Blumen des Grauens

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Blumen des Grauens
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Eva Markert

Blumen des Grauens

Dreizehn unheilvolle Geschichten

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Ascensio

Der griechische Jüngling

Das Geschöpf

Nerthus Erdenmutter

Die Beobachterin

Komm, tanz mit mir!

Ein-Wohner

Der Fratz

Erinnyen

Wie grün sind deine Blätter

Fluch des Alters

Die Muhme

Die Kunde vom magischen Stein

Weitere Kurzgeschichtensammlungen von Eva Markert

Impressum neobooks

Ascensio

Mitternacht. Dumpf hallten die Glockenschläge über die Dächer von Rom. Der Tag, an dem der Papst beigesetzt werden sollte, brach an.

Noch erfüllte die Anwesenheit vieler Menschen den Dom. Die Luft war gesättigt von Atem, gewisperten Worten, gemurmelten Gebeten. Hin und wieder hörte man unterdrücktes Hüsteln. Füße scharrten über den kalten Boden, eine Menschenschlange wand sich wie in Zeitlupe an dem Sarg vorbei. Das unruhige Flackern der Kerzen ließ Schatten auf dem wächsernen Gesicht des Toten tanzen.

Eine helle Kinderstimme erhob sich über die gedämpften Geräusche: „Der ist ja gar nicht tot.“

„Pst!“, zischte eine Frau.

„Guck doch, Mama, er hat sich bewegt.“

„Rede nicht solchen Unsinn!“

Ein Mann mischte sich ein. „Du musst hier ganz leise sein. Die Leute wollen beten.“

Das kleine Mädchen hörte nicht. „Ich glaube, er will uns was sagen, aber er kann nicht.“

„Halte sofort deinen Mund!“, flüsterte die Mutter streng.

Die Kleine fing an zu schluchzen. „Mama, wir müssen dem Mann doch helfen!“

Ärgerliches Gemurmel wurde laut. „Sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind still ist, oder schaffen Sie es fort“, sagte jemand.

Die Mutter zerrte ihre Tochter an der Hand mit sich fort. Das Mädchen stemmte sich dagegen. Sein Weinen wurde heftiger. „Aber er ist nicht tot! Er ist bestimmt nicht tot!“

Die Menschen drängten sich um den Sarg und blickten auf die reglose Gestalt. Einige fröstelten.

„Kinder!“, seufzte jemand. „Sie verstehen es nicht. Sie wissen noch nichts vom Tod.“

Die Gläubigen bekreuzigten sich und setzten ihren Weg mit gesenkten Köpfen fort.

***

Viertel nach eins. Das Zufallen des schweren Eingangsportals hatte etwas Endgültiges.

Durch den Hinterausgang verließen die letzten Trauernden das Kirchenschiff. Nach und nach verhallten die Geräusche und es wurde totenstill. Immer mehr Kerzen verloschen und die Kühle der abgestandenen Luft verdichtete sich zu klammer Kälte.

***

Mit einem Mal flammte grelles Licht auf. Es war zwei Uhr nachts und höchste Zeit für die Reinigungsarbeiten. Eilige Schritte, das Klappern von Eimern und die Stimmen der Putzfrauen durchbrachen die Grabesstille. Mit leisen, aber energischen Worten gab Maria-Magdalena ihre Anweisungen.

Je näher sie dem Hauptaltar kamen, desto weniger sprachen die Frauen. Schließlich standen sie um den Sarg herum.

Sofia rümpfte die Nase. „Er riecht schon“, flüsterte sie. „Ich glaube, mir wird schlecht.“

Maria-Magdalena warf einen prüfenden Blick auf sie. „Bringt sie hinaus!“, ordnete sie an.

Zu zweit führten sie die halb ohnmächtige Sofia ins Freie.

„Er riecht wirklich.“ Giannas Stimme wurde von Würgen erstickt. Hals über Kopf floh sie durch den Mittelgang. Missbilligend schaute Maria-Magdalena ihr nach.

Plötzlich gellte Philomenas Schrei durch den Dom: „Der Papst hat sich bewegt!“

Die Frauen zuckten zusammen. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie auf den Leichnam.

Maria-Magdalena fasste sich als Erste. Sie holte tief Luft. „Glaubt ihr etwa an Geister?“, fragte sie spöttisch.

