blütezeit der Industriegesellschaft groß geworden sind, haben nicht gelernt, partnerschaftlich, sachlich und zielorientiert so zusammenzuarbeiten5, zuzuhören oder sich gegenseitig so zu fördern, dass Probleme zu angemessenen Kosten gelöst werden können. Umgang und Lebensstil machen die Menschen so krank, dass sie mit den bisherigen Mitteln nicht wirksam genug geheilt werden. Erst wenn wir ein produktiveres Gesundheitssystem aufgebaut (→ S. 299) und unsere Kultur der Zusammenarbeit den neuen wirtschaftlichen Anforderungen angepasst haben6, werden wir die ökonomischen Probleme bewältigen (Arbeitslosigkeit, Bildung, Rente, Krankheitskosten, Steuerausfälle – denn diese Probleme gehören alle zusammen). Wir sind der Krise daher nicht ohnmächtig ausgeliefert. Wir haben die Wahl.


Leo Nefiodow hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass der fünfte Kondratieff zu Ende gehen und ein neuer Zyklus kommen werde, der von dem Streben nach Gesundheit angetrieben werde.7 1996 gab er im eigenen Verlag sein Buch »Der Sechste Kondratieff«8 heraus, in dem er den Gesundheitszyklus ausführlich beschrieb. Ich bin damals freier Journalist geworden, um die Kondratiefftheorie, deren Originaltexte ich vorher durchgearbeitet hatte (siehe Kapitel zur Kondratiefftheorie, S. 182), und ihre politischen Konsequenzen in eine breite öffentliche Diskussion zu bringen.9

Doch die bisher erreichte Aufmerksamkeit bewegt noch nicht die Politik: Informationsgesellschaft heißt nicht etwa, dass Gedanken schneller als früher verbreitet werden. Sondern dass es im Gegenteil immer mühsamer wird, in dieser gigantischen Flut ewig wiedergekäuter veralteter Ideen den besseren Argumenten Gehör zu verschaffen. Zwar haben viele die Theorie der langen Konjunkturzyklen aufgegriffen, dann aber nur fragmentarisch als Steinbruch für ihre persönlichen Zwecke. Nach Hunderten Presseartikeln und Vorträgen sehe ich noch nicht, dass die politische Diskussion darauf eingeht. Dabei haben wir jetzt keine Zeit mehr zu verlieren. Die vergangenen Bundestagswahlkämpfe drehten sich immer noch lediglich darum, ob Steuern erhöht oder gesenkt werden sollten, ob die Regierung Schulden machen solle oder nicht. Dabei geht es – jenseits der üblichen angebots- oder nachfrageorientierten Konzepte – in Wirklichkeit um eine ganz andere Qualität von Wirtschafts-, Bildungs-, Gesundheits-, ja Gesellschaftspolitik.

Denn das ist das Besondere an der Kondratiefftheorie: Wirtschaft ist nicht nur ein ökonomischer, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Vorgang.10 Wenn eine grundlegende Erfindung die Wirtschaft über viele Jahre hinweg antreibt, dann berührt sie alle Bereiche des Lebens. Denn es gibt neue Spielregeln und Erfolgsmuster dafür, wie man Wohlstand schafft; die neue grundlegende Erfindung verändert die Art, wie sich eine Gesellschaft organisiert – schließlich wollen die Menschen die neue Basisinnovation optimal nutzen. Dazu gehören eine neue Infrastruktur, neue Bildungsinhalte, neue Schwerpunkte in Forschung und Entwicklung, neue Führungs- und Organisationskonzepte in den Unternehmen. In der Vergangenheit war das immer so: Jene Volkswirtschaften, die sich auf die neuen Spielregeln und Erfolgsmuster am besten einstellten, konnten mit ihrer technischen Spitzenposition in den neuen Wachstumsbranchen genug Arbeitsplätze schaffen, gute Sozialleistungen anbieten und große Armeen finanzieren. Die Engländer sind also im 19. Jahrhundert nicht deswegen reich und mächtig, weil die Zinsen niedrig, Löhne, Staatsausgaben oder Geldmenge hoch oder niedrig sind (so die zweitrangigen, wenn nicht sogar irrelevanten Themen der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte, siehe Kapitel zur Wirtschaftspolitik, S. 182), sondern weil sie zuerst mit der Dampfmaschine, dann mit der Eisenbahn eben viel produktiver sind als jene Volkswirtschaften, die das Tuch noch per Hand weben und sich mit einem Eselskarren über morastige Feldwege quälen.

