Loe raamatut: «Sprachenlernen und Kognition», lehekülg 8

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2.1.6 Metaphern in der Sprachvermittlung

Sie stellen sich vielleicht die Frage, warum gerade die Metaphern in dieser Ausführlichkeit behandelt werden. Wenn Sie Ihre Kollegen fragen, dann werden sie Ihnen sicher sagen, dass Metaphern doch eher für fortgeschrittene Fremdsprachenlerner in Frage kommen. In diesem letzten Abschnitt wollen wir uns daher mit der eigentlichen Relevanz der Metaphern für den Fremdsprachenerwerb beschäftigen. Wir werfen zunächst einen Blick auf den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER). Dort werden die Metaphern nur marginal erwähnt, und zwar als Teil der sogenannten lexikalischen Kompetenz:

Lexikalische Elemente sind: feste Wendungen, die aus mehreren Wörtern bestehen und jeweils als ein Ganzes gelernt und verwendet werden. Solche festen Wendungen sind z.B.: idiomatische Wendungen, oft semantisch undurchsichtige, erstarrte Metaphern, z.B.: Er hat den Löffel abgegeben/fallen lassen. (= er ist gestorben). (Europarat 2001: 111)

Wenn wir aber die Metaphern aus kognitionslinguistischer Sicht definieren, so erweisen sie sich auch für L2-Lerner als ein wichtiges Werkzeug des Denkens und Handelns, das sowohl für Anfänger als auch für Fortgeschrittene höchst relevant ist. In dieser Hinsicht stellten Littlemore, Krenmayr, Turner & Turner (2014) fest, dass L2-Lerner auf allen Niveaustufen des GER metaphorische Ausdrücke nutzten, wobei sie mit zunehmendem Sprachniveau häufiger verwendet werden. Außerdem haben sie beobachtet, dass die Lerner auf den Anfängerniveaus für die metaphorischen Ausdrücke vorwiegend Items aus kaum erweiterbaren Wortklassen nutzten, wie zum Beispiel die räumlichen Präpositionen unter und über für den Ausdruck von hierarchischen Beziehungen. Die Lerner auf den höheren Niveaustufen (ab B2) nutzten hingegen vor allem Wörter aus erweiterbaren Wortklassen (zum Beispiel das Verb kontern in einer Diskussion) (vergleiche auch Roche & Suñer 2014). Insgesamt scheinen Metaphern also doch im gesamten Prozess des Fremdsprachenerwerbs präsent zu sein, auch wenn deutliche Unterschiede in Abhängigkeit vom Niveau zu beobachten sind. Da bisher der Erwerb einer solchen metaphorischen Kompetenz in den Kompetenzskalen nicht formuliert wurde, versuchen die Autoren auf der Basis ihrer Befunde die wichtigsten Deskriptoren einer solchen Kompetenz zu beschreiben. Im Folgenden sehen Sie exemplarisch die Deskriptoren für die Niveaustufen B1 und B2:

B1: In addition to the above, learners should be able to use a limited number of conventional metaphors, with appropriate phraseology to present their own perspective. They should also be able to make limited use of personification metaphors. They may be starting to use a small number of metaphor clusters.

B2: In addition to the above, learners should be able to make use of a limited number of conventional and creative open-class metaphors. They should be able to use metaphors for evaluative and discourse organizing purposes. They should be starting to use personification metaphors more extensively. Metaphorical clusters are more in evidence at this level. Some are coherent, whereas others contain mixed metaphors.

(Littlemore et al. 2014: 142)