„Aber ich habe es genau gesehen! Sein Augenlid hat gezuckt!“

Jetzt verlor Maria-Magdalena endgültig die Geduld. „Schluss damit! Kümmert ihr euch um die Seitenschiffe. Ich mach das hier schon. Und beeilt euch. Spätestens um vier Uhr müssen wir fertig sein.“

***

Die Putzfrauen arbeiteten routiniert und noch flinker als sonst. Sie sprachen kein Wort mehr miteinander. Ab und zu schauten sie hinüber zu dem aufgebahrten Papst.

Maria-Magdalena reinigte den Boden vor dem Hauptaltar und wischte den Sarg sorgfältig mit einem feuchten Tuch ab.

Kurz vor vier hatten die Frauen ihre Arbeit erledigt und eine nach der anderen verließ hastig das Kirchenschiff.

Maria-Magdalena blieb als Letzte zurück. Sie löschte die Deckenlampen. Bald würde das erste fahle Morgenlicht durch die Fenster sickern. Eine große Kerze verlosch und die Schatten vertieften sich.

Maria-Magdalena hielt sie sich die Hand vor Nase und Mund und beugte sich über den Verstorbenen. „Im Leben warst du mir immer fern“, sagte sie leise. „Und nun, wo ich dir ein Mal nahe sein kann, erkenne ich dich kaum.“

Der Kopf des Papstes erschien im Tode so klein. Seine weiße Mitra war ihm ein wenig in die Stirn gerutscht und Maria-Magdalena rückte sie vorsichtig zurecht.

„Auf Wiedersehen in der Ewigkeit“, flüsterte sie und verneigte sich vor dem Toten.

Als sie sich wieder aufrichtete, fuhr sie zurück. Hatte sich da nicht ein Augapfel unter dem geschlossenen Lid bewegt? „Unsinn!“ Sie rieb sich die Augen. „Jetzt sehe ich auch schon Gespenster!“

Sie wollte sich gerade zum Gehen wenden, als sie erneut zusammenzuckte. Sie hätte schwören können, dass die goldene Kette mit dem Kreuz, die man dem Papst zwischen die gefalteten Hände gelegt hatte, verrutscht war. Wie gebannt starrte sie darauf. Die Finger des Toten zuckten leicht.

Maria-Magdalena rieb sich die brennenden Augen. „Ich bin bloß todmüde“, sagte sie laut. „Kein Wunder, dass ich mir allerhand einbilde.“

In diesem Augenblick richtete sich der rechte Zeigefinger der Leiche kerzengerade auf.

Maria-Magdalena stöhnte vor Entsetzen. Verworrene Gedanken über Muskelbewegungen un Nervenreflexe nach dem Tode schossen ihr durch den Sinn. Das geschlachtete Huhn, das ohne Kopf weiterlief. Aber gab es so etwas auch bei einem Menschen, der seit mehreren Tagen tot war? Bei einer Leiche, die bereits üble Gerüche verströmte?

In diesem Augenblick wollte sie nur noch eins: weg! Hinaus aus dem Dom, zurück in die Wirklichkeit, wo Lebende lebendig und Tote ganz und gar tot waren.

Ein Wispern drang an ihr Ohr und ließ sie erstarren: „Hilf mir.“

Ihre Augen huschten hin und her. Wer hatte gesprochen? Versteckte sich jemand hinter den Säulen oder im Dunkel zwischen den Kirchenbänken?

„So hilf mir doch!“

Es gab keinen Zweifel. Das Raunen kam nicht aus der Tiefe des Doms. Es kam aus dem Sarg.

Blindlings rannte sie davon.

„Hilf mir! Ich beschwöre dich!“

Das klang so verzweifelt, so flehend, dass Maria-Magdalena stehen blieb und sich langsam umwandte. Im Licht der wenigen brennenden Kerzen warf der erhobene Zeigefinger des toten Papstes einen riesigen, flackernden Schatten an die Wand.

„Komm zurück!“

Zögernd trat Maria-Magdalena wieder an den Sarg.

Ein Auge des aufgebahrten Leichnams hatte sich geöffnet. Der starre, milchige Blick ließ sie erschauern.

„Hilf mir zu sterben“, drängte die tonlose Stimme.

Maria-Magdalena antwortete, ohne nachzudenken. „Du bist schon tot.“

„Ich bin in mir gefangen“, flüsterte es von irgendwoher, „kann mich nicht verlassen.“

„Aber ... wie ist das möglich?“

„Ich wollte meinen Leib nicht aufgeben, ich konnte es nicht. Es gelang mir einfach nicht, mich loszulassen. Und dann war es zu spät.“

Ein Zittern durchlief den Toten. Der linke Ärmel des Pontifikalgewandes rutschte nach oben. Ein grünlich-rotes Geäst überzog den Arm.

