Loe raamatut: «Kein Vergessen», lehekülg 5

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Er drückte sich das Handtuch vor das Gesicht, dabei ließ er sich auf die Toilette sinken. Mit in dem Handtuch vergrabenem Gesicht saß er mehr als eine Stunde, währenddessen die Erinnerungen wie Blitze durch sein Gehirn schossen.

Völlig leer und ausgebrannt stand er auf, er musste diesen Artikel noch einmal lesen, vielleicht hatte er den Namen übersehen, vielleicht stand er an anderer Stelle. Konzentriert las er nochmals, dieses Mal Wort für Wort, nichts sollte ihm entgehen. In dem Artikel wurde auf Missbrauchsfälle eingegangen und auch Täter wurden genannt, wenn auch nur unkenntlich bei der Nennung ihres Namens, ausschließlich der Anfangsbuchstabe mit einem Punkt. Der einzige Name, der in dem Artikel genannt wurde, war der eines Therapeuten, ein Dr. Werner Schmidt-Holzer mit Telefonnummer, wohin man sich wenden konnte, wenn man als Betroffener Hilfe suchte.

Er recherchierte weiter, gab Suchbegriffe ein die den gesuchten Namen einschlossen, die einzigen Artikel, die er fand, befassten sich ausschließlich mit dessen Lehrtätigkeit, nirgends ein Hinweis auf seine Taten.

Zum ersten Mal war ihm mit dieser Klarheit bewusst geworden, dass er Opfer eines Verbrechens geworden war, er selbst dies immer nicht hatte wahrhaben wollen. Immer noch weigerte er sich, dieses in Gänze zu akzeptieren, alle Erinnerungen und Gedanken zuzulassen, sich endlich, damit auseinander zu setzten.

Er griff nach seinem Telefon, das Gefühl diesen Therapeuten anrufen zu müssen schien ihn nicht loszulassen. Schnell wählte er die Telefonnummer, Schmidt-Holzer meldete sich eine Frauenstimme am Telefon, erschrocken wollte er auflegen, als die Stimme sich noch mal meldete, Sie wollen meinen Mann sprechen. Bevor er sich melden konnte, klang eine sonore Männerstimme aus dem Hörer, Schmidt-Holzer, wie kann ich Ihnen helfen.

Seine Starre war gewichen, leise sagte er, ja vielleicht können sie mir helfen, ich rufe an, weil auch ich ein Betroffener bin. Noch immer konnte er es nicht aussprechen, was mit ihm geschehen war.

Am besten machen wir einen Termin, Matthias unterbrach, kann ich kurzfristig zu ihnen kommen. Er hörte ein kurzes Rascheln, kommen Sie morgen um zehn Uhr, dann nannte er die Adresse und verabschiedete sich. Danke, aber das konnte er nicht mehr gehört haben, ein Besetztzeichen klang an seinem Ohr. Er vermochte sich nicht vorzustellen, was ihn erwarten, wer ihn erwarten würde.

Völlig zerschlagen stand er unter der Dusche, er hatte keine Minute geschlafen, neben dem Jetlag kamen jetzt auch noch Schlafprobleme dazu, lange konnte er dies nicht aushalten. Bereits zehn Minuten vor dem Termin stand er vor dem Haus, in dem sich in der zweiten Etage die Praxis befand. Er lief umher, er wollte nicht zu früh erscheinen, er hatte nicht vor, diesem Menschen zu zeigen, wie sehr er mit Problemen kämpfte.

Der Mann der ihm öffnete war etwa in seinem Alter, allerdings hatte er bereits einen größeren Bauchumfang, der ihn aber nicht zu stören schien. Das rundliche Gesicht war mit einem Vollbart umrahmt, in welchem bereits die Farbe grau, ebenso wie bei den Haaren, dominierte.

Die braunen Augen sahen ihn neugierig an, wir hatten gestern telefoniert sagte Matthias, während er seinen Blick auf den Rollkragenpullover richtete.

Kommen sie doch herein, ich habe Sie bereits erwartet, dabei trat er zur Seite, um ihn vorbei zu lassen. Er schloss die Tür, dann ging er voraus zu einer Tür, von der Matthias annahm, dass dahinter das Behandlungszimmer lag. Dabei blickte er über die Schulter, wie um sich vergewissern, dass er ihm folgte,

Im Zimmer stand ein Schreibtisch mit Regalen sowie in der rechten Ecke eine Couch mit zwei Sesseln. Bitte setzten Sie sich, dabei zeigte er auf die Couch, während er sich auf einen Sessel setzte.

Sie haben mir gestern nur ansatzweise erzählt, um was es geht, gehe ich recht in der Annahme, dass es das Bartholomäus-Kolleg betrifft.

Er erzählte diesem fremden Mann in groben Zügen, was er in den letzten Tagen durchlebt hatte, wobei er bei dem Vorfall mit Rachel endete. Bis auf ein paar Zwischenfragen hatte ausschließlich er geredet, sein Mund fühlte sich vollkommen ausgetrocknet an. Es war aus ihm heraus gesprudelt, ohne dass er gemerkt hatte, dass er mehr erzählte, als er ursprünglich preisgeben wollte. Es musste an dem sympathischen und vertrauenswürdigen Eindruck gelegen haben, den der Therapeut auf ihn gemacht hatte.

Dieser hatte zwischenzeitlich eine Flasche Wasser sowie zwei Gläser auf den Tisch gestellt, er hatte also gemerkt, dass sein Mund ausgetrocknet war.

Er forderte ihn auf, bitte nehmen Sie sich selbst, wenn Sie möchten. Bedächtig wiegte er seinen Kopf, es ist gut, dass Sie zu mir gekommen sind. Ob zu mir oder zu einem anderen Therapeuten wäre in Ihrem Falle gleichgültig, viel wichtiger ist, dass Sie erkannt haben, dass Sie Hilfe benötigen. Damit haben Sie bereits den schwersten Schritt vollzogen, der zu einer Heilung erforderlich ist.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch wir werden ihre Erfahrungen die Sie durch den Missbrauch erlebt haben nicht erneut vergraben, sondern alles zutage fördern und darüber reden. Danach werden Sie ihr Erlebnis nie mehr vergessen, Sie werden aber anders damit umgehen und Sie werden verstehen, weshalb bestimmte Erinnerungen diese Reaktionen bei Ihnen ausgelöst haben.

Nach dem Gespräch klärten sie noch die technischen Fragen zur Krankenkasse seiner derzeitigen Jobsituation. Zum Abschluss vereinbarten sie einen Termin für kommenden Dienstag, die offenen Fragen würden sich im Laufe der Sitzungen klären.

Die Therapie sollte in einer Gruppe erfolgen, wobei alle Patienten eine ähnliche Vorgeschichte aufweisen würden, alle seien als Kinder missbraucht worden.

Nachdenklich starrte er auf sein Glas, wollte er seine Probleme vor anderen erörtern, unabhängig von deren Erlebnissen mussten diese doch nicht erfahren, was mit ihm geschehen war.

Dr. Schmidt-Holzer spürte die Zweifel bei seinem Gegenüber, ich kann verstehen, wenn Sie Bedenken vor einer Gruppentherapie haben. Ich kann aber aus meiner Erfahrung sagen, dass diese sich bei der Mehrzahl schneller positiv auswirken wird. Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen, der Termin findet am Dienstag um neunzehn Uhr statt. Wenn Sie sich dagegen entscheiden sollten, dann würde ich Ihnen dringend empfehlen einen anderen Therapeuten aufzusuchen. Alles was ich heute gehört habe, deutet darauf hin, dass Sie dringend Hilfe benötigen, dann verabschiedete er ihn.

Vor dem Haus blickte er auf seine Uhr, er hatte fast zwei Stunden über sich erzählt, dabei nicht bemerkt, wie die Zeit verflogen war. Aber er fühlte sich irgendwie erleichtert, es war als hätte er den ersten Schritt einer schwierigen Etappe getan. Das Gespräch hatte ihm wieder etwas Kraft gegeben, vielleicht weil er spürte, dass es ihm gutgetan hatte. Oder lag es daran, dass er diesem Therapeuten von Beginn an vertraut hatte.

Sein Gespräch mit der Agentur hätte er beinahe vergessen, jetzt fiel es ihm wieder ein. Er suchte sich eine stille Ecke, nahm sein Mobiltelefon, um in Hamburg anzurufen. Mit etwas Glück war Claudia immer noch die Sekretärin von Josh, seinem ehemaligen Chef, keiner wusste wie er richtig hieß alle nannten ihn Josh, er wollte es auch nicht anders.

Claudia war noch da und sie freute sich, von ihm zu hören, er erzählte ihr ausschnittweise, dass er Sehnsucht nach Europa gehabt habe, deshalb wieder hier sei. Eigentlich wollte er Josh sprechen, weil er einen Job suche, vorwiegend in Berlin.