Vor diesem Hintergrund plädieren die Autoren für eine stärkere Berücksichtigung der metaphorischen Kompetenz sowie für die Anwendung dieser Deskriptoren beispielsweise bei der Beurteilung schriftlicher Arbeiten. In diesem Fall sollte der Erwerb der metaphorischen Kompetenz den Autoren zufolge vor allem auf der Niveaustufe B2 durch eine entsprechende Didaktisierung begleitet werden, da die Lerner auf dieser Stufe beginnen, Metaphern mit Wörtern aus erweiterbaren Wortklassen zu verwenden. Deshalb sind entsprechend konzeptuelle Fehler zu erwarten (zum Teil durch den L1-Einfluss) (vergleiche Littlemore et al. 2014: 143). Da aber gerade die adäquate konzeptuelle Enkodierung von Erfahrungen (unter anderem anhand von Bildschemata) eine wichtige Voraussetzung für eine qualitativ entwickelte Mehrsprachigkeit ist, erweist sich der Erwerb einer solchen metaphorischen Kompetenz als ein sinnvolles übergeordnetes Ziel der Sprachvermittlung (vergleiche Roche 2013b; Danesi 2008; Littlemore & Low 2006b). In diesem Zusammenhang betont Danesi (2008), dass ein erfolgreicher Sprachenerwerb nicht nur in der Beherrschung formeller Aspekte der Fremdsprache besteht, sondern auch in dem kultursensitiven Umgang mit den metaphorischen Extensionen denotativer Wortbedeutungen.

Wie eine solche metaphorische Kompetenz gefördert werden kann, zeigen Azuma & Littlemore (2010) in ihrer Studie, in der sie den Effekt unterschiedlicher Verfahren zur Steigerung des kreativen Umgangs mit Sprache und zur besseren Erschließung und Produktion metaphorischer Ausdrücke untersuchen. In einer Interventionsstudie vergleichen sie das sogenannte attribute-matching-training (Zuordnen von gemeinsamen Eigenschaften zwischen Quellen- und Zieldomäne mit anschließender Reflexion) mit dem Gestalt-Training (Förderung der ganzheitlichen Wahrnehmung). Die Ergebnisse zeigen, dass das attribute-matching-training zu einer signifikant besseren Rezeption und Produktion von metaphorischen Ausdrücken als das Gestalt-Training führt. Die Autorinnen und Autoren erklären diesen Unterschied dadurch, dass das attribute-matching-Prinzip die Schritte bei der Metaphernverarbeitung auf eine besser handhabbare Weise transparent macht. Dadurch fällt deren Anwendung auf andere Fälle leichter und es können damit mentale Prozesse gefördert werden, die als Grundlage für die Verarbeitung von metaphorischen Ausdrücken dienen, wie zum Beispiel das assoziative und bildliche Denken sowie die Analogiebildung (vergleiche Littlemore & Low 2006b).

2.1.7 Zusammenfassung

 Körperliche Erfahrungen und mentale Bilder werden zwar in den verschiedenen Sprachen unterschiedlich verwendet, allen Sprachen ist jedoch der Prozess der Metaphorisierung gemeinsam, nach dem ein bestimmter konzeptueller Inhalt von einer Quellendomäne auf eine Zieldomäne übertragen wird.

 Metaphern sind also dynamisch und produktiv und können sich in allerlei Kontexten als ein wichtiges Mittel zum Ausdruck komplexer abstrakter Sachverhalte erweisen.

 Im Fremdsprachenerwerb werden sie bereits auf den niedrigsten Niveaustufen verwendet, allerdings aus qualitativer und quantitativer Sicht anders als auf höheren Niveaustufen.

 Bei der Metaphernverarbeitung wirken viele Faktoren zusammen. Der Konventionalitätsgrad und die Salienz der Wortbedeutungen sind oft für die Art der Verarbeitung entscheidend.

2.1.8 Aufgaben zur Wissenskontrolle

1 Wie lassen sich Metaphern definieren und welche Arten gibt es?

2 Welche sind die wichtigsten Beschränkungen der konzeptuellen Metapherntheorie?

3 Wie würden Sie den Begriff Bildschema definieren und welche Beispiele würden Sie für ihre Verwendung in der Sprache geben?

4 Welche Faktoren spielen bei der Metaphernverarbeitung eine Rolle?

5 Warum ist die metaphorische Kompetenz im Fremdsprachenerwerb so wichtig?

2.2 Raum und Zeit

In dieser Lerneinheit beschäftigen wir uns mit Aspekten von Raum- und Zeitkonzepten und ihrem sprachlichen Ausdruck. Mit Hilfe von Raum- und Zeitkonzepten strukturieren und organisieren wir die Wahrnehmung von Ereignissen, die unser Leben bestimmen. Dabei zeigt sich, dass zeitliche Konzepte oft auf räumlichen Metaphern aufbauen. Zeit- und Raummarkierungen sind so fundamental für das Leben, dass viele Sprachen obligatorische Markierungen von Raum (Räumlichkeit) und/oder Zeit (Temporalität) vorsehen. Dies drückt sich zum Beispiel in obligatorischen Raum- oder Richtungsangaben und im Tempus (also den Zeitmarkierungen in Sätzen) aus. Zeit- und Raumangaben sind dabei so eng miteinander verbunden, dass sie sich gegenseitig implizieren.