„Mein Körper verwest bereits“, bohrte sich die Stimme in ihre Gedanken. „Gase bilden sich, die meinen Leib auftreiben.“

Maria-Magdalena hörte sich selbst wimmern.

„Siehst du die Blasen auf meinem Unterarm?“, fuhr die Stimme unerbittlich fort. „Bald werden sie überall sein. Es ist tote Haut, die sich ablöst.“

Maria-Magdalena ächzte. „Hör auf“, bettelte sie, „lass mich gehen!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte sie davon.

Sein Wehschrei folgte ihr: „O mein Gott, warum verlässt du mich?“

Maria-Magdalena blieb wieder stehen. „Ich war immer mutig“, dachte sie, „ich habe stets meine Pflicht getan. Ich werde auch jetzt nicht davonlaufen.“

 

Ihre Schritte hallten in der Stille wider, als sie zum Sarg zurückkehrte und sich über den Papst beugte. „Was soll ich tun?“

„Befreie meine Seele.“

„Warum kann deine Seele den Körper nicht verlassen?“, fragte sie. Dabei sah sie, dass ihr Atem in der Kälte wie hauchfeiner Dunst aus ihr herausfloss und verwehte.

„Weil der Bestatter meine Lippen zusammengeklebt hat, damit der Mund nicht aufklafft.“

Unschlüssig verharrte Maria-Magdalena einen Augenblick. Dann holte sie tief Luft, streckte die Arme aus und ließ die Handflächen auf das Gesicht des Papstes sinken. Sie schauderte, als ihre Fingerspitzen totes Fleisch berührten. Mit aller Kraft versuchte sie das Kinn herunterzudrücken. Vergeblich.

„Ich schaffe es nicht.“

„Du musst!“

Noch einmal stützte sich Maria-Magdalena mit ihrem ganzen Gewicht auf ihre linke Hand und presste mit der anderen die untere Gesichtshälfte des Toten nach unten. Ein hässliches, knirschendes Geräusch jagte ihr Schauer über den Rücken. Die Züge des Papstes wirkten auf einmal seltsam schief.

„O mein Gott!“, schrie Maria-Magdalena heiser. „Ich habe dir den Kiefer gebrochen!“ Sie schluchzte auf. „Ich habe den Leichnam des Papstes geschändet!“

Das Auge des Toten stierte sie unverwandt an. „Hör auf zu weinen und versuche es noch einmal. Damit ich nicht in meinem faulenden Körper verweilen muss. Damit ich nicht eingesperrt bleibe bis in alle Ewigkeit in einem Marmorsarkophag in den Grotten unter dem Petersdom.“

Maria-Magdalena war halb von Sinnen, als sie erneut zupackte. Sie grub ihre Nägel tief in das Gesicht des Papstes und versuchte mit den Fingern, die dünnen, blutleeren Lippen auseinanderzuziehen. Das abgestorbene Gewebe war pflaumenweich und sie spürte, wie sich winzige Fetzchen unter ihren Fingernägeln festsetzten.

„Es geht nicht. Ich habe nicht genug Kraft.“

„Du darfst mich nicht im Stich lassen!“

Maria-Magdalena zitterte am ganzen Körper. Wie gehetzt schaute sie sich um. Ihr Blick fiel auf die brennenden Kerzen. Sollte sie den Schädel des Papstes mit einem Kerzenständer zertrümmern? Oder den Sarg in Brand setzen?

Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Ich darf dir nicht helfen. Der Leib eines Menschen ist unantastbar, ein heiliges Gefäß. Er ist das Haus, in dem die Seele wohnen wird in der Ewigkeit.“

„Doch er verrottet ...“, widersprach der Papst.

„Ich kann nichts für dich tun.“

Von seinem qualvollen Stöhnen verfolgt, floh sie durch die Düsternis.

***

Mit einem leisen Quietschen öffnete sich die schwere Tür. Zaghafte Schritte näherten sich dem Sarg.

Die Klinge des Messers, das Maria-Magdalena in der Hand hielt, blitzte auf im schwachen Licht der letzten brennenden Kerze.

„Danke“, flüsterte die tonlose Stimme. „Ich danke dir, dass du mich nicht verlassen hast.“

Maria-Magdalena sank vor dem Sarg auf die Knie, legte das Messer neben sich und faltete die Hände.

