Mein Bruder, Muhammad Ali

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Mein Bruder, Muhammad Ali
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

I dedicate this book to my loving brother,

Muhammad Ali.

He was my best friend and I´m proud to be

his only sibling.

I was very fortunate to share his life.

I am forever grateful.

Rahaman Ali

MEIN BRUDER, MUHAMMAD ALI

DIE ULTIMATIVE BIOGRAPHIE

RAHAMAN ALI

mit FIAZ RAFIQ

Vorwort von NFL-Legende Jim Brown


INHALT

VORWORT von Jim BROWN

VORWORT von Rahaman ALI

1BRÜDER

2DER BEGINN EINES TRAUMS

3EIN BRUDER AUF MISSION

4MUHAMMAD & MALCOLM

5KRIEG & VERDAMMUNG

6HARTE ZEITEN

7DAS GROSSE COMEBACK

8DIE HERAUSFORDERUNG

9FREILUFTABENTEUER

10DOPPELTER ÄRGER IN CAMP DEER LAKE

11HAUSPARTY

12MARKETING, MAFIA & MORD

13ZU WEIT GEGANGEN

14BIG GEORGE

15TRILOGIE

16„ICH TRETE GEGEN JEDEN AN“: DER MMA-FEHLER

17MUHAMMAD & DIE BEATLES

18HOLLYWOOD

19DIE SOWJETUNION

20EIN NEUES KAPITEL

21SCHLECHTE GESCHÄFTE

22UNGEWÖHNLICHE BEGEGNUNGEN

23DER LETZTE GONG

24SOMMERFERIEN

25ZUSAMMEN MIT STALLONE

26NEUER TAG, NEUES GELD

27ÜBER KRANKHEIT & SCHEIDUNG

28MIT NEUER STIMME

29IRAK

30NOCH EINMAL VATER SEIN

31DIE GABE, ANDEREN ZU HELFEN

32DER KAMPF EINER TOCHTER & DER ABSTIEG EINES FREUNDES

33DIE REISE AN EINEN BESSEREN ORT: EIN LEBENSWERTES LEBEN

34DAS STREBEN NACH EINER BESSEREN WELT

VORWORT

von

Jim BROWN

Muhammad Ali war mutig, frech und couragiert. Er riss viele Barrieren ein und sorgte für zahlreiche Kontroversen. Als internationaler

Superstar und großartiger Boxer war er ein Mann, der sich gegen Diskriminierung auflehnte und sich für die Gleichberechtigung aller Menschen einsetzte. Muhammad und ich hatten sehr ähnliche Vorstellungen davon, wie wir uns als Amerikaner sahen und wie wir für Gleichberechtigung kämpften.

Muhammad und mich verband eine enge Freundschaft. Zusammen hatten wir viel Spaß, und er war immer zu Scherzen aufgelegt.

Ich erinnere mich noch daran, als er eines Tages zu mir sagte: „Komm, lass uns einen Spaziergang machen und uns unter die Leute mischen.“

„Was meinst du damit? Unter die Leute mischen?“, fragte ich etwas irritiert.

„Wir gehen nur spazieren und reden mit den Leuten. Und wir lassen sie mit uns reden“, antwortete Muhammad.

Und so begannen wir, diese Spaziergänge regelmäßig zu machen.

Ali hatte die Gabe, den Menschen mehr Selbstwertgefühl zu geben. Oft überlegte ich mir, wie viele Prominente seines Kalibers es wohl gab, die sich einfach so unter die Menschen mischen und sich mit ihnen unterhalten würden. Das war schon etwas ganz Besonderes, was er da tat.

Eine der wichtigsten Lektionen, die wir beide lernten, war, dass Geld nicht allmächtig ist, die menschliche Würde aber ein wertvolles Gut. Integrität ist sehr wichtig. Wenn man als Mensch auf eine gewisse Art und Weise lebt, dann kann man allem Übel, das einem im Leben widerfährt, trotzen. Muhammad konnte das Rampenlicht so gut nutzen wie kein anderer.

Ich kenne Rahaman nun schon seit über 50 Jahren persönlich. Keine andere Person hatte eine engere Beziehung zu seinem Bruder als er. Es freut mich wirklich, dass Rahaman diese umfassende Biografie über seinen Bruder Muhammad Ali, der weit mehr als nur die faszinierendste Sportpersönlichkeit der Moderne ist, verfasst hat. Muhammad war ein Menschenfreund, ein unermüdlicher Kämpfer gegen Diskriminierung und ragte als Weltmeister im Schwergewicht nicht nur weit über den Boxsport hinaus, sondern über den gesamten Sport. Er war größer als der Sport selbst. Das Leben Muhammad Alis ist ein wichtiger Teil unserer Geschichte, und ich kann aus voller Überzeugung sagen, dass sein Vermächtnis für lange Zeit weiterleben wird … hoffentlich auf ewig.

VORWORT

von

Rahaman ALI

Für mich war mein Bruder nie nur ein Boxer.