Temporalitätskonzepte sind in der Regel in Sprachen so fixiert (entrenched) und konventionalisiert, dass sie grammatikalisiert sind und diese obligatorischen Markierungen nicht immer konzeptuell transparent bleiben. Der Bezug zu den historischen Wurzeln ihrer Entstehung geht verloren. Diese sprachlichen Markierungen schreiben den Nutzern vor, wie sie die Welt zu konzeptualisieren haben, und sie verlangen von Lernern ein »Umdenken«, wenn sie diese Konzeptualisierungswege bisher nicht kennen. Dabei hat sich herausgestellt, dass die strukturellen Formen ein kleineres Problem sind als die eingefahrenen Konzepte.

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

 verstehen, wie Raum- und Zeitkonzepte miteinander in Beziehung stehen und wie sie in verschiedenen Sprachen kulturspezifisch realisiert werden;

 Argumente für eine semantische, funktionale und pragmatische Darstellung von Grammatik neben einer formalen Darstellung kennen;

 grammatische Zeitausdrücke, insbesondere Tempus vor dem Hintergrund kulturspezifischer, konkreter Raumerfahrungen temporalsemantisch, funktional und pragmatisch erklären können.

2.2.1 Beziehungen von Raum und Zeit

Raum und Zeit sind Grundgrößen jeder Kommunikation. Wenn wir sprechen oder schreiben, auch wenn wir sprachlich denken (innere Sprache), tun wir das in einer bestimmten Situation, die einen Raum sowie einen Anfang und ein Ende hat. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob es sich um eine reale oder virtuelle, um eine geschlossene oder offene Situation und den entsprechenden Raum handelt. Raum und Zeit sind immer da. Und sie sind von jedem Sprecher und Lerner ständig erfahrbar. Es ist interessant, dass wir auch in neuen virtuellen Räumen in Outer Space (Weltall) und Cyberspace auf Raum- und Zeitkonzepte zurückgreifen, die wir aus unserer irdisch-konkreten Erfahrung kennen und für die uns unsere Sprachen irdisch-konkrete Mittel zur Verfügung stellen (Raumschiff, Station, Chat Room, Forum, Archiv, Bibliotheken, hoch- und herunterladen/up-/downloading, Speicher, Webseite …). Raum und Zeit lassen sich jedoch unterschiedlich gestalten und perspektivieren. Man kann den Raum etwa als Größe ansetzen (im Auto, in der U-Bahn, unter freiem Himmel, in der Straße), die man nach vertikalen, horizontalen oder lateralen (in den Raum führenden) Aspekten organisiert, sie als veränderlichen Container konzeptualisieren (einen Ballon aufblasen, vor Wut platzen), in Bezug auf seine Begrenzung markieren (im Zimmer/in das Zimmer), seine Richtung, seinen Zugang oder Ausgang thematisieren (zur Post/nach Hause, hinein – heraus) oder auch deiktisch einteilen (hier –da – dort) und vieles mehr. Es gibt linguakulturelle (sprachentypische) Präferenzen dafür, aber ein Sprecher hat innerhalb der gebotenen Möglichkeiten weitere Differenzierungsoptionen. Grammatiken erklären oft nur den formalisierten und fossilisierten Stand einer Sprache, aber nicht den konzeptuellen Gehalt ihrer Mittel und deren Entwicklung. Dabei ergeben sich daraus viele prinzipielle Gemeinsamkeiten von unterschiedlich erscheinenden Sprachen, die sich in der Sprach- und Kulturvermittlung wunderbar nutzen ließen. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie ähnlich sich Sprachen oft sind und welche Gemeinsamkeiten Zeit- und Raumkonzepte dabei in konzeptueller Hinsicht aufweisen. Anschließend wird gezeigt, woher diese Gemeinsamkeiten kommen können und wie Lerner im ungesteuerten Spracherwerb die Aufgaben des Erwerbs von Räumlichkeits- und Temporalitätskonzepten angehen.

Gemeinsamkeiten von Räumlichkeit und Temporalität

Räumlichkeit und Temporalität lassen sich in ihrer Dimensionalität (ein-, zwei-, dreidimensional), ihrer Orientierung nach Horizontalität oder Vertikalität und ihrer Form (linear, zyklisch) fassen. Zum Beispiel: vor einem Monat (vorigen Monat)/vor einer Tür …, nach dem Unterricht/nach (hinter) dem Ortsschild, neben (nebenbei), und zwar nicht nur im Deutschen. Im Samoanischen entspricht vorgestern zum Beispiel der Bezeichnung der Tag hinter gestern (talaatu ana-nafi) und übermorgen der Bezeichnung der Tag hinter morgen (talaatu taeao) (Mosel nach Radden 2011: 28). Es verwundert daher kaum, dass räumliche Bewegungen und Grenzüberschreitungen ihre Parallelen in der Temporalität haben (passing time, der kommende Feiertag, die Zeit überschreiten). Eine Ortsangabe impliziert, dass sie zu einer bestimmten Zeit passierte, eine Zeitangabe impliziert, dass sie an einem bestimmten Ort stattfand (um 3 Uhr, in der Schule). Welche Aspekte oder Perspektiven von Räumlichkeit und Temporalität eine Sprache jedoch wählt, ist ihren Sprechern überlassen.

Diese sprachlichen Perspektivierungen sind Ergebnisse konzeptueller Profilierungen (construal). Im Deutschen und Englischen stellt man sich zum Beispiel bestimmte Raumereignisse als Behälter vor (im Regen, in the rain), während in romanischen Sprachen eine Fläche die konzeptuelle Grundlage bildet (bajo la lluvia, sous la pluie). Im Englischen spielt die Verlaufsform (going to, eating) eine wichtige Rolle, im Deutschen dagegen der Aspekt der Abgeschlossenheit oder Nicht-Abgeschlossenheit verschiedener Ereignisse in der Vergangenheit (Unterschied von Präteritum und Perfekt), im Französischen werden sich wiederholende Ereignisse (Iterativität) mit dem imparfait markiert. In vielen Kulturen wird Zeit als linearer (räumlicher) Vorgang verstanden, mit einem präsentischen Zentrum, von dem aus der Betrachter in seinem Bezugssystem (Origo) nach vorne und nach hinten in die Zeit schaut. Die Reihung der Zeitabschnitte ergibt sich dabei entweder aus der äußersten Vergangenheit zur äußersten Zukunft oder auch »gegenläufig« durch die Änderung der Blickrichtung des Sprechers in die Zukunft oder in die Vergangenheit. Die Blickrichtung des Sprechers ist damit eine lokalisierbare (er blickt nach vorne oder nach hinten, zum Beispiel facing hard times). Man spricht hier auch von ego-aligned (nacheinander gereihten) und ego-opposed (gegenläufigen) Perspektiven. In Hausa und anderen westafrikanischen Sprachen findet sich eine ähnliche Perspektivierung im Ausdruck der Temporalität. Hier ist aber die Entfernung vom Betrachter das unterscheidende Kriterium. Ein früherer Wochentag kann so zum Beispiel als vor einem später liegenden (ego opposed) – und nicht in Beziehung zur Sprechzeit – markiert werden (Radden 2011: 19). Radden (2011: 6f) weist darauf hin, dass temporale Ereignisse auch vertikal organisiert sein können. In asiatischen Sprachen geschieht das gelegentlich, aber auch im Englischen und anderen indoeuropäischen Sprachen gibt es durchaus Parallelen: Christmas is coming up, on top of things to do. In Mandarin heißt es shang-ban-nian (oberes halbes Jahr, das erste Halbjahr) oder xia-ban-nian (niedrigeres halbes Jahr, das zweite Halbjahr), im Koreanischen spricht man von sang-bangi (obere Halbperiode) und von ha-bangi (niedrige Halbperiode), im Japanischen von kami-han-ki (hoch halb Periode) und shimo-han-ki (niedrig halb Periode). Monatsanfang heißt in Mandarin yue-tou, (Monat Kopf/Spitze), Monatsende yue-di (Monat Boden). Das Koreanische lokalisiert das erste, zweite und dritte Drittel eines Monats nach sang-sun, jung-su und ha-sun, also obere, mittlere und untere 10 Tage (Beispiele nach Radden 2011: 6). Zudem gibt es in manchen Sprachen wie dem Chinesischen metaphorische Varianten der Markierungen, zum Beispiel durch die Bezeichnung von Kopf für frühere Ereignisse. Während in ostasiatischen Sprachen oben immer mit Vorzeitigkeit assoziiert ist und Nachzeitigkeit mit unten, ist das Englische in dieser Hinsicht nicht eindeutig festgelegt: »down to this day, down into the future, down the road, Rudolph the red-nosed reindeer, you’ll go down in history« (bekanntes amerikanisches Weihnachtslied). Diese Systematik ist nicht immer durchgängig lexikalisiert.