Kein Laut störte ihr Gebet.

Nach einer Weile erhob sie sich. Ihre Knie wankten. Dennoch griff sie entschlossen nach dem Messer und stieß die scharfe Spitze durch die Linie, die von den zusammengeklebten Lippen des Papstes gebildet wurde. Sie hörte ein Klicken und spürte den Widerstand, als die Klinge gegen die obere Zahnreihe stieß. Erschrocken hielt sie einen Augenblick inne. Dann machte sie ohne zu zögern einen tiefen Schnitt knapp oberhalb der Lippen. Blasses Zahnfleisch und viel zu groß erscheinende Zähne wurden sichtbar.

Maria-Magdalena schleuderte das Messer im hohen Bogen von sich. Mit einem metallischen Scheppern schlug es auf, schlitterte über den Boden und blieb vor dem Altar liegen.

Mit bloßen Fingern vergrößerte sie die Öffnung. Fauliger Gestank quoll aus der Mundhöhle und ihr wurde übel. Nur undeutlich konnte sie erkennen, dass durchsichtiger weißer Rauch wie Atem in kalter Luft nach oben stieg. Dann rannte sie davon.

***

Die Welt nahm Abschied vom Papst. Auf dem Petersplatz wimmelte es von Menschen.

Als die Trauerfeierlichkeiten begannen, schwenkten die Kameras zum Hauptaltar, wo der Leichnam aufgebahrt war.

Die Frage, warum der Sarg bereits verschlossen war, bewegte alle Gemüter. Ganz Rom summte von Gerüchten und nicht wenige Menschen äußerten den Verdacht, dass die katholische Kirche irgendetwas zu verbergen hatte.

„Der Papst soll keines natürlichen Todes gestorben sein“, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand, „denn neben der Leiche lag ein Messer.“

„Er wurde nicht fachmännisch einbalsamiert und hat bereits stark gerochen“, behaupteten andere. „Das haben die Putzfrauen gesagt. Und es gab noch andere Anzeichen von Verwesung.“

„Aber der Papst ist doch gar nicht tot“, sagte ein störrisches kleines Mädchen.

Irgendwo in der Menge stand Maria-Magdalena, bleich, stumm, voller Angst und Hoffnung.

Der griechische Jüngling

„So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.“ Kommissar Schwarzer schüttelte den Kopf.

Lilli, seine junge Kollegin, die ihm erst an diesem Morgen zugeteilt worden war, konnte nicht antworten, denn sie fürchtete, sich übergeben zu müssen, sobald sie den Mund aufmachte.

„Auf jeden Fall ist es der Vermisste.“ Er betrachtete noch einmal das Foto.

Sie nickte schwach.

„Was ist das für ein Mensch, der so etwas tut?“, sinnierte Schwarzer.

Lilli zuckte hilflos mit den Schultern.

***

Pia kannte Adonis, seit sie denken konnte. Er stand im Wohnzimmer in einer Ecke. Sie mochte ihn, besonders sein Gesicht, obwohl er keine richtigen Augen hatte, sondern nur flache, leere Augenhöhlen.

Als kleines Mädchen versuchte sie oft, mit ihm zu spielen. „Fang!“, rief sie und warf ihm einen Ball zu. Doch Adonis rührte sich nicht.

Ihr Bruder Justus lachte sie aus. „Das ist bloß eine Statue.“

„Adonis ist lebendig“, widersprach Pia. „Guck doch! Er freut sich, dass ich mit ihm spiele.“

„Er ist aus Gips.“

Pia wurde so wütend, dass sie anfing zu weinen.

Und Adonis lächelte weiter sein feines, geheimnisvolles Lächeln.

***

Als sie ungefähr acht Jahre alt war, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass er nichts anhatte. Sie bemerkte ebenfalls, dass er unten nicht so aussah wie sie und auch ein bisschen anders als Justus. Immer wieder lief sie hin und betrachtete diesen Unterschied. Aber nur, wenn es niemand sah.

Eines Tages fragte sie: „Warum ist Adonis nackt?“

Ihre Mutter lachte. „Statuen frieren nicht.“

„Schämt er sich nicht? Jeder kann doch sein Ding sehen.“

„Das macht ihm nichts aus.“

Aber Pia machte es etwas aus.

***

Die meisten Kisten waren gepackt, die Zimmer fast leer.