Weil Großbritannien nach 1890 an den Erfolgsmustern von Kohle und Dampf festhält, sich nicht an die neuen Anforderungen des dritten Kondratieffs anpasst (elektrischer Strom löst Boom des Stahls und der Chemie aus) und sich ab dem Zweiten Weltkrieg nicht schnell genug auf den vierten Kondratieff einstellt (Petrochemie, Auto), wird es von den USA und Deutschland überholt (siehe Geschichtskapitel, S. 29). Bis zum Ölschock 1973 wächst die Wirtschaft mit allem, was mit billiger Erdölenergie zu tun hat – durch das Auto samt Infrastruktur von der Fahrschule bis hin zur Autobahnraststätte. Auch die Sowjetunion ist damals dank ihrer riesigen Energiereserven in der Lage, Großmacht zu sein – und zerfällt, als Macht von Faktoren abhängig wird, die sie mit ihren starren Strukturen nicht bewältigen kann. Nach einer vergleichsweise kurzen Krisenzeit mit Weltuntergangsszenarien (»Grenzen des Wachstums«) trägt die Informationstechnik das Wirtschaftswachstum. Vor allem die USA und Japan nutzen die neue Basisinnovation. In Europa verhindern zunächst starke Vorbehalte (»Jobkiller Computer«, »Die verkabelte Gesellschaft«) ihre Diffusion. Deswegen fielen die Europäer seit den 70er Jahren in der Produktivität vergleichsweise zurück und verloren im 5. Kondratieff viele Arbeitsplätze. Doch die Karten werden jetzt wieder neu gemischt.

Das macht die Kondratiefftheorie im Gegensatz zu den mechanistisch-monetären Denkmodellen der etablierten Wirtschaftswissenschaft so brisant: Wie stark oder schwach die Wirtschaft eines Landes prosperiert, entscheidet sich demnach an der Frage, wie sehr seine Bewohner die neuen technischen, aber eben auch sozialen, institutionellen und geistigen Erfolgsmuster verwirklichen.11 Das ist eine andere Perspektive als die klassische Vorstellung, Vollbeschäftigung pendele sich über den Marktpreis ein. Und auch der Machbarkeitswahn des Keynesianismus, über makroökonomische Gießkannengrößen wie Geldmenge und Staatsausgaben die Konjunktur global zu steuern, hat sich in der harten Marktwirklichkeit längst aufgelöst. Die tieferen Ursachen der aktuellen Krise können diese Theorien weder erfassen noch lösen ( Kapitel zur Wirtschaftswissenschaft, S. 182): Sie sind in den realen Produktionsbedingungen zu suchen.

Die Wachstumsraten der Informationstechnik gehen schon seit den 90er Jahren zurück. Der erste Schock dieses auslaufenden Paradigmas ist nach der Jahrtausendwende zu spüren. Die Schränke sind voll, der Bedarf mit langlebigen Konsumgütern gedeckt, die Lebensmittel in den Discountermärkten werden immer noch billiger, und selbst die größte Preissenkungsaktion in der Geschichte des Sommerschlussverkaufs bringt nur bescheidene Verkaufszuwächse. Die Zuversicht sinkt. Der einbrechende Werbemarkt dünnt Zeitungen und Redaktionen aus – und könnte langfristig das journalistische Niveau senken. Zeitungen streichen Beilagen oder werden von ihrem Verlag ganz eingestellt.

Wenige Jahre ist es her, dass man an das Ende aller Konjunkturzyklen und das ewige Wachstum glaubte. Nach der Jahrtausendwende befindet sich zum ersten Mal seit den frühen 70er Jahren die gesamte industrialisierte Welt in einem synchronen Abschwung. Alles legt den Rückwärtsgang ein: Welthandel, Tourismus, Transport. Das Attentat vom 11. September 2001 auf das World Trade Center ist oft nicht der Auslöser, sondern nur eine günstige Gelegenheit für Manager, unangenehme Anpassungen an die gesunkene Nachfrage durchzuziehen.