Zyklische Zeitkonzepte, die auf einem räumlichen Konzept basieren, sind in vielen Sprachen statt linearer verbreitet. Die südamerikanische Sprache Toba verwendet zum Beispiel ein zyklisches Konzept von Zeit: Was außerhalb eines Blickfeldes ist, verschwindet (geht unter) in der unmittelbaren Vergangenheit (rechts vom Sprecher) oder taucht in der nahen Zukunft (links von ihm) auf (Radden 2011: 12). Es ist berichtet worden, dass Sprecher von Toba, aber auch von anderen Sprachen, links über die Schulter schauen, wenn sie auf die Zukunft verweisen (left shoulder phenomenon). Zyklische Raumkonzepte liegen auch den Vorstellungen von Jahres- und Saisonzyklen, Wochen- und Monatszyklen und sich wiederholenden, auf Uhren und in manchen Kalendern kreisrund dargestellten Stundenabläufen zugrunde. Verbunden mit der linearen Vorstellung von Zeitabläufen, die einmalig und unwiederbringlich sind, ergibt sich daraus ein spiralförmiges Konzept von Temporalität mit offenem Beginn und unbestimmtem Ende.

Die Räumlichkeit von Zeitmodellen

Woher kommen die Temporalitätskonzepte? Darüber lassen sich derzeit keine abschließenden Aussagen machen, aber es ist auffällig, dass die Konzepte mit einer Reihe von grundlegenden Räumlichkeitserfahrungen korrespondieren. In Bezug auf die in asiatischen Sprachen so weit verbreitete vertikale Konzeption der Zeit, kann vermutet werden, dass sich diese an der Schreibrichtung von oben nach unten in diesen Sprachen orientiert. Alternativ kann vermutet werden, dass das Flussmodell fließender Zeit durch die kulturelle Bedeutung des Jangtse Flusses in China gestärkt wurde. Da sich vertikale Konzepte aber auch in anderen Sprachen finden, kann angenommen werden, dass die menschliche Erfahrung von sich abwärts bewegenden Hängen hierbei einen Einfluss gehabt haben könnte (Evans 2004: 235f) oder auch die grundlegende Erfahrung von Krabbel- und Kriechbewegungen, bei der der Kopf in der Regel die Vorderseite markiert und damit anderen, sich nach vorne bewegenden Objekten wie Autos, Schiffen oder Flugzeugen ähnelt (Yu 1998: 111).