Nachdenklich betrachtete die Mutter den griechischen Jüngling. „Ob wir die Figur überhaupt mitnehmen sollen?“, überlegte sie. „Eigentlich hat sie mir nie so richtig gefallen.“

„Mir auch nicht“, stimmte der Vater zu. „Sie ist gar nicht unser Stil. Ob wir sie den Hillers schenken? Die waren doch immer so begeistert davon.“

Pia wurde eiskalt vor Schreck. „Bitte, Mama! Wir dürfen Adonis nicht einfach weggeben. Wir stellen ihn in mein Zimmer.“

Die Mutter runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Eine griechische Statue passt nicht in das Zimmer einer Zehnjährigen.“

Pia schluchzte. „Er soll nicht zu fremden Leuten kommen.“

Der Vater legte den Arm um sie. „Meinetwegen“, sagte er. „Wenn dir so viel daran liegt!“

Pia lächelte unter Tränen.

***

Adonis stand in einer Ecke ihres Zimmers, das Gesicht dem Bett zugewandt. Manchmal lief Pia zu ihm hin, um ihn zu umarmen und an sich zu drücken.

Seit sich die ersten Ansätze eines Busens zeigten, drehte sie ihm immer den Rücken zu, wenn sie sich auszog. Er hingegen war ihren Blicken Tag und Nacht ausgesetzt.

Er tat Pia leid. Kurz bevor sie vierzehn wurde, besorgte sie sich ein Betttuch und drapierte es um seine rechte Schulter. Mit Sicherheitsnadeln und einem Gürtel wurde das Gewand zusammengehalten. Bewundernd stand Pia davor. Richtig vornehm sah Adonis jetzt aus.

Mit dem Zeigefinger strich sie über die muskulösen Arme, berührte seine Wangen und die edel geschnittene Nase.

Noch nie hatte sie Adonis’ Mund so deutlich wahrgenommen. Wie schmal, wie schön geschwungen er war und gleichzeitig so männlich! Sie zögerte. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen hastigen Kuss auf die leicht geöffneten Lippen.

Später kam Justus herein. Er brach in Gelächter aus, als er den weiß gekleideten Adonis sah. „In Pias Zimmer steht ein Gespenst herum!“, schrie er durch das ganze Haus.

Kopfschüttelnd schaute sich die Mutter Adonis an. „Statt in deinem Zimmer zu hocken und dich mit dieser Statue zu beschäftigen, solltest du dir lieber ein paar Freunde suchen“, meinte sie.

„Ich brauche keine Freunde“, antwortete Pia.

***

Die Erinnerung an den Kuss ließ sie nicht los. Nachts starrte sie in die Dunkelheit und dachte an nichts anderes.

Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Sie sprang aus dem Bett, rannte zu Adonis, warf ihm die Arme um den Hals und presste ihre Lippen auf seinen kühlen Mund. Sie drängte sich an ihn, küsste ihn wieder und wieder, bis sie plötzlich an ihrem Unterleib etwas Hartes fühlte. Sie zuckte zurück. Einen Augenblick war ihr schwindlig. Sie keuchte und klammerte sich an seiner Schulter fest, ehe sie zurück ins Bett taumelte.

Danach fand sie keine Ruhe mehr. Während alle im Haus schon schliefen, wälzte sie sich von einer Seite auf die andere und versuchte, die Gedanken an das Harte unter dem weißen Gewand zu verdrängen. Dieses Harte, das sie schon so lange nicht mehr betrachtet hatte. Ganz verschwommen war ihre Erinnerung daran.

Eines Abends konnte sie nicht mehr widerstehen. Sie richtete den Strahl ihrer Nachttischlampe auf die Stelle zwischen seinen Oberschenkeln, tappte auf unsicheren Beinen zu Adonis hinüber und schob mit bebenden Fingern das Gewand auseinander.

Oh, er war schön! Sie legte die Hand auf die Wölbung, fühlte, wie sich sein Glied in ihre Handfläche schmiegte. Elektrische Ströme schossen durch ihren Arm, Gänsehaut lief in Wellen über ihren Körper.

Sie kniete sich vor ihn hin und liebkoste ihn mit den Lippen, während sie sich selbst berührte. Tief in ihrem Leib zog sich etwas zusammen. Sie zuckte am ganzen Körper, warf sich auf den Rücken, schob ihr Nachthemd hoch und bot sich ihm dar.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und Justus stürmte herein.

Er erstarrte. „Was machst du da?“

Pia sprang auf. „Verschwinde!“, stieß sie heiser hervor.