Das trifft sich gut meinte sie, der ist gerade in Berlin, da ist wohl ein größerer Umbruch im Gange, am besten sie sage ihm Bescheid. Seine Telefonnummer hatte sie bereits vom Display notiert, er wird sich bei Dir melden. Er bedankte sich bei ihr und versprach ihr ein opulentes Abendessen, wenn er das nächste Mal in Hamburg sein würde.

War es sein Versprechen ein opulentes Abendessen auszugeben oder war es tatsächliches Interesse, Josh meldete sich nach knapp drei Stunden bei ihm.

Hey, Claudia hat mir eine gute Nachricht übermittelt, Du bist in Berlin, wo bist Du.

Ich habe vorerst ein Hotelzimmer im Abion, das trifft sich gut unterbrach Josh ihn, dann kennst Du das Lanninger unten bei Dir im Haus. Treffen wir uns um neun Uhr heute Abend, es gibt bestimmt viel zu erzählen, jetzt muss ich noch zu einer Besprechung, dann legte er auf.

Es hatte sich nichts geändert, Josh fuhr mit Blutdruck zweihundertvierzig durch die Termine. Eigentlich hatte er schon längst mit einem Herzinfarkt oder Ähnlichem bei ihm gerechnet, aber vielleicht brauchte er genau diese Aufregungen.

Seine üblichen Verspätungen betrug früher immer etwa eine halbe Stunde, heute unterbot er diese halbe Stunde, wenn auch nur um fünf Minuten. Sofort erkennbar an seinem dynamischen Betreten, seinem kurzen Blick, in welchem er alles Wesentliche erfasste, steuerte er kurz entschlossen auf den Tisch zu. Obwohl er versuchte jung und dynamisch zu wirken, sah man ihm die Anstrengungen des Tages an.

Sie begrüßten sich herzlich, ihr Verhältnis war durch den Wechsel nie getrübt, auch wenn er den Weggang von Matthias bedauert hatte. Allerdings konnte er auch diesen verstehen, da er für sich etwas Neues entdecken wollte, außerdem stagnierte er in seiner Entwicklung, diese Erfahrungen in New York konnten ihm also nur guttun.

Ich freue mich, dass Du wieder in Deutschland bist und uns nicht vergessen hast, es wäre wirklich ärgerlich gewesen, wenn Du zu einem Mitbewerber gegangen wärst. Claudia hat mir bereits gesagt, dass Du eine neue Aufgabe suchst, deshalb hat sie mich auch sofort angerufen.

Hat sie Dir gesagt, weshalb ich hier bin, Matthias schüttelte den Kopf, während Josh aufseufzte. Hier ist in den letzten Monaten einiges schief gelaufen, außerdem habe ich von Unregelmäßigkeiten gehört. Heute habe ich dem ein Ende gesetzt und den stellvertretenden Zweigstellenleiter auf die Straße gesetzt. Den Posten habe bereits wieder besetzt, er zuckte mit den Schultern, dafür kommst Du zu spät, aber dafür ist die Leitung Marketing frei geworden.

Hast Du Interesse, es klang alles sehr verlockend, was er durch Zufall so unvermittelt serviert bekam, es klang auch verdammt gut, wo war der Haken. Wo ist der alte Marketingleiter, fragte er, oh der ist jetzt der neue Zweigstellenleiter ergänzte Josh das vorher Ungesagte.

Denk in Ruhe darüber nach, Du hast eine halbe Stunde Zeit, in der Zwischenzeit können wir eine Kleinigkeit essen, dabei griff er nach der Speisekarte. Es war typisch für ihn, immer zeigen, dass man selbst das Heft des Handelns in der Hand behält, dem anderen keine Zeit zum Nachdenken lassen.

Eine halbe Stunde, eigentlich eine indiskutable Frist, hier kam ihm diese kurze Frist entgegen. Sie zeigte aber auch, dass Josh unter Druck stand, er suchte schnellstmöglich eine gute Lösung für Berlin, und glaubte, diese in ihm gefunden zu haben.

Jetzt schien ihm aufgefallen zu sein, dass Matthias sich in einem Hotel einquartiert hatte, in dessen Umgebung er sich ebenfalls auskannte, wie er bei der Auswahl des Restaurants gezeigt hatte.

Wieso wohnst Du hier im Hotel, fragte er direkt, es war besser, alle offenen Fragen sofort zu klären, neben dieser hatte er noch einige andere. Weshalb er zum Beispiel gerade jetzt in Deutschland aufgetaucht war, was war mit seinem Job in den USA, hatte er Probleme mit seinem ehemaligen Arbeitgeber usw., aber alles nacheinander. Er blickte ihn neugierig an.

In dieser Gegend habe ich die ersten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens verbracht, hier kenne ich immer noch alles wie meine Westentasche, wie es so schön heißt. Hier bin ich mit Freunden durch die Gegend gezogen, habe die Umwelt unsicher gemacht.

Dass er hier auch seine schrecklichste Zeit hier verbracht hatte, verschwieg er, so sehr vertraute er ihm nicht. Möchtest Du wieder in diese Gegend, fragte Josh neugierig, vielleicht hatte er zusätzlich noch einen Trumpf in der Hand, den er ausspielen konnte. Matthias schaute ihn fragend, worauf wollte dieser hinaus, leichthin meinte er, vielleicht suche ich mir in der Gegend eine Wohnung.

Josh konnte es nicht mehr zurückhalten, er erzählte, dass die Agentur in dem Neubau an der Kirchstraße, der ja hier zum Gesamtkomplex gehörte für den ehemaligen stellvertretenden Leiter eine Wohnung angemietet hatte. Da sie die Wohnung langfristig angemietet hatten, betrug die Restlaufzeit des Mietvertrages noch drei Jahre. Dieser hatte zugesichert die Wohnung innerhalb der nächsten vierzehn Tage zu räumen, wahrscheinlich sogar schneller, da er Berlin wieder verlassen wollte. Du könntest Deine Suche beenden, wenn Du dich für mein Angebot erwärmen könntest, dabei grinste er ihn an, als hätte er alle Trümpfe in seiner Hand vorgefunden.

Sie erzielten schnell eine Einigung, in der die Wohnung Teil der Vereinbarung wurde. Er würde formal in der Berliner Hierarchie eine nachrangige Position innehaben, allerdings sollte über ihn die Kommunikation mit der Zentrale in Hamburg laufen. Eine derartige verfahrene Situation, wie er sie vorgefunden hatte, wollte er nicht wieder erleben.

Sie sprachen über diverse Projekte der Vergangenheit sowie auch Kampagnen in den USA, der Versuch Näheres über das abrupte Ende in New York zu erfahren misslang. Es störte nicht, vorerst, zu gegebener Zeit würde er erfahren, was er wissen wollte. Es gab kein Geheimnis in der Branche, welches nicht früher oder später ans Licht der Öffentlichkeit gelangt wäre.

Es hatte sich alles sehr viel schneller geregelt, als er erwartet hatte, bei der Verabschiedung hatte Josh ihn umarmt und in der Agentur willkommen geheißen. Wie alt mochte er sein, dreiundsechzig, vierundsechzig, er sah auf jeden Fall jünger aus, trotzdem hatte er in ihm eher den väterlichen Freund gesehen. Gerade auch im Hinblick darauf, dass er nie einen wirklichen Vater gehabt hatte, Erzeuger, ja aber auch nicht mehr. Morgen würde er mit ihm zusammen in sein neues Büro fahren, in diesem Zusammenhang sollte er gleich vorgestellt werden, sein eigentlicher Beginn war in zehn Tagen vorgesehen.

In seinem Zimmer schaltete er seinen Computer ein, vielleicht hatte Rachel geschrieben, eigentlich wusste er nicht, was er erwartete, er hatte doch selbst für, aus seiner Sicht, geklärte Verhältnisse gesorgt. Ungeduldig trommelte er auf den Tisch, bis der Rechner endlich hochgefahren war. Schnell startete er seinen Browser und rief sofort seinen Mail-Client um den Eingang zu prüfen, nichts, keine Nachricht von Rachel. Er löschte die Spams, die trotzdem noch den Weg in seinen Account gefunden hatten, dann schloss er ihn wieder.

Egal, eigentlich war alles gesagt, die paar persönlichen Dinge würde er sich nach und nach wieder besorgen. Als Erstes würde er morgen nach der Vorstellung eine neue Ausstattung zum Laufen besorgen. Unbewusst gab er Nike Store Berlin in dem Suchfenster ein, vielleicht gab es auch in Berlin so einen Store wie in New York, er wusste genau, was er wollte. Als sich das Fenster öffnete, sah er auf die Adresse, Tauentzienstraße Ecke Nürnberger, eigentlich kannte er die Ecke. Was war da eigentlich früher fragte er sich, die Adresse brauchte er sich nicht notieren.

Die Vorstellung verlief angenehm, Josh stellte ihn überall vor, die meisten kannten seinen Namen, ansonsten waren es Fremde für ihn. Ein Gesicht glaubte er noch aus seiner Hamburger Zeit wiedererkannt zu haben, sonst blickte er in fremde Gesichter. Überall ein unbestimmter Gesichtsausdruck, sie wussten ihn noch nicht einzuschätzen, waren aber vorsichtig, da der große Boss ihn persönlich vorstellte.

Im Anschluss daran verabschiedete Josh sich nach Hamburg, sie wollten zu gegebener Zeit telefonieren, er fuhr zum Tauentzienstraße. Die Überlegung sich eventuell ein Auto zu kaufen, um beweglicher zu sein, verwarf er angesichts der künftigen Wohnsituation zum Büro. Er brauchte nur zwei Stationen mit der S-Bahn zu fahren, um aus dem Zug direkt ins Büro zu fallen, welches sich in einem Neubau an der Friedrichstraße befand.

Es war kein Vergleich zu dem Store in New York, aber er fand, was er brauchte, sie hatten seine Laufschuhe vorrätig. Zusätzlich besorgte es sich auch wärmere Laufkleidung, morgens war es inzwischen schon so frisch, dass er Angst hatte, zu frieren, wenn er verschwitzt laufen würde. Er lief in Richtung Kurfürstendamm, wie lange war er schon nicht mehr hier gewesen. Das letzte Mal, an das er sich erinnern konnte, war nach der mündlichen Abschlussprüfung, die er mit anderen Kommilitonen in einer Seitenstraße gefeiert hatte. Auch hier hatte sich einiges geändert, er würde seine Heimatstadt neu erkunden müssen, er überlegte, ja, er freute sich darauf.

5. Kapitel

Es war ein Wochenbeginn, wie er ihn seinem schlimmsten Feind nicht gewünscht hätte. Seit Jahren hatte er mal wieder einmal verschlafen und dies nur, weil er nicht sofort das Bett verlassen hatte, als seine Frau ihn geweckt hatte. Als er erneut erwachte, wusste er sofort, auch bei größter Anstrengung würde er zu spät ins Büro kommen.

Natürlich standen auch noch seine Kollegen Spalier, um ihn mit ätzenden Kommentaren zu seinem Büro zu begleiten. Er hätte verstanden, dass sie bissige Kommentare für das Zuspätkommen abgaben, wenn nicht gerade er der Betroffene gewesen wäre.

Mit rotem Kopf und einem Knurren ging er vorbei in Richtung seines Büros. Sollten sie ihn doch alle mal, er unterdrückte irgendwelche Widerworte, die nur obszön ausgefallen wären, ging wortlos weiter, für die nächsten Wochen hatte er genug an Spott einstecken müssen.

Wolfgang saß bereits im Büro und blickte ihn erwartungsvoll an, ja ich habe verschlafen knurrte er auch diesen an, passiert ja selten genug. Er zog seinen Stuhl unter dem Tisch hervor, dann ließ er sich ächzend darauf sinken, jetzt sag bloß nicht das es auch noch schlechte Nachrichten gibt, drohte er.

Nein, versuchte der seinen schlecht gelaunten Chef zu beruhigen, inzwischen gibt’s Nachrichten aus dem Melderegister, es gibt wohl keine Verwandte ersten Grades. In Berlin hatte er überhaupt keine Verwandten, eine entfernte Cousine soll im Schwarzwald leben, Freiburg oder Umgebung, da gibt es noch einige Unstimmigkeiten im Melderegister.

Dann besorg einen Durchsuchungsbeschluss, ich will in die Wohnung, vielleicht gibt es da noch Hinweise. Versuch, dass wir heute noch in die Wohnung kommen, und sag der KTU Bescheid, die will ich auch in voller Stärke dabei haben.

Er dachte wieder an gestern, als er nach Hause gekommen war. Unmittelbar nach Betreten der Wohnung blickte er in das versteinerte Gesicht seiner Frau, die ihn mit Missachtung gestraft hatte. Als er ihr wie immer einen Kuss auf die Wange geben wollte, hatte sie den Kopf weggedreht, war einfach weiter gegangen. Ohne ihn weiter zu beachten, hatte sie ihre Tochter angerufen, mit dieser länger als eine halbe Stunde telefoniert, danach noch mit ihrer gemeinsamen Enkelin gescherzt.

Kaum hatte sie den Hörer aufgelegt, war ihr Gesicht wieder versteinert, glich eher dem der Nofretete, nur nicht so freundlich. Am liebsten hätte er sie gepackt und zur Museumsinsel geschleppt, stattdessen war er zur Tankstelle gefahren, hatte da für teures Geld einen mickrigen Blumenstrauß besorgt.

Als er ihr den mit zerknirschtem Gesicht übergeben wollte, konnte sie ihr Lachen doch nicht mehr unterdrücken. Aber bis dahin, puh, das wünschte er seinem schlimmsten Feind nicht. Er sollte sich überlegen, ob er dieses Talent nicht bei den nächsten Verhören einsetzen konnte.

Seine Gedanken schweiften zu ihrem neuesten Fall, sollte er in der Rechtsmedizin anrufen oder lieber warten, bis diese sich meldeten. Bisher hatte er mit seinen Anrufen immer schlechte Erfahrungen gemacht, wenn immer diese das Gefühl hatten, dass sie gedrängt wurden, dann reagierten die immer so eigenwillig.

Dann fiel ihm ein, dass Gerold heute bestimmt nicht in der Rechtsmedizin anwesend sein würde, da dieser ja gestern Dienst hatte. Nach kurzer Überlegung beschloss er deshalb, seinen Anruf lieber auf einen anderen Tag zu verschieben.

Er wollte sich gerade die Protokolle der am Tatort befragten Personen vornehmen, als die Tür aufging und der Kopf von Wolfgang erschien.

Habe gerade die Zusage bekommen, um zwei Uhr liegt der Beschluss vor, dann können wir in die Wohnung. Ich gehe gleich zur KTU um Bescheid zu sagen, dabei kann ich ja mal unauffällig nachfragen, ob die Auswertung der Spuren etwas erbracht hat.

Jetzt sollte er endlich nachsehen, was aus den Befragungen rausgekommen war, heute wollte einfach nichts vorwärtsgehen. Es gab solche Tage, alles ging schief, es war wie verhext, als wäre er mit dem falschen Fuß aufgestanden. Was überhaupt nicht möglich war, das geschah nur in den seltenen Fällen, wenn er sich mit seiner Frau geliebt hatte und danach auf ihrer Seite einschlief.

Schlafen oder lieben, er hatte sich nie an den Terminus der Jugend gewöhnen können die von Sex haben, Bumsen oder Ficken gesprochen hatten. Wenn er zu Hause etwas Derartiges gesagt hätte, wäre er auf seine Seite verbannt worden, er hatte es aber auch nie probiert. Was sollten denn diese Gedanken hier im Büro, irgendwas musste gestern im Essen gewesen sein, anders konnte er es sich nicht erklären. Natürlich hatten sie gestern im Bett Versöhnung gefeiert, aber er war brav auf seiner Seite eingeschlafen.

Er rief sich zu Ordnung, vielleicht sollte er einfach beginnen zu lesen, das würde ihn bestimmt auf andere Gedanken bringen. Aha, da war die Aussage des Anrufers, dieser hatte, nachdem ihn die Frau angehalten hatte. Diese habe sehr aufgeregt gewirkt, als sie ihn aufforderte, dass er bei der Polizei anrufen soll, da auf der Parkbank ein Toter sitzt.

Der Anrufer kannte die Frau vom Sehen, weil er ihr immer nachschlich, fügte er in Gedanken dazu, ihre Tochter heißt Laura, sie ist etwa vier bis fünf Jahre alt. Sie selbst ist blond, vielleicht Mitte bis Ende zwanzig mit kurzen blonden Haaren sowie einem Leberfleck im Gesicht. Das Alter hatte er nach der Beschreibung geschätzt, außerdem glaubte er nicht, dass der Anrufer die Angewohnheit hatte, älteren Damen hinterher zu laufen.

Mal sehen, was die Nachbarn so über ihren verstorbenen Nachbarn gesagt hatten, die Familie rechts von ihm, na an der Aussage konnte ja nichts verwendet werden. Nach deren Aussage war der Mann ein Engel, der sich verflogen hatte, dann auf der Erde gelandet war.

Der liebe Mann, jeden Sonntag sei er in die Kirche gegangen, seine Frau hatte er immer auf Händen getragen, das konnte ja alles nicht wahr sein. Am besten er rief doch in der Rechtsmedizin an, die mussten den Heiligenschein übersehen haben. Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, jeder hatte eine dunkle Seite, man musste diese nur finden.

Jetzt war er gespannt, was der linke Nachbar sagte, nichts, ach so, der war gar nicht da, in der zweiten Wohnung links fand die nächste Befragung statt. Dieser erzählte davon, dass der Tote nach seiner Kenntnis ein pensionierter Lehrer gewesen sei, darüber hinaus hätten sie jedoch keinen Kontakt gehabt.

Wolfgang schrie Melzer, dann fiel ihm ein, der war ja bei der KTU. Die Frage, die ihm gerade eingefallen war, konnte warten, bestimmt fanden sie Unterlagen in der Wohnung, aus welchen hervorging, an was für einer Schule der Tote unterrichtet hatte.

Stürmisch sprang die Tür auf, etwas außer Atem kam Wolfgang ins Büro, Du hast gerufen, dann ließ er sich auf seinen Stuhl plumpsen.

Ja hat sich aber gerade erledigt, dann blickte er forschend zu ihm. Na was gibt’s an Neuigkeiten aus der KTU, wobei der das T von KTU so lange zog, bis Wolfgang sich aufrecht hinsetzte.

Leider schlechte Nachrichten von den Suchtrupps, der Tatort ist übersät von Spuren, die sehr wahrscheinlich nichts mit der Tat zu tun haben. Eine Zuordnung oder eine Bezugsquelle für das Seidentuch haben sie auch noch nicht gefunden, das Etikett in dem Seidentuch fehlt. Wo auch immer es besorgt hat, aus Deutschland kommt es nicht.

Von eBay knurrte Melzer, alles, was Du nicht im Geschäft bekommst, kriegst Du bei eBay, er machte sich keine Hoffnung bei dem Tuch.

Nein, widersprach sein Kollege, das haben sie wohl gecheckt, bei eBay ist das Tuch nicht verkauft worden. Auf alle Fälle nicht unter einem bestimmten Label grenzte er ein, vielleicht hatte er es als No-Name Tuch gekauft. Es war ja nicht zu erwarten, dass er extra ein Markentuch gekauft hatte, um dem Ganzen etwas mehr Stil zu verleihen. Früher, das heißt, vor diesen Internetverkäufen, war alles sehr viel einfacher.

Etwas Eigenwilliges haben sie aber doch gefunden, der Anstecker, er erinnerte sich an die kleine Schrift, konnte sich aber nicht mehr an die Aufschrift erinnern, ja was ist mit dem.

Diesen Anstecker gibt es so nicht.

Quatsch Du hast ihn doch auch gesehen.

Du hast mich missverstanden, natürlich gibt es den Anstecker, was ich meinte, den Anstecker mit der Aufschrift gibt es nirgends zu kaufen, das muss eine Sonderanfertigung sein.

Seine Neugier war geweckt, erzähl mir mehr.

Also, holte sein Kollege aus als wollte er ihm einen Schwinger verpassen, das musste er ihm noch abgewöhnen, konnte der nicht sofort zum Punkt kommen.

Los knurrte er.

Also, der Aufdruck oder das Piktogramm ist eigentlich ein Verbotszeichen für „Berühren verboten“. Er zog seinen Notizblock hervor, dann las er ASR A 1.3/BGV A8/DIN 4844 vor. Zufrieden blickte er auf, als von gegenüber das hättest Du dir auch sparen können kam.

Ungerührt fuhr dieser fort, das gibt es normalerweise nicht als Anstecker, wobei ich nicht ausschließen möchte, dass man das anfertigen lassen kann. Was allerdings nicht möglich ist, den Anstecker mit der Aufschrift zu versehen, denn dann entspricht er nicht mehr den DIN-Vorschriften.

Jetzt war er fertig, er hatte es beendet, ohne erneut unterbrochen zu werden, was stand eigentlich drauf, er konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern. In dem roten Ring in der oberen Hälfte standen die Worte in Großbuchstaben „KEIN VERGESSEN“. Bevor Du fragst, die haben auch geprüft, ob es einen Verein oder so was gibt, gibt’s nicht, schloss er zufrieden ab.

Konnten die wenigstens feststellen, wo die hergestellt wurden.

Nein, da ist das nächste Problem, solche Anstecker kann man sich aber über das Internet in China, Taiwan oder sonst wo bestellen, einfach Bild hinschicken, irgendwann kommen die Anstecker.