2.2.2 Dimension der Temporalität

Neben der kulturspezifischen, metaphorischen Konzeptualisierung drücken Tempusangaben implizit oder explizit unterschiedliche Aspekte der zeitlichen Referenz aus: neben inhärenten, semantischen Merkmalen wie zum Beispiel Perfektivität, Iterativität oder Inchoativität, auch funktionale Aspekte wie eine Unterscheidung zwischen Erzähltempora (Präteritum im Deutschen, weil es Abgeschlossenheit in der Vergangenheit ausdrückt) und Berichtzeit (Perfekt im Deutschen, weil das Ende offen ist). Diese können in Tempora wie dem Perfekt/Präteritum, imparfait, present perfect oder auch lexikalisch wie in Präfixen im Deutschen ausgedrückt werden (auf-, ver-, abblühen als Aktionsart). Die Tempora drücken unterschiedliche Referenzen auf die Ereignis-, die Referenz- und die Sprechzeit aus. Eine Äußerung wie Che ist mit dem Motorrad durch Südamerika gefahren markiert nicht nur eine bestimmte, hier nicht näher benannte, aber bekannte Referenzzeit in der Vergangenheit (1952) und deren potenzielle Unbegrenztheit, sondern auch einen Sprechzeitpunkt außerhalb der Ereigniszeit (zum Beispiel gerade eben). Zudem markiert eine Äußerung, der Professor hat gesagt, Che ist … gefahren eine weitere Referenzzeit zum Ereignis. Diese Referenzaspekte gilt es im Sprachunterricht und Spracherwerb insofern zu berücksichtigen, als auch bei ihrer Realisierung kulturspezifische Präferenzen wirken können oder müssen.

Im Fremdsprachenunterricht werden Fragen des Ausdrucks von Zeit in der Regel auf lexikalische und formale Aspekte reduziert. Selten geht es um Funktionen der Temporalität. Es wird also vor allem das unmittelbar erforderliche Inventar für den Ausdruck zeitlicher Verhältnisse genannt: gestern, heute, morgen, vor einer Woche, in einer Stunde, immer, der Tag, der Monat, das Jahr, 13 Uhr, 1984, eine Ewigkeit. Und es werden die – meist obligatorischen – grammatischen Markierungen des Tempus eingeführt, in der kommunikativen Didaktik das Perfekt vor dem Präteritum, weil es in der Umgangssprache häufiger ist, aber ansonsten am besten rein topologisch, also die kurzen Tempusformen vor den zusammengesetzten. Ob das Präsens überhaupt ein Tempus ist, ob die Partizipien nicht eher Adjektive sind und wie Tempus und Aspekt zusammenhängen, interessiert dabei nicht, ist vielleicht für Lerner auch nicht unbedingt wichtig. Die Konsequenzen dieser linguistischen Diskussion könnten jedoch vermittlungsrelevant sein, aber das fällt meist unter den Tisch, weil diese zu einer Komplexität führen könnten, deren Bewältigung Lernern trotz des Lebensbezuges nicht zugetraut wird. Dabei wären aber doch folgende Fragen durchaus für die Vermittlung von Sprachen hoch relevant: Wann lässt sich Temporalität rein lexikalisch markieren? Wieso wird sie oft implizit ausgedrückt und unter welchen Bedingungen? Wieso kann man im Deutschen etwa mit dem Präsens fast alle Tempora ausdrücken? Worin besteht der Unterschied zwischen Präteritum und Perfekt? Welche textkonstituierenden Funktionen haben Tempora eigentlich? Wieso sagt man im Westdeutschen bin angefangen und nicht habe, wieso kann ein Rennfahrer gefahren haben und gefahren sein? Dazu gibt es recht viel und umfangreiche, oft auch kontroverse Literatur. Vater (2007) gibt unter Rückgriff auf einschlägige Forschungsliteratur eine konzise Darstellung der wichtigsten Orientierungslinien, mit denen die Komplexität des temporalen Systems von Sprachen, vor allem des Deutschen, übersichtlich erklärt werden kann. Auf seine Darstellung nimmt der folgende Abschnitt Bezug.

Ereignis-, Referenz- und Sprechzeiten

Unter dem Begriff Temporalität lassen sich alle Funktionen und Mittel fassen, die zeitliche Dimensionen in der Sprache ausdrücken, also Aspekte der innersprachlichen Temporalsemantik und der Referenz auf die außersprachliche Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit besteht in Zeitpunkten, Zeiträumen und Zeitspannen, Vorgängen und Vorgangsweisen (zum Beispiel in Beginn, Dauer, Ende, Wiederholbarkeit, Gleichzeitigkeit, Vor- oder Nachzeitigkeit) und anderem, die wir als rekurrente Muster erkennen (vergleiche Oakley 2007). Temporale Beziehungen können lexikalisch explizit, etwa durch Adverbiale ausgedrückt werden, durch grammatische Mittel wie Tempus und Aspekt erscheinen oder implizit gegeben sein, etwa durch lokale Angaben oder situative Voraussetzungen wie etwa in der Warnung »Achtung«, die weder eine adverbiale noch eine grammatische Zeitmarkierung enthält.

Die durch das Tempus ausgedrückte Temporalität lässt sich nach dem einflussreichen Schema von Reichenbach (1947) nach drei Kriterien bestimmen:

1 SprechzeitSprechzeit (S, point of speech);

2 EreigniszeitEreigniszeit (E, point of event);

3 ReferenzzeitReferenzzeit (R, point of reference).

Die SprechzeitSprechzeit (S), bei Klein (1994) time of utterance (TU), bezeichnet die Referenz auf den Zeitpunkt oder Zeitraum, in dem die Äußerung produziert wird. Von dort aus kann ein Ereignis (E) zuvor, gleichzeitig oder später stattfinden. Es war schön im Urlaub bedeutet also, dass E vor S erfolgt ist. Wann genau, kann ein Sprecher zudem lexikalisch markieren (etwa durch letztes Jahr). Der Urlaub war so teuer, dass ich mir lange Zeit keinen mehr leisten werde situiert die traurigen Aussichten in der Zukunft. S erfolgt vor E. Bei Isch bin glücklisch fallen beide zusammen, ob im Dialekt, in der Talkshow oder irgendwo anders. Mit dem Plusquamperfekt und ähnlichen Tempora in anderen Sprachen lässt sich eine Vor-Vorzeitigkeit zu einem Ereignis vor der Sprechzeit ausdrücken. Bis vorletztes Jahr hatte sie noch nie Urlaub gemacht. Referenzzeit (R) = vorletztes Jahr, E = davor, S = jetzt. Eine wichtige Differenzierung ergibt sich aus Kleins Konzepten der Situationszeit (TSit), in der das Ereignis stattfindet, auf das sich ein Sprecher in der Topik-Zeit (TT) bezieht. Der ermittelnde argentinische Staatsanwalt wurde in der Badewanne gefunden. Er war tot. bezieht sich auf TT (das Finden) und TSit (das Totsein), das zur Sprechzeit noch andauert. Das Tempus markiert also nach Klein (1994) die Referenz zwischen TU und TT. Die Relation zwischen TT und TSit wird demzufolge, wo Sprachen das erlauben oder für nötig halten, durch Aspektmarkierungen ausgedrückt. Das Präsens im Deutschen markiert sowohl die Inklusion von TU (S) und TT (wie oben E, Gegenwart) als auch die Nachzeitigkeit von TT nach TU (Zukunft).

Kontextuelle Relation und intrinsische Relation

Ehrich und Vater (1989) zeigen, dass es im Sinne der einflussreichen Kategorisierung von Reichenbach (1947) sinnvoll ist, in den Relationen von E, S und R zwischen intrinsischer und kontextueller Referenz zu unterscheiden. Die intrinsische betrifft das Verhältnis von E und R, die kontextuelle das Verhältnis von R und S. In Bezug auf die intrinsische Referenz stimmen Präsens und Präteritum im Deutschen somit überein: E und R sind simultan. In Bezug auf die kontextuelle Referenz von R und S stimmen dagegen Präsens und Perfekt überein: R ist simultan mit der Sprechzeit. Das heißt, das Perfekt kann im Deutschen die Sprechzeit mitumfassen und ist, anders als das Präteritum, nicht von dieser ausgeschlossen. Genau aus diesem Grund wird das Präteritum in der Rechtssprache bevorzugt: es bezeichnet abgeschlossene und nicht potenziell in der Gegenwart (Sprechzeit) oder Zukunft noch veränderbare Ereignisse.


kontextuelle Relation
S, RR < S
intrinsische RelationE, RPräsensPräteritum
E < RPerfektPlusquamperfekt

Abbildung 2.6:

Intrinsische und kontextuelle Bedeutung deutscher Tempora (Vater 1997: 28)

Aus den beiden genannten Dimensionen ergibt sich zudem eine dritte Relation zwischen E und S: Perfekt und Präteritum unterscheiden sich in der intrinsischen und der kontextuellen Bedeutung, wie in der Tabelle oben dargestellt, markieren aber die gleiche deiktische Relation, nämlich E liegt vor S. Im Plusquamperfekt ergibt sich folgerichtig eine intrinsische Relation von E vor R und die kontextuelle Relation R vor S (Ehrich & Vater 1989: 119) beziehungsweise nach Klein (1994: 131) für das Englische »TU after TT and TT after TSit«.