Von da an schloss sie ihre Zimmertür stets ab.

***

Sobald Pia von der Schule nach Hause kam, lief sie zu Adonis.

Auch an diesem Tag hatte sie wieder Lust, mit ihm allein zu sein. Schon auf der Treppe begann sie ihre Bluse aufzuknöpfen.

Plötzlich beschlich sie ein ungutes Gefühl. Diese Stille im Haus war anders als sonst. Sie verharrte einen Augenblick vor ihrer Zimmertür, bevor sie die Klinke hinunterdrückte.

Das Bild, das sich ihr bot, war so entsetzlich, dass sie mit einem wimmernden Laut im Türrahmen stehen blieb. Adonis starrte sie aus toten Augen an. Jemand hatte seinen Mund und seine Nase mit Paketband zugeklebt. Sein weißes Gewand war mit mörderischen roten Flecken übersät. Zu seinen Füßen lag ein langes Küchenmesser.

Ein unterdrücktes Geräusch ließ sie zusammenfahren. Der Vorhang bewegte sich.

Pia schrie.

Justus sprang hervor. Er krümmte sich vor Lachen.

Pia stürzte sich auf ihn. „Du hast ihn umgebracht!“, kreischte sie. Mit beiden Fäusten hämmerte sie gegen seine Brust. Er versuchte sie abzuwehren, sie trat, kratzte, schlug um sich. „Ich hasse dich.“

„Pia, hör auf!“ Er umklammerte ihre Handgelenke. „Das war doch nur ein Spaß.“

Sie versuchte ihn abzuschütteln. „Du Mörder!“

„Es ist bloß eine Statue!“

„Ich liebe ihn. Und du hast ihn getötet!“

Justus ließ sie los. Blitzschnell sprang er hinter den griechischen Jüngling und stieß ihn mit aller Kraft um.

Mit dem Hals schlug Adonis gegen die Tischkante. Sein Kopf rollte über den Boden und blieb vor dem Fenster liegen. Justus packte den Gipskopf und warf ihn hinunter auf die Terrasse, wo er auf den Fliesen zerbarst.

 

Später, als sie zusammengekauert in ihrem Zimmer hockte, schafften ihr Vater und ein totenbleicher Justus Adonis’ Körper fort. Pia fragte nie, wohin sie ihn gebracht hatten.

Die großen und kleinen Brocken auf der Terrasse sammelte sie auf, jedes einzelne Stück, und begrub alles am Ende des Gartens unter einer Tanne.

***

„Wer weiß, ob der vermisste junge Griechen je wieder aufgetaucht wäre, wenn der Institutsleiter nicht das Verschwinden einer Leiche gemeldet hätte“, sagte Kommissar Schwarzer.

Seine junge Kollegin fühlte sich etwas besser, seit sie wieder im Büro waren. „Wie hat sie ihn eigentlich getötet?“, erkundigte sie sich.

„Im Schlaf. Mit einer langen, feinen Nadel. Der Stich ging direkt ins Herz.“

„Wie ist sie überhaupt an ihn geraten?“

„Sie hat ihn aus Griechenland mitgebracht, wo sie jedes Jahr ihren Urlaub verbringt. Er war ein armer Olivenbauer, der glaubte, er würde in Deutschland sein Glück finden. Sie nahm ihn bei sich auf. Eines Abends machte sie ihn betrunken und ließ ihn dies unterschreiben.“ Der Kommissar kramte in einer Akte und reichte Lilli ein Blatt.

„‚Hiermit stelle ich der Wissenschaft meinen Körper nach meinem Tode zur Verfügung.’ Datum, Unterschrift. Und das reicht?“

„Offenbar ja. Mit diesem Wisch hat sie den Toten der Universität zugeführt und dort fachgerecht plastiniert. Später hat sie die Leiche bei einer Nacht- und Nebelaktion – wie soll ich mich ausdrücken? – entführt.“

„Was ...“, seine Kollegin schluckte ein paar Mal heftig, „was macht eine Pathologin mit einem toten jungen Mann?“

„Ich vermute einen sexuellen Hintergrund“, erklärte Kommissar Schwarzer. „Immerhin stand der Leichnam nur mit einem Laken bekleidet an ihrem Bett.“

„Nicht zu vergessen der erigierte Penis“, fügte Lilli hinzu und schüttelte sich. „Krank!“, sagte sie. „Warum hat sie nicht einfach eine nackte Statue in ihrem Schlafzimmer aufgestellt?“

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