Dass eine große Rezession bevorstehen könnte, darüber können auch die nach den Einbrüchen wieder gestiegenen Aktienkurse und Immobilienpreise nicht hinwegtäuschen, die durch künstlich niedrige US-Zinsen angefacht wurden: Befeuert vom Aufholprozess der Schwellenländer ist das Durchatmen nur kurz. Weil es am Ende des fünften Kondratieffs nicht mehr genug gibt, wofür es sich lohnt, rentabel zu investieren, geht das Geld in die Spekulation. Die Weltbank warnt im Dezember 2006, der Weltwirtschaft drohe eine Rezession, wenn die Immobilienblase in den USA noch schneller platzt als erwartet und ausländische Investoren auch wegen des großen Handelsbilanzdefizits der USA das Vertrauen in den Dollar verlören. Kurzzeitig erreicht der Ölpreis im Sommer 2008 fast 150 Dollar pro Fass, Aktien bleiben übertrieben hoch, Immobilienpreise klettern immer weiter (weil auch Leute einen Kredit für den Hauskauf bekommen, die ihn sich nicht leisten können) – bis diese Blase ab 2007 leicht abrutscht. Ende 2008 beschleunigt sich der Absturz: Zuerst sinken die Hauspreise, viele Kredite für US-Immobilien sind nicht mehr gedeckt, Banken brechen zusammen, der Konsum geht zurück, der Autoabsatz bricht weltweit ein. Es ist dieselbe Geschichte wie 1929, eben ein Kondratieffabschwung. Mit einem Kredit auf den Wert der Währung und einer unglaublich hohen Neuverschuldung stabilisieren die Industrieländer die Konjunktur, die instabil bleibt, was – was die Fallhöhe nur noch weiter vergrößert. In den guten Jahren waren Schulden kein Problem gewesen. Sie ließen sich ja durch die ständig hinzuwachsenden Ressourcen leicht tragen. Sobald die aber ausblieben, wurden die Schuldzinsen unbezahlbar – das ist der Hintergrund für die Schuldenkrise im südlichen Europa, die es als erstes trifft.

Den eindeutigsten Beweis für die Stagnation lieferte der Kosmetik-Konzern Esteé Lauder beim Platzen der New-Economy-Blase: Die Frauen kaufen Lippenstift, was das Zeug hält. Nach dem September 2001 verkauft der Kosmetikkonzern doppelt so viel Lippenstifte wie sonst. Warum das ein Indikator ist? Wenn Frauen kein Geld für Kleider oder neue Schuhe ausgeben wollen oder können, dann doch wenigstens für einen Lippenstift. Damit haben sie das Gefühl, sich etwas gegönnt zu haben. Je roter der Stift, desto tiefer die Krise – und das knallige Rot ist zurzeit der Renner. Das bestätigen auch die historischen Daten aus den 1920er Jahren.12 Die Lippenstift-Konzerne geben daher in schlechten Zeiten deutlich mehr Geld für Werbung aus: Im Finanzkrisenjahr 2008 waren es um 25 Prozent mehr als 2007.

Die Strukturkrise ist längst da. Die Frage ist nur, wie lange die Stagnation anhalten wird, und wo es gelingt, die Strukturen des nächsten Zyklus zu errichten. Und dabei sollten wir aus der Geschichte lernen: Die tiefen Depressionen der Vergangenheit, als sich das Potenzial der jeweiligen Basisinnovation abgeschwächt hatte, hätten so nicht sein müssen. Die Produktivität stagnierte vor allem deshalb, weil die Gesellschaften zu lange an den vorherigen Strukturen festhielten und sich gegen die neue Basisinnovation so lange wehrten, bis der Leidensdruck zu groß wurde. Die Kondratiefftheorie kann zwar Wachstumsmärkte identifizieren anhand dessen, was an Material oder Kompetenzen knapp geworden ist, aber sie kann nichts darüber aussagen, ob es ausreichend Pioniere geben wird, die ihrer Gesellschaft helfen, ein neues Paradigma zum laufen zu bringen.

Thesen über die nahe Zukunft

Die meisten von uns kennen nur Zeiten, in denen es immer aufwärts geht – die Krise nach dem Ölschock 1973 war nicht so tief, weil der Computer bald stark genug war, als Wachstumslokomotive die Wirtschaft zu tragen. Diese Erfahrung fehlt uns: Wir würden jetzt eine schmerzvolle und kostspielige Zeit vor uns haben, wenn wir nicht aus Einsicht, sondern erst durch den Leidensdruck des fünften Kondratieffabschwungs dazu gezwungen würden, produktiver mit uns, mit anderen und mit Informationen umzugehen. Deswegen sollten wir uns deutlich vor Augen führen, womit frühere Generationen der vergangenen 200 Jahre in den krisenhaft langen Kondratieffabschwüngen zu kämpfen hatten (siehe ausführlich im Geschichtskapitel, S. 29) – wir werden jetzt mit denselben Problemen konfrontiert:

Verteilungskämpfe: Verteilen ist einfach, solange es jedes Jahr mehr zu verteilen gibt. Die Frage, wie die eingenommenen Steuern und Sozialabgaben ausgegeben werden sollen, wird jedoch zum Kampf, wenn nicht mehr, sondern nur noch weniger als bisher verteilt werden kann. Die demokratische Große Koalition der Weimarer Republik zerbricht nach dem dritten Kondratieff 1930 im Streit über eine höhere Arbeitslosenversicherung ( S. 109), die sozialliberale Koalition 1982 an der Neuverschuldung des Bundes ( S. 142), und auch Bismarck trägt sich 1880/​81 mit Staatsstreichsplänen, weil der Reichstag seine Steuer- und Haushaltsvorstellungen nicht genehmigt ( S. 111). Wir erleben diese Verteilungskämpfe zunehmend über die Sozialversicherungen, in der Rente und in den Krankenkassen, aber auch beim Aushandeln von Löhnen. Daran könnte sich die Parteienlandschaft zersplittern wie einst in den 1920er Jahren. Regierungen und Parlamentarier werden sich in den nächsten Jahren ebenso verschärfte Verteilungskämpfe liefern – hoffentlich haben sie dabei die historische Situation der vergangenen Kondratieffabschwünge vor Augen. Denn ausgerechnet dann, wenn es weniger zu verteilen gibt, kommt es darauf an, möglichst viele Ressourcen für neue, produktive Investitionen zu mobilisieren. Zu leisten ist das nur durch einen überproportionalen Konsumverzicht.

Handelskriege: Wenn die Märkte stagnieren, weil sich die Unternehmer weltweit den Gewinn gegenseitig herunterkonkurrieren, während gleichzeitig die bisher hohen Produktivitätssteigerungen ausbleiben, dann reagieren sie zu allen Zeiten gleich: Sie üben immer mehr Druck auf ihre Landespolitiker aus, den heimischen Markt gegen ausländische Waren mit Importzöllen zu verschließen. Aus der liberalen Wirtschaftspolitik Bismarcks wurde so eine nationalkonservative Schutzzollpolitik ( S. 73), die gegenseitigen Zollmauern nach dem Ersten Weltkrieg beschleunigten die Depression 1929/​33 ( S. 96), mit Handelsbarrieren wie etwa technischen Normvorschriften machten sich die Europäer in den 70er Jahren das Leben gegenseitig schwer und verschleppten die wirtschaftliche Einigung Europas ( S. 134).

Das alles ist nicht Vergangenheit, sondern schon wieder Gegenwart. 2001 kommen rund 150 Länder der Welthandelsorganisation WTO in Doha im Emirat Katar zusammen, um Handelsschranken weltweit abzubauen: Die Industrieländer wollen ihre Zölle für Agrarerzeugnisse aus den Entwicklungsländern senken, die Entwicklungsländer ihre Zölle für Industriegüter aus den reichen Ländern. Es geht darum, ob die reichen Länder ihren Wohlstand erhalten und die armen Länder dennoch aufholen können. Alle sind bereit, sich ein wenig zu bewegen, außer den USA: Die USA subventionieren ihre Agrarprodukte und fordern die Abschaffung von Agrarzöllen (was die Länder auf der Südhalbkugel betrifft), um Weizen und Reis leichter verkaufen zu können. Indien und China wollen hohe Zölle, um ihre nicht subventionierte Landwirtschaft zu unterstützen. An dieser Frage scheitert im Sommer 2008 die Welthandelsrunde samt aller bisher ausgehandelten Vereinbarungen über Maschinen, Schuhe und Textilien. Der Streit zeigt, dass die USA und Indien kein Abkommen schließen wollten, weil es die anderen Handelsmauern beschädigt, die sie selbst errichtet haben. Bis November 2010 verzeichnet die WTO 172 neue Abschottungsmaßnahmen innerhalb der G-20-Staaten seit Ausbruch der Krise. Auch das verdeutlicht, wie der Kondratieffzyklus umgekippt ist. Denn im Abschwung drängt man besonders rücksichtslos auf die Märkte im Ausland, das sich mit Handelsschranken wehrt, während im langen Aufschwung der eigenen Markt kaum befriedigt werden kann und arbeitslose Farmer aufnehmen würde.

Dazu kommen weitere Handelskriege zwischen der EU und den USA. Die EU lehnt das mit Hormonen behandelte Fleisch der USA ab, die dafür die Zölle auf französischen Roquefort-Käse verdreifachen. Weil die US-Stahlindustrie mit hohen Zöllen geschützt wurde, hatte sie es nicht nötig, in neue, bessere Verfahren zu investieren. Dadurch hinkt sie hinterher, muss durch noch höhere Mauern vor Konkurrenz bewahrt werden. Versteckte Exportsubventionen, für die die USA von der Welthandelsorganisation (WTO) verurteilt wurde, haben sie nicht zurückgenommen – die Europäer verhängten aus Angst vor weiteren Gegenmaßnahmen nicht die in dem gewonnenen Prozess erlaubten Zölle. Und endet die Ausschreibung für ein neues Tankflugzeug mit einem Großauftrag für Europäer, wird das Projekt zurückgezogen und mit veränderten Angaben neu ausgeschrieben, sodass der heimische Hersteller Boeing den Auftrag bekommt. Die USA schotten sich immer häufiger ab. Es ist erst wenige Jahre her, dass mächtige US-Senatoren ankündigten, die USA würde aus der WTO austreten, sollte ihr Land öfter in WTO-Streitigkeiten unterliegen (was ein fragwürdiges Licht auf das Rechtsverständnis mancher Akteure wirft: Gilt das Recht des Gesetzes oder das Recht des Stärkeren?). Auch über einen niedrigeren Wechselkurs werden diese Handelskonflikte ausgetragen, um den eigenen Export zu stärken. Die USA verhalten sich dabei so, wie sie es seit Monaten China vorwerfen: Durch das Drucken von Geld (denn nichts anderes ist das Kaufen von Staatsanleihen der US-Notenbank Fed) versuchen sie, ihre Währung künstlich niedrig zu halten. Allein die Ankündigung der Fed, unter Umständen noch mehr Dollar in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen, reichte aus, um einen steilen Anstieg des Euro-Kurses auszulösen. Die japanische Notenbank intervenierte massiv, die Schweizer ebenso. Der brasilianische Finanzminister Guido Mantega erzeugte Unruhe, als er die Selbstverständlichkeit aussprach, ein »internationaler Währungskrieg« sei ausgebrochen. Wie schon in den 20er-Jahren hilft das niemandem, weil alle nachziehen.

Gesellschaftspolitisches Klima: Wer einen immer größeren Teil seiner Lebensenergie darauf verwenden muss, seinen Lebensunterhalt gerade noch so zu verdienen, der hat keine Kraft mehr übrig für Experimente und eigene Sehnsüchte. Er signalisiert schon durch seine Kleidung, dass er sich beflissentlich einordnet. Denn bei schlechter Konjunktur kann es den Job kosten, aufzufallen. Anpassung ist mehr denn je die Norm. Der Dresscode signalisiert: Ich funktioniere. Frauen tragen im Büro wieder mehr einen Hosenanzug oder ein klassisches Kostüm – das vermittelt die nötige Distanz und steht für Souveränität. Die Zeit der großen Freiheiten ist vorbei. Wenn das freie Spiel der Kräfte nicht mehr funktioniert und sich die Schönwetterpolitiker an den Problemen verschleißen, die sich ständig noch höher auftürmen, dann ruft das Volk nach der eisernen Faust und der starken Hand. Das gesellschaftliche Klima wird immer konservativer (im negativen Sinne von: eigene Machtstrukturen erhalten auf Kosten gesamtwirtschaftlicher Effizienz; vorrangig eigene Interessen verfolgen, selbst wenn dies das berechtigte Interesse anderer verletzt).

€9,99
Vanusepiirang:
0+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
22 detsember 2023
Objętość:
690 lk 17 illustratsiooni
ISBN:
9783865064356
Kustija:
Õiguste omanik:
Автор
Allalaadimise formaat:
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