PerfektPräteritum
E < RIntrinsische BedeutungE, R
S, RKontextuelle BedeutungR < S
E < SDeiktische InterpretationE < S

Abbildung 2.7:

Deiktische Deutung von Perfekt und Präteritum (Vater 1997: 28)

Funktionale Aspekte der Temporalität

Tempora können darüber hinaus auch kognitiv relevante, textuelle Funktionen übernehmen, indem sie Hinweise auf die Lokalisierung und Verarbeitung von Vorwissen beziehungsweise auf einen bestehenden Ausgleichsbedarf zwischen Sprecher und Hörer geben. Die Kontinuität der, im Deutschen und Englischen meist obligatorischen, Tempusmarkierung etwa produziert zwar Redundanz, markiert damit jedoch auch die weitere Gültigkeit des zuvor etablierten Temporalitätsrahmens. Fremdsprachenlerner umgehen diese Obligatorik gerne durch Rückgriff auf das Prinzip der anhaltenden Markierung, demgemäß eine sprachliche Markierung solange gilt, bis sie explizit aufgehoben ist. Keine Markierung ist also auch eine Markierung.

Mit dem Tempus lässt sich Weinrich zufolge zudem zwischen erzählter und berichteter Welt unterscheiden (Weinrich 2005). Das Signal Es war einmal … als Einleitungsformel markiert eine bestimmte Textsorte, nämlich das Märchen, während die gleichen Ereignisse im Perfekt ausgedrückt, eher einem Protokoll oder Bericht zugestanden werden müssten. Das wichtigste Erzähltempus ist daher im Deutschen das Präteritum. Allerdings nicht zwingend, denn auch im Präsens und Perfekt lassen sich unter bestimmten Umständen Ereignisse erzählen. Darüber hinaus gibt es noch regionale Präferenzen, die sich bekanntlich unter anderem im Präteritumschwund im deutschen Sprachgebiet ausdrücken.

Das bedeutet, dass lokal bedingt die oben genannten Referenzdimensionen nicht immer realisiert werden. So spielt in süddeutschen Varietäten die Unterscheidung der kontextuellen Relationen zwischen Präteritum und Perfekt offenbar keine so wichtige Rolle wie in nord- und westdeutschen Varietäten. Es ist ein interessantes Phänomen, dass mit dem Wegfall dieser Differenzierungen oder Differenzierungsmöglichkeiten eine Notwendigkeit für Ersatzformen geschaffen werden kann. Diese liegen etwa in den hessischen und unterfränkischen Varietäten des doppelten Perfekts und des doppelten Plusquamperfekts vor: Mir habbe Hunger g’kabt g’kabt (Wir haben Hunger gehabt gehabt) oder Beim Unnerwasserkriesch sinn mir 14 daach unner Wasser marschiert und ham als noch staubische fieß g’happt g’katte (Beim Unterwasserkrieg sind wir 14 Tage unter Wasser marschiert und haben immer noch staubige Füße gehabt gehabt).

Es ist erstaunlich, wie viel Information in wenigen und kleinen Morphemen stecken kann, wie diese sich sogar überlagern oder auch außer Kraft setzen kann. Beachtenswert ist auch, wie viel Information und Korrektiv der Kontext bereithalten kann, um die verbleibenden Unklarheiten zu disambiguieren. Nicht jeder Lerner wird das ganze mögliche Inventar auch nutzen müssen, aber Temporalitätskonzepte unterscheiden sich zwischen den Sprachen und sind damit potentiellermaßen anfällig für konzeptuelle Transfers und Fehler.