Muhammad Ali war zweifellos der beliebteste Sportler auf der Welt und

vielleicht auch einer der am meisten bewunderten Menschen. Am Höhepunkt seiner Popularität war mein Bruder die wohl bekannteste Person auf der Welt, anerkannt auf jedem Kontinent. Als Athlet überschritt er die Grenzen seines Sports, und als Mensch verkörperte er einige unserer besten Seiten. Wenn die Leute ein Bild von meinem Bruder zeichnen, dann stellen sie sich ein geschmeidiges Schwergewicht vor, das Sonny Listons hammerharten Schlägen geschickt ausweicht, oder einen älteren, erfahrenen Boxer, der George Foreman dazu bringt, sich mit Körperschlägen zu verausgaben. Doch gleich von Anfang an erkannte ich schnell, dass der Boxsport nur eine Plattform für Muhammad war. Er war der „Auserwählte“, der helfen sollte, Menschen rund um den Erdball einander näherzubringen – durch Liebe, Frieden und Respekt.

Es gibt keinen anderen Menschen, den ein engeres Band mit Muhammad verband, als mich, abgesehen von unseren Eltern natürlich. Man könnte sagen, ich war eine fast permanente Konstante in der Gesellschaft meines einzigen Bruders. Ich kannte Muhammad zu seinen besten Zeiten und zu seinen schlechtesten: den unverbesserlichen Witzbold und den eifersüchtigen älteren Bruder, den lautstarken Fürsprecher und den ruhigen Familienmenschen hinter verschlossener Tür. Wir wuchsen zusammen auf, lebten zusammen, trainierten zusammen, reisten zusammen, verbrachten unsere Zeit unter Prominenten, trafen Präsidenten, und unsere Namen standen sogar gemeinsam auf den Fight Cards.

Doch hinter der Geschichte meines Bruders steckt noch viel mehr als die sogenannte „süße Wissenschaft“ und seine Zeit im Boxring. Trotz seiner Parkinson-Diagnose verlor mein Bruder auch im Herbst seines Lebens nie seine Lebensfreude. Sein ganzes Leben lang trat er lautstark für seine Religion und die Menschheit ein, widmete sich der Wohltätigkeit und half anderen. Sein Tod im Juni 2016 führte zu einer nie dagewesenen Flut an Lob und Emotionen. Es wurde mehr über Muhammad geschrieben als über irgendjemanden anderen: Das meiste gut, manches kontroversiell, und einigen lag wohl daran, sein Vermächtnis zu trüben. Doch bis jetzt schwieg die Stimme jenes Mannes, der ihn am besten von allen kannte – ich.

Die Geschichte meines Bruders ist schon so oft in Büchern, Magazinen und Dokumentationen erzählt worden, doch die meisten dieser Geschichten und Berichte beschäftigen sich mit der Legende und nicht mit dem Menschen dahinter. Darum ist es mir ein Anliegen, eine neue Perspektive zu zeigen und ein Bild von dem Menschen zu zeichnen, den nur ich kannte, und nicht nur von der Persönlichkeit, die den meisten bereits bekannt ist. Das Bild eines Mannes, der wie jeder andere auch mit seinem Ärger, seinen Ängsten und seinen Versuchungen haderte, aber immer sein Bestes gab, um die Welt jeden Tag ein klein wenig besser zu machen.

 

Wie so viele andere Menschen hatte auch Muhammad seine Fehler. Einmal sagte er zu mir: „Wenn du einen 50-Jährigen fragst, ob er Dinge anders machen würde, wenn er noch einmal 20 wäre, dann würde er das sicher tun. Und wenn nicht, dann hat er 30 Jahre seines Lebens verschwendet.“

Muhammad hat natürlich keine Minute seines Lebens verschwendet – selbst jene Jahre, in denen ihm die Regierung seine Boxkarriere nahm, investierte er, um dieser fesselnde Rhetoriker zu werden, der eines Tages eine neue Generation inspirieren würde.

Als wir noch Kinder waren, sagte mein Bruder zu mir: „Ich werde einmal der berühmteste Mensch auf der ganzen Welt sein.“

Wir wussten beide immer, dass er es auch schaffen würde. Ich erinnere mich noch daran, wie er am Höhepunkt seiner Karriere zu mir sagte: „Bruder, ist es nicht wunderbar, wie sich unsere Träume erfüllt haben – wie wir die Ziele, die wir uns als Kinder gesteckt haben, auch erreicht haben?“

Es gibt so viel, was ich der Welt über Muhammad Ali erzählen will, und dieses Buch ist mein Versuch, dies zu tun.

BRÜDER

Mein Bruder hätte unsere Mutter bei seiner Geburt beinahe umgebracht.

Er hatte einen riesigen Kopf, viel zu

groß, um auf natürliche Weise auf die Welt zu kommen. Die Ärzte im General Hospital in Louisville, Kentucky, versuchten alles in ihrer Macht Stehende, um meinen Bruder gesund auf die Welt zu bringen, und trotzdem wäre es beinahe schiefgegangen. Schließlich nahmen sie eine Geburtszange zu Hilfe, was dazu führte, dass Muhammad mit einem leicht schiefen Kopf auf die Welt kam. Glücklicherweise war auch unsere Großmutter mütterlicherseits da, um zu helfen. Sie versicherte unserer Mom, dass sie auf das Baby aufpassen würde, saß mit meinem neugeborenen Bruder im Arm da und streichelte seinen Kopf sanft von einer Seite zur anderen. Ob dies dazu beitrug, dass er schließlich diesen wohlgeformten Kopf bekam, kann ich nicht sagen, doch die Geburtszange hinterließ jedenfalls ihr Mal auