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Loe raamatut: «Im Hause des Kommerzienrates», lehekülg 14

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»Mag doch das Motiv sein, welches es will, teuerste Großmama, es genügt, dass Käthe in unserer Mitte zu bleiben wünscht«, fiel der Kommerzienrat lebhaft ein – er konnte den Blick nicht wegwenden von dem Mädchen, das sich unverkennbar die eigene Überzeugung durch beschwichtigende Worte nicht übertäuben ließ. »Sieh, im frohen Vorgefühl, dass wir Dich hier behalten werden, mein Kind, habe ich den neuen Flügel« – er unterbrach sich und küsste ekstatisch Daumen und Zeigefinger der rechten Hand – »Du bekömmst ein Instrument, Käthe, gegen welches das drüben im Musiksalon ein Klimperkasten ist; ich habe es, sage ich, gleich direkt hierher dirigiert.«

»Aber, Moritz, so ist das nicht gemeint«, rief das junge Mädchen rückhaltlos mit großen, erschrockenen Augen. »Gott bewahre mich! Dresden ist und bleibt meine Heimat und die Villa Baumgarten meine Besuchsstation« – sie lachte mit ihrem ganzen Mutwillen auf; »soll ich den Flügel immer als Gepäckstück mitschleppen?«

»Ich bilde mir ein, dass Du eines Tages in Bezug auf Dresden ganz anders denkst«, versetzte er mit einem feinen, ausdrucksvollen Lächeln. »Der Flügel wird morgen hier eintreffen und bis auf Weiteres in Deinem Zimmer platziert werden.«

Die Präsidentin klappte denn Deckel des Buches zu und legte die schmale, weiße Hand darauf. »Du triffst andere Dispositionen, als ausgemacht war«, sagte sie anscheinend gelassen. »Das bringt mich zwar sehr in Verlegenheit, aber ich bescheide mich gern. Ich werde heute noch an die Baronin Steiner schreiben, dass ihr für den Monat Mai angekündigter Besuch unterbleiben muss.«

»Aber ich sehe nicht ein, weshalb –«

»Weil wir sie nicht unterbringen können, bester Freund. Käthes Zimmer war für die Gouvernante bestimmt, die sie mitbringen wollte.«

Der Kommerzienrat zuckte die Achseln. »Dann tut es mir leid – meine Mündel bleibt selbstverständlich, wo sie ist.«

Er opponierte! Er wagte es, mit kühler Ruhe in das zornblitzende Auge der empörten alten Dame zu sehen und es natürlich zu finden, dass die Frau Baronin von Steiner Käthe weichen müsse – er, der sonst Himmel und Erde in Bewegung setzen mochte, der kein Opfer scheute, wenn es galt, vornehme Gäste in sein Haus zu ziehen! Es wich von ihm plötzlich der im Verkehr mit exklusiven Kreisen angeflogene feine Lack der Außenseite, und die plumpe, gemeine Natur des Parvenü kann zum Vorschein. Er war ja nun selbst von Adel, und dazu reicher als die meisten seiner jetzigen Standesgenossen – hatte er doch eben wieder eine immense Goldernte eingeheimst – er konnte herausfordernd auf seine Tasche klopfen und – er tat es.

Die alte Dame biss sich auf die Lippe. »Ich werde unverzüglich die nötigen Schritte tun«, sagte sie und nahm ihre Schleppe auf, um zu gehen. »Beneidenswert ist die Situation, in die ich ohne mein Verschulden gedrängt bin, durchaus nicht – das muss ich sagen«, warf sie mit hochgezogenen Brauen, in bitterem Tone über die Schulter hin.

»Und das um meinetwillen?« rief Käthe und trat mit ausgestreckter Hand einen Schritt näher, um das Hinausgehen der Präsidentin zu verhindern. »Moritz, es kann doch Dein Ernst nicht sein, dass ich junges Ding die Freunde der Frau Präsidentin verdrängen soll? Das geschieht ganz gewiss nicht. Habe ich denn nicht mein eigenes Heim? Ich quartiere mich sofort in der Mühle ein, wenn Frau von Steiner kommt.«

»Das wirst Du bleiben lassen, meine liebe Käthe; dagegen protestiere ich selbst mit allen Kräften«, versetzte die Präsidentin mit vornehmer Kälte, und jetzt brach aller Hochmut, der dieser stolzen Weltdame innewohnte, aus ihren Augen. »Ich bin gewiss tolerant – Deine verstorbene Mutter hat sich nie über Unfreundlichkeit meinerseits zu beklagen gehabt, aber ein solch intimer Verkehr zwischen Villa und Mühle, ein solch ungeniertes ›Hinüber und Herüber‹ widerstrebt mir denn doch in tiefster Seele, am allerwenigsten aber möchte ich diese Beziehung der scharfen Kritik meiner sehr streng denkenden Freundin ausgesetzt wissen.« Sie neigte steif grüßend den Kopf. »Ich bin im blauen Salon zu finden, wenn Du mir die Herren vorstellen willst, Moritz.« Damit ging sie hinaus.

Der Kommerzienrat wartete mit spöttischer Miene, bis das Rauschen der Seidenfalten draußen verklungen und die entgegengesetzte Tür im Musikzimmer sehr hörbar zugefallen war, dann, indem sich seine Lippe höhnisch hob, lachte er leise in sich hinein.

»Da hast Du Deine Lektion, Käthe!« sagte er. »Gelt, es stecken recht scharfe Krallen in den Sammetpfötchen. Ja, kratzen kann sie, die alte Katze, dass es eine Art hat. Ich armer Tropf könnte Wundenmale genug aufweisen, aber, Gott sei Dank, ihr Schicksal erfüllt sich endlich auch. Sie erlebt das Schlimmste, das ihr passieren kann: sie wird ungefährlich. Mit Bärs Pensionierung ist ihr Einfluss bei Hofe und in der Gesellschaft gebrochen.« Er rieb sich die Hände in lächelnder, unaussprechlicher Befriedigung. »Du weichst nicht um eine Linie, lieb Herz! Du hast mehr Rechte in meinem Hause als alle anderen zusammen – merke Dir das!«

Er wurde unterbrochen. Ein eintretender Diener meldete, dass die fremden Herren in der Beletage den Herrn Kommerzienrat erwarteten. Eiligst griff Moritz nach seinem Hute; er wollte Käthe den Arm reichen, aber diese schlüpfte verlegen an ihm vorüber, hinaus in den Korridor. Der Herr Vormund mit der befremdenden Zärtlichkeit in Ton und Gebärden gefiel ihr ganz und gar nicht; seine kühlen, geschäftsmäßigen Briefe waren ihr lieber gewesen. Und welche merkwürdige Veränderung war sonst noch mit ihm vorgegangen! Unwillkürlich dachte sie an ihren neulichen Empfang in diesem Hause; noch hörte sie den ängstlichen Flüsterton, mit welchem der Kommerzienrat sie auf den Respekt hingewiesen, den sie der Präsidentin schulde, und jetzt machte er unehrerbietige Mienen hinter ihrem Rücken und fing an, ihrer bisher wirklich unumschränkten Machtvollkommenheit in seinem Hause unliebsame Grenzen zu ziehen. Das alles erschreckte das junge Mädchen, war ihr unbegreiflich und so unheimlich, wie das dunkelpurpurne Zimmer voll dumpfer Luft und Bücherstaub, dem sie jetzt tiefaufatmend den Rücken wandte, um in das Haus am Flusse zurückzukehren.

15

Das Krankenzimmer im Doktorhaus sah am Nachmittag genau so aus, wie gestern, als man Henriette hineingetragen. Auf ihre leidenschaftlichen Bitten hin hatte der Doktor die vornehmen Eindringlinge aus der Villa wegschaffen lassen. Draußen im weiten Flur, auf dem roten Backsteingetäfel standen sie in Reih’ und Glied, die apfelgrünen Lehnstühle, der elegante Ofenschirm, und um die einfache Tonvase mit dem Tannenstrauß gruppierte sich das vergoldete Waschgeschirr. Das Steingut war wieder zu Ehren gekommen, und die altmodischen Polsterstühle mit ihren schwarzen Serge-Bezügen standen an ihrem ehemaligen Platze. Dagegen sprang das erfrischende Silbergefunkel der kleinen, zerstäubenden Zimmerfontäne aus einem Kranz von grünen Topfgewächsen, und auf einem Tisch stand der große Käfig mit Henriettens Kanarienvögeln, den man auf den sehnsüchtigen Wunsch der Kranken aus der Villa herübergeschafft hatte. Die flinken, goldgelben Geschöpfchen schlüpften, wie daheim, ungeniert aus und ein; sie umschwirrten das Bett, holten Zuckerkrumen aus den wächsernen Fingern der kranken Herrin und wiegten sich auf den schwebenden Blumenampeln an der Zimmerdecke.

Nanni, die Kammerjungfer, war gegen Mittag entlassen worden, damit sie in der Villa ausschlafen könne, und die Tante Diakonus hatte die Pflege für die Tagesstunden übernommen. Die alte Frau war noch im braunseidenen Kleide, aber sie hatte eine breite, weiße Leinenschürze darüber gebunden, um das Seidengeräusch zu dämpfen.

Henriette wusste bereits um die Wandlung, die sich so plötzlich vollzogen. Die Jungfer war von draußen hereingekommen und hatte ihr zugeflüstert, dass eben ein Herr vom Hofe im Flur feierlich von der Frau Diakonus empfangen und in das Zimmer des Doktors geführt worden sei. Ein Herr vom Hofe bei Bruck, der zuletzt nur noch Armenarzt gewesen war! Dazu hatten die festliche Toilette der Tante, ihr freudig verklärtes Gesicht die Aufmerksamkeit der Kranken erregt; sie war unruhig geworden und hatte mit Forschen und Fragen nicht nachgelassen, bis sich der Doktor an ihr Bett gesetzt und ihr in seiner ruhigen, einfachen Art und Weise Mitteilung von den Vorgängen gemacht hatte. Das alles war geschehen, während Käthe in Floras Zimmer dem Auftritte beiwohnte, den die Hofdame von Berneck und der Kommerzienrat mit ihrer blitzartig einschlagenden Neuigkeit hervorgerufen hatten.

Nachmittags saß Käthe am Krankenbett. Der Doktor war zu einer Audienz beim Fürsten befohlen, und die Tante hatte sich für eine halbe Stunde freigemacht, um einige häusliche Anordnungen zu treffen; die beiden Schwestern waren zum ersten Mal wieder allein. Auf Henriettens Gesicht lag ein wahrer Glanz unausgesprochener Freude und Glückseligkeit; Ruhe und Schweigen war ihr auferlegt worden. Der Doktor hatte ihr streng verboten, nochmals den Jubel laut werden zu lassen, in welchen sie bei seiner Mitteilung ausgebrochen war und der ihn tief erschreckt hatte. Sie war auch folgsam gewesen und hatte weder ihn, noch die Tante im Laufe des Tages mit weiteren Fragen belästigt, aber jetzt, wo die ernsten Augen des Arztes nicht warnten, wo die Tür hinter der ängstlich besorgten alten Frau zugefallen war, jetzt richtete sie sich plötzlich in den Kissen auf. »Wo bleibt Flora?« fragte sie gespannt und hastig flüsternd.

»Du weißt, dass die Großmama von Stunde zu Stunde herübersagen lässt, der Boden brenne ihr unter den Füßen, aber sie könne nicht fort, man sei drüben von Beileidsvisiten dermaßen umringt, dass ein Losmachen sich noch immer nicht bewerkstelligen lasse.«

»Mein Gott, die Großmama!« wiederholte die Kranke geärgert und sich ungeduldig herumwerfend. »Wer verlangt denn nach ihr? Mag sie doch drüben bleiben. Ich spreche von Flora!«

Henriette verschlang die Hände fest ineinander und hob sie mit einer leidenschaftlichen Gebärde empor. »Käthe, ist das eine glanzvolle Rechtfertigung! Gott sei Dank, dass ich sie erleben durfte! Wenn nur Bruck sich nicht hinreißen lässt, auf seinem Rückweg vom Schlosse in der Villa einzukehren! – Hier, vor meinen Augen muss ihm Flora zum ersten Mal wieder gegenüberstehen, hier. Ich lechze danach, sie im Staube vor ihm zu sehen.«

»Rege Dich nicht auf, Henriette!« bat Käthe mit zitternder Stimme.

»Ach was – lass’ mich reden!« entgegnete sie hastig. »Wenn Bruck nur wüsste, zu welchen Qualen er mich verurteilt mit seinem Sprechverbot! Die unterdrückte innere Aufregung beklemmt mir die Brust bis zum Zerspringen, genau wie gestern der Strom, der sich dann so erschreckend Luft machte.« – Sie stützte den Ellenbogen auf und vergrub die Hand in dem reichen Blondhaar, von dem sie längst das Battisthäubchen weggeschüttelt hatte. »Weißt Du noch, wie Flora die Reise, von der Bruck berühmt zurückgekehrt ist, höhnisch und verwegen, ihm in das Gesicht hinein, eine Vergnügungstour nannte?« fragte sie und sah unter der gesenkten Stirne hervor mit Augen voll Erbitterung zu der Schwester auf; sie verfiel in denselben Ton wie gestern in ihren wilden Fieberphantasien, die eine so furchtbare Entscheidung herbeigeführt hatten. Käthe schauerte in sich zusammen. »Erinnerst Du Dich, wie sie Moritz schalt und verlachte, weil er der Wahrheit nahekam und vermutete, dass Bruck an ein Krankenbett nach L…..g gerufen sein könne? Nein, und wenn sie auf den Knien Abbitte leistet, sie kann diesen Frevel, diesen beispiellosen Übermut kaum sühnen. Nur einen einzigen Blick möchte ich jetzt in ihre Seele tun. Welche niederschmetternde Beschämung! Sie kann beim ersten Begegnen die Augen weder zu ihm, noch zu uns aufschlagen.«

Käthe hatte die Hände im Schoß gefaltet, und die Wimpern lagen tief auf ihren Wangen, als sei sie die Schuldige. Das leidenschaftlich erregte Mädchen da vor ihr ahnte nicht, dass diese erste Begegnung nicht mehr stattfinden konnte, dass sich Floras Fuß nie wieder in »die spukhafte Spelunke« verirren würde. Sie wusste so wenig, wie alle anderen, dass sich die Braut gewaltsam befreit, dass das Symbol des geschlossenen Bundes, der »einfache« Goldreif, draußen im Fluss liege, wenn ihn nicht die Wellen längst fortgespült hatten.

»So sprich doch auch ein Wort, Käthe!« grollte Henriette. »Du muss Fischblut in den Adern haben, dass Dich die Vorgänge so ruhig lassen. Freilich, Du hast noch keinen besonders tiefen Einblick in die Verhältnisse tun können, und den Persönlichkeiten gegenüber magst Du auch noch nicht den richtigen Standpunkt einnehmen. Bruck z. B. kann Dich kaum interessieren; Du siehst ihn zu selten und hast sicher noch keine zehn Worte mit ihm gesprochen, aber Du bist doch schon Zeuge von Floras abscheulichen Rücktritts-Manövern gewesen, hast die herzlosesten Aussprüche von deren Lippen gehört – ich sollte meinen, so viel Gerechtigkeitsgefühl, so viel Verlangen – ich möchte sagen ›Durst‹ nach gerechter Strafe, nach einem rächenden Ausgleich müsse in jeder gesunden Menschennatur liegen.«

Jetzt sah Käthe mit einem seltsam flimmernden Blick auf; das war sicher kein Fischblut, das in so jäh emporschießender Welle Stirn und Wangen, selbst den runden, schneeweißen Hals heiß und purpurn färbte; es wallte unbezwinglich auf und ließ sie einen Augenblick völlig vergessen, dass sie am Krankenbett sitze und als gewissenhafte Pflegerin auf kein erregendes Thema eingehen dürfe. »Und wenn dieses Rachewerk sich wirklich vollzieht, wenn Flora beschämt ihren Irrtum zugibt, welchen Wert könnte diese Umkehr für den beleidigten Mann haben?« fragte sie gepresst. »Flora hat ihm, wie Du selbst sagst, ihre Abneigung unverhohlen gezeigt, und wenn er in den Fürstenstand erhoben würde, es könnte doch unmöglich den Widerwillen in Liebe zurückverwandeln.«

»Bei einer so eitlen, ehrgeizigen Seele, wie Flora, ohne Weiteres«, versetzte Henriette in bitter verächtlichem Ton. »Und Bruck? Du wirst sehen, er geht bei ihrer ersten Annäherung über das Geschehene hinweg, als sei es nie gewesen.« – Den Kopf zurückhaltend schloss sie einen Moment die Augen. – »Ja, wenn die Liebe nicht wäre, dieses ewig unlösliche Rätsel!« sagte sie halb flüsternd vor sich hin. »Und er liebt sie wie vordem; wie ließe sich sonst sein Ausharren, sein geduldiges Ertragen erklären?« Sie hob die Wimpern wieder, und ein Gemisch von tiefem Schmerz und bitterer Ironie brannte in ihren unirdisch glänzenden Augen. »Und wenn ihn aus ihrem schönen Gesicht ein Teufel anblickte, und wenn ihre Hände nach ihm schlügen, er würde sie doch lieben und diese Hände zärtlich küssen.« Das Lächeln, das so scharfe Linien in ihre abgezehrten Wangen grub, hatte etwas Herzzerreißendes; sie suchte es auch zu verbergen, indem sie das Gesicht in die Kissen drückte. »Ihre Umkehr wird mithin hohen Wert für ihn haben«, sagte sie nach einer momentanen Pause entschlossen, mit gewaltsam beherrschter Stimme; »er wird glücklich werden, und deshalb muss auch von unserer Seite alles geschehen, dass die Zeit der Verirrung nie mehr berührt wird.«

Käthe sagte kein Wort mehr. Die Kranke erwartete mit kaum bezähmbarer Ungeduld den Moment, wo sie den Mann, den sie als ihren Arzt vergötterte, wieder glücklich sehen würde. Was sollte werden, wenn Flora nicht kam, wenn Henriette endlich doch erfahren musste, dass die treulose Braut der langen Qual eigenmächtig ein rasches, gewaltsames Ende gemacht hatte? »Dann wirst Du unseren Namen nie mehr auf die Lippen nehmen«, hatte Henriette gestern in ihren Fieberphantasien gegen Bruck geklagt. In Käthes Seele dauerte der chaotische Zustand fort, der sie schon gestern Abend betroffen gemacht. Die Gesetze der Moral hatten ein scharfes Gepräge für sie, und sie war noch unerfahren genug, Lohn und Strafe stets als gerechte Folgen vorausgegangener Handlungen zu denken – und nun in diesem wunderlichen Weltgetriebe wurde alles Ernstes gewünscht und gehofft, dass unerhörter Übermut und systematische Pflichtverletzung nicht nur straflos ausgehen, sondern auch noch eines seltenen Glückes teilhaftig werden sollten. Man bemühte sich, das Vergehen totzuschweigen; man hätschelte die Sünderin und dankte ihr wo möglich auf den Knien für ihre Umkehr, die, wenn sie wirklich erfolgte, nicht einmal wahre, innere Reue, sondern nur durch den Umschwung der äußeren Verhältnisse hervorgerufen worden war. Und er, den sie moralisch mit Füßen getreten, nahm er sie wirklich augenblicklich wieder an sein Herz, wenn sie sich herabließ, zu ihm zurückzukehren? Ganz sicher; hatte er sie doch nicht beigegeben, selbst nachdem sie ihm erklärt, dass sie ihn hasse. Jetzt fühlte Käthe einen mächtigen Zorn in sich aufglühen gegen die unselige Schwachheit, die einen Mann so erbärmlich, so unmännlich handeln ließ. Sie hätte so recht von Herzen ihren Groll ausweinen mögen über diese Erfahrung, die ihr das Leben und sogar die schöne, strahlende Welt für einen Augenblick verdunkelte, aber sie verbiss trotzig das wunderliche Schmerzgefühl und saß äußerlich fast noch »fischblütiger« da, als vorher. Weinen? Was ging sie denn die ganze abstoßende Geschichte weiter an? Sie hatte nun nichts, gar nichts mehr dabei zu bedeuten, als das Hochzeitsgeschenk für die Schwester – etwa ein Teppich oder ein Sofakissen – das sie nunmehr schleunigst anfangen müsse, wenn wirklich die Hochzeit zu Pfingsten stattfinden sollte.

Die Tante kam herein, legte einen frischgebrochenen Syringenzweig voll junger Blätter auf die Bettdecke und brachte der Leidenden einen Gruß vom Frühling, der gar so golden, so helltönig und würzig draußen hinziehe und einen wahren Genesungsbalsam in seinem Atem trage. Sie bestand darauf, ihren Platz am Bett wieder einzunehmen, und erklärte Käthes Anwesenheit im Krankenzimmer für den Moment als vollkommen überflüssig; draußen im Garten möge sie sich ein wenig Bewegung machen und frische, sonnige Gottesluft atmen; das tue ihr sichtlich Not; die gestrige Alteration und Anstrengung sei noch auf ihrem Gesicht zu lesen.

Das junge Mädchen ging rasch hinaus. Ja, Luft und Sonnenschein, das waren zwei gute Freunde, die ihr stets das Gefühl innerer Kraft und des Jungseins wonnig zum Bewusstsein brachten, die den Blick klärten und alles angekränkelte Empfinden über den Haufen bliesen. Und die Tante hatte Recht, die Welt war so maienhaft, so blütenverheißend, und die schwach wehende, sonnentrunkene Luft hauchte »Genesungsbalsam« in Leib und Seele. Käthe trat hinaus auf die Freitreppe; ihr schöner Busen wogte in tiefen, zitternden Atemzügen. Sie hob und streckte unwillkürlich die Arme, die fest und doch mädchenhaft gerundeten mit den stählernen Muskeln. Und die Stufen hinabsteigend, ließ sie den Blick in die blaue Fremde hineinfliegen, über das niedere Staket hinweg, über die Wiesengründe draußen, über das sie durchschneidende, rasch strömende Gewässer mit den Dorfhäusern und Kirchtürmen an seinen fernen Ufern – wunderliches Menschenherz, das angesichts dieser Herrlichkeit doch so gepresst blieb!

Und dort, vom Holzschuppen her, der am Gartenzaun stand, klang liebliches Gezwitscher, und blauschwarzes Gevögel mit metallisch funkelndem Rücken und rostbrauner Kehle tummelte sich um die offene Bodenluke – die ersten Schwalben waren da. Die Bodenluke war ihr alter Nistplatz. Käthe hatte schon als Kind, im Grase liegend, ihr Aus- und Einfliegen beobachtet, aber wie einsam und verloren hatte damals das Zwitschern geklungen in das eintönige Wellengemurmel und die um das verschlossene Haus webende atemlose Stille hinein, die hie und da das Fallen einer reifen Frucht von den Obstbäumen unterbrach! Jetzt schmetterten auch vornehme, verzogene Stubenvögel aus den offenen Fenstern; der Rauch des Herdfeuers zog hoch droben als dünner, sonnenvergoldeter Schleier über den Rasenplatz hin; am Schuppen stand auch das Hundehaus, und der ungebärdige, struppige Köter riss an seiner Kette und schnappte nach einem schönen, lichtgelben Huhn, das sich dummdreist immer wieder in seine Nähe wagte, um einige versprengte Getreidekörner aufzulesen. Die Köchin hatte auf Wunsch der Tante Diakonus einen prächtigen Hahn und fünf Hennen aus ihrem Dorfe mitgebracht – es sollte alles werden, wie im alten, lieben Pfarrhause. …

Käthe scheuchte die krakelnde Henne aus dem Bereiche des zornig knurrenden, gereizten Hundes und wandelte langsam unter den Obstbäumen hin. Der vorjährige, dürre Graswuchs zu ihren Füßen erschien da und dort gesprenkelt mit jener Bläue, die selbst das älteste, verdrossenste Menschenauge noch aufleuchten macht – die ersten Veilchen blühten, und das große stattliche Mädchen bückte sich so emsig danach, wie es einst kaum der kleine Rücken des Müllermäuschens getan. … Fast verwundert dachte sie jetzt daran, dass sie ja eigentlich als einzige Erbin ihres Großvaters vor wenigen Wochen noch Herrin hier gewesen sei; das Kapital, das der Doktor für die kleine Besitzung hingegeben, gehörte ihr – es lag wohl auch in dem bewussten eisernen Schranke, das mühsam ersparte, redlich erworbene Scherflein, vermischt mit dem Reichtume, den der Kornwucher aufgehäuft. Sie schrak zusammen und verschüttete unwillkürlich die gepflückten Veilchen auf den Rasen. Das schneidende Gefühl namenloser Demütigung und erlebter Schande überkam sie, wie gestern inmitten der erbitterten Weiberschar. Da hatte sie noch im ersten Aufschrecken gegen die entsetzliche Beschuldigung protestiert, aber nun, so oft das harte, mürrische, grobe Gesicht ihres Großvaters vor ihr auftauchte, musste sie sich eingestehen, dass er recht wohl das grausame Wort von den »pfeifenden Mäusen« gesagt haben konnte; sie ballte in stummer Qual krampfhaft die Hände. Dass sie mütterlicherseits aus den untersten Schichten der Gesellschaft stammte, wusste sie ja; nie war ihr auch nur der Wunsch gekommen, dass es anders sein möchte – sie leitete vielmehr ihre prächtige Mitgift, Kraft und tadellose Gesundheit, dankbar von »dem Großmütterlein« her, das in frischer Waldluft mit kräftigem Arme die Holzaxt geschwungen, aber die Gemeinheit der Gesinnung, die Brutalität, mit welcher der ehemalige Müllerknecht einen erbarmungslosen Druck auf die Armut ausgeübt, um zu einem großen Vermögen zu gelangen, erfüllten sie mit Ekel und Abneigung, und an den eisernen Spind mit seinen aufgespeicherten Schätzen mochte sie gar nicht mehr denken.

Ohne es zu wissen, war sie, am Flusse hingehend, in einen förmlichen Sturmschritt verfallen. Da, wo der Zaun das Grundstück begrenzte und mit seinem Weißdorngeflecht noch ein Stück des abschüssigen Ufers hinablief, blinkten weiße Glasscherben, die Splitter des kleinen Glases, aus welchem sie gestern Abend die nervenberuhigende Mischung getrunken. Die Köchin hatte die Trümmer, an welche sich eine beschämende Erinnerung für das junge Mädchen knüpfte, achtlos hingeworfen, damit das Wasser sie mit fortnehme. Ein schmerzender Stich durchfuhr Käthes Herz, und brennende Tränen traten ihr in die Augen, wie jedes Mal, wenn sie an die gestrige Szene im Zimmer des Doktors dachte. Sie hatte sich mit ihrem »tollen Kopf« entsetzlich blamiert. Und wenn der milddenkende, feinfühlende Mann auch sofort ein beschwichtigendes Wort, eine Entschuldigung für sie auf den Lippen gehabt, innerlich hatte er doch jedenfalls verwundert lächeln müssen über »die große, körperstarke Person« mit den kindisch schwächlichen, sentimentalen Vorstellungen in ihrem Gehirn. Aber solch eine Übereilung ihres bis zur Schwachheit mitleidigen Herzens passierte ihr auch gewiss nicht wieder! Lieber wollte sie für grausam, boshaft, ja, für eine böse Sieben gelten. Und der Doktor sollte gewiss nicht wieder über sie lächeln – ah, dazu fand er auch bald genug keine Veranlassung mehr. Wie lange noch, da wurde Henriette in die Villa zurückgebracht; die Verbindung zwischen »Hüben und Drüben« wurde abgebrochen, und der Doktor »nahm nicht einmal mehr die Namen Derer in der Villa auf die Lippen«. Nach allem, was gestern Abend geschehen, was sie als einziger Zeuge mit angehört, mit angesehen, war die gehoffte Umkehr Floras unmöglich, mochte Doktor Bruck auch mit aller Energie auf seinem Rechte bestehen – heute noch musste er die Überzeugung gewinnen, musste sich alles entscheiden, wenn die Braut ausblieb. Oder tat er doch, was Henriette befürchtete? Hatte er das Verlangen nicht unterdrücken können, bei seiner Rückkehr vom fürstlichen Schlosse in der Villa einzukehren, um Flora von der glücklichen Wandlung in seinem Leben nunmehr persönlich in Kenntnis zu setzen? Dann sagten ihm die zwei kleinen Brillantringe an ihrem Finger sofort, und zwar deutlicher als jedes erklärende Wort, was er noch zu hoffen habe.

Käthe lief in diesem Augenblicke vom Ufer weg auf den Rasengrund zu; ein abscheulicher Lärm, der möglicher Weise bis ins Krankenzimmer dringen und Henriette erschrecken konnte, erhob sich in der Nähe des Schuppens; das Hühnervolk zerstob, entsetzt aufschreiend, nach allen vier Winden, und der Hofhund stürzte sich mit nachschleifender Kette wütend auf die gelbe Henne, die ihn geärgert hatte. Käthe war ihm sofort auf den Fersen; sie packte sein schmutzig weißes, zottiges Fell im Genicke, in demselben Momente, wo bereits die Schwanzfedern seines unglücklichen Opfers umherflogen.

Sie lachte wie ein Kind über das zerzauste Huhn, das sich kläglich krakelnd im Holzschuppen verkroch, und zog den Hund nach seiner Hütte zurück. Das ungebärdige Tier sträubte und sperrte sich mit allen Kräften; es versuchte, nach der kräftigen Mädchenhand zu schnappen, die es unerbittlich wieder in die Gefangenschaft schleifte.

Für einen Dritten mochte dieser Kampf um die Herrschaft etwas Beängstigendes haben; denn der Hund war tückisch wild, groß, von sehnigem, gedrungenem Gliederbau, und die rotfleckige Zeichnung auf Rücken und Flanken gab ihm ein tigerartiges Ansehen, aber er wand und stemmte sich vergeblich. Käthe stieß mit der freien Linken den ausgehobenen Kettenhaken wieder in den eisernen Ring der Mauer und sprang, den Hund plötzlich loslassend, weit zurück; er fuhr ihr wütend nach und erwischte noch den Saum ihres Kleides, den er in Fetzen riss.

»Bösewicht!« drohte sie mit dem Finger und nahm das Kleid auf, um den Schaden zu betrachten. Sie hörte eilige Schritte von der Brücke her kommen; sie wusste auch, dass es der Doktor war, der von der Stadt zurückkehrte, aber sie sah nicht auf. Sie hoffte, er werde in das Haus gehen, ohne sie weiter zu beachten. Wer konnte denn wissen, ob er nicht direkt aus der Villa und vielleicht in sehr trüber Stimmung kam? Er war ohnehin so still und in sich gekehrt, so wortkarg heute; fast wollte es ihr scheinen, als habe er gestern Abend mit dem sanften, unerklärlich weichklingenden »Gute Nacht, gute Nacht!« einen Abschluss seines bisherigen Wesens und Verhaltens andeuten wollen.

Er ging nicht in das Haus, sondern direkt auf Käthe zu. Drohend hob er den Stock gegen den boshaft knurrenden, kläffenden Hund, der plötzlich mäuschenstill wurde und sich demütig neben seiner Hütte hinstreckte. Der Doktor nahm einen Stein und trieb den Kettenhaken noch tiefer in den Ring. »Ich werde das Tier doch wohl abschaffen müssen; es ist zu wild und ungebärdig«, sagte er, sich aufrichtend und den Stein fortwerfend. »Seine scharfe Wachsamkeit wiegt den Schrecken nicht auf, den er verursacht. Sie sind freilich mit ihm fertig geworden; ich glaube, im Bewusstsein Ihrer Kraft lassen Sie sich leicht verführen, tollkühn zu sein.« Er sagte das in ernstem, nahezu tadelndem Tone, jedenfalls hatte er den Vorgang im Näherkommen durch das Ufergebüsch mit angesehen.

Sie lachte. »Glauben Sie das ja nicht! Ich habe meine wohlgemessene Dosis Ängstlichkeit in der Seele, wie jedes andere Mädchen auch«, entgegnete sie freimütig. »Vor fremden Hunden habe ich sogar eine ganz besondere Scheu und gehe ihnen gern aus dem Wege. Aber in kritischen Augenblicken muss man sich doch zu helfen wissen; angeborene Schwächen dürfen nicht aufkommen; da beiße ich die Zähne fest zusammen und greife unbedenklich zu, und das mag denn so furchtbar tapfer aussehen.«

Der Doktor hatte mit den Augen eine Schwalbe verfolgt, die vom Schuppen wegflog, und jetzt lächelte er auch, aber ohne Käthe anzusehen. Es kam ihr vor, als sei dieses Lächeln ein ungläubiges; jedenfalls blieb er dabei, sie wolle sich heldenhaft hervortun und poche unweiblich genug auf ihre Kraft, und das entsprach durchaus nicht ihrem Geschmacke, am wenigsten aber der Wahrheit.

»Sie zweifeln?« fragte sie mit einem halb ernsten, halb schelmischen Aufblicke. »Wissen Sie auch, dass die Heldin da vor Ihnen erst seit Kurzem das letzte Restchen Furcht vor Nachtdunkel und Geisterspuk von der Seele geschüttelt hat?« Ein köstlicher Humor umspielte ihre Lippen und vertiefte die Wangengrübchen. »Sie können sich wohl denken, dass in der alten Schlossmühle Kobolde und Heinzelmännchen in allen Ecken hocken und rumoren; dem fürstlichen Erbauer fällt es auch bisweilen ein, aus seinem wackeligen Rahmen zu steigen, um höchsteigenhändig die Kornsäcke auszuschütten, und gespenstige Müller, die vor alten Zeiten ihren Mahlkunden das Mehl verkürzt haben, fehlen auch nicht. Suse hat mir selbstverständlich von diesen unumstößlichen Tatsachen nicht ein Tüpfelchen vorenthalten, und ich war so festgläubig, als sei ich in einer Thüringer Spinnstube aufgewachsen. Von diesem wundervollen Gruseln durften aber der Papa und meine Lukas um alles nicht merken – Suse wäre sehr gescholten worden, und ich schämte mich auch –, da galt es denn, sich zu überwinden und zähneklappernd, aber ohne Widerrede in tiefster Dunkelheit bis auf den Hausboden hinaufzusteigen, wenn es auf Grund der Erziehungstonsequenz befohlen wurde.«

»Sie haben sich also von jeher gewöhnt, an Ihre innere Kraft hohe Anforderungen zu stellen. Wie mag es da kommen, dass es Ihnen so leicht wird, beim Manne eine Tat der Feigheit und Schwäche vorauszusetzen?«

Sie stand plötzlich wie mit Blut übergossen. »Sie haben mir gestern meine Übereilung verziehen«, sagte sie sichtlich verletzt und nicht ohne Trotz und strich, sich abwendend, wiederholt die Löckchen aus der Stirn, lediglich um die Flammenglut auf ihrem Gesichte zu verdecken.

Er schüttelte den Kopf. »Diesen Ausdruck sollten Sie doch nicht wieder gebrauchen, nachdem ich Ihnen versichert, dass Sie mir nichts zu Leide getan haben«, versetzte er, unwillkürlich seine schöne, klangvolle Stimme dämpfend, als berühre er eine geheime Beziehung zwischen sich und dem Mädchen, um welche die ganze übrige Welt nicht wissen dürfe. »Ich wollte vorhin nur sagen, dass ich umsonst der Wurzel nachspüre, aus der Ihre gestrige Befürchtung entsprungen sein mag.«

Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
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Ilmumiskuupäev Litres'is:
06 detsember 2019
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497 lk 30 illustratsiooni
Õiguste omanik:
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