Dieses verfluchte Internet donnerte er jetzt los, eigentlich müssten die eine Erschwernisabgabe zahlen für das, was sie hier verursachen.

Wolfgang zuckte mit den Achseln, was sollte er dazu sagen.

Pünktlich um zwei Uhr kam die Bestätigung, sie konnten endlich, mit richterlicher Erlaubnis, in die Wohnung von diesem Hornbach. Insgesamt fünf Personen standen um den Schlosser des Schlüsseldiensts, um diesem zuzusehen, wie er den Schließzylinder ausbohrte.

Überall öffneten sich Türen und verwunderte meist ältere mit Falten überzogene Gesichter blickten erstaunt auf die Ansammlung.

Was machen sie denn da, kam es krächzend aus dem hinteren Bereich des Hausflurs, sie dürfen da nicht rein.

Melzer sah über die Schulter, auf die kleine verhutzelte Person, die sich vor seinen Leuten, mit in die Hüften gestemmten Armen, aufgebaut hatte.

Wir dürfen, knurrte er unwirsch, Kriminalpolizei, dabei zeigte er seine Hundemarke.

Aber protestierte die Alte erneut, hätten sie was gesagt, hätte ich ihnen den Schlüssel gegeben.

Verblüfft darüber, Sie haben einen Schlüssel, zu spät klang es jetzt hinter ihm, die Tür ist offen, kam es von dem Schlosser. Wir reden nachher, sagte er zu der Frau, wo wohnen Sie, sie zeigte auf die Tür der Wohnung, bis nachher, drehte sich um und ließ sie stehen.

Während der Schlosser einen neuen Zylinder einbaute, strömten die Kollegen der KTU als Erste in die Wohnung. Langsam folgte Melzer mit seinem jungen Kollegen, wobei er sich umblickte. Ähnliche Einrichtungen hatte er schon häufiger gesehen, irgendwie fühlte er sich wie bei einer Zeitreise, um etwa vierzig Jahre zurückversetzt.

Während die KTU die Wohnung systematisch auf den Kopf stellte, machte er sich auf die Suche nach einem Schreibtisch. Er fand ihn schließlich im Schlafzimmer wo er, etwas in die Ecke gequetscht, aber vollständig aufgeräumt, stand. Kein Hinweis, dass auch nur ein Blatt schief auf dem Schreibtisch liegen würde. Bisschen penibel der Alte, dachte er noch als ihm einfiel, dass der Alte, wie er ihn gerade genannt hatte, gerade einmal zehn Jahre älter als er selbst war.

Langsam blätterte er einen akkurat gestapelten Papierstapel durch, entdeckte jedoch nichts, was einen Hinweis auf irgendetwas gegeben hätte. Sein Blick fiel auf zwei Ablagekörbe, die an der Vorderseite mit einer sehr akkuraten leicht geneigten Schrift gekennzeichnet waren. Erledigt, unerledigt stand auf den jeweiligen Körben, welchen sollte er sich als ersten vornehmen, am besten den unerledigten, der andere war ja bereits abgearbeitet.

Langsam blätterte er die unerledigten Papiere durch, noch offene Überweisungen, die noch nicht fällig waren, Briefe, die relativ neu waren, wahrscheinlich noch beantwortet werden mussten. Als letztes Blatt kam er auf einen Brief, der ihn aus seiner stoischen Handlung riss.

Er nahm das Blatt und überflog den Text, es ging schnell, es stand ja auch nicht viel darauf, auf so etwas hatte er gehofft. Wolfgang, schrie er lauter als es erforderlich war, worauf dieser auch sofort auftauchte, wortlos hielt er ihm das Blatt hin, damit dieser es lesen konnte.

Er fing an zu lesen, wobei seine Augen immer größer wurden, es dauerte, er musste den Brief bereits ein zweites Mal gelesen haben bei den paar Zeilen. Boah kam es verblüfft aus den Untiefen seines Schluckorgans, unser Opi scheint doch ein paar Leichen im Keller versteckt zu haben. Dann las er nochmals laut.

Sehr geehrter Herr Hornbach,

Ihre Taten sind nicht in Vergessenheit geraten, die Zeit ist gekommen, diese Verbrechen zu sühnen. Im Namen der Gerechtigkeit fordern wir Sie auf, sich zu diesen Verbrechen öffentlich zu bekennen. Sollten Sie dieser Forderung nicht nachkommen, werden wir handeln im Kampf gegen KEIN VERGESSEN.

Tasuta katkend on lõppenud.

3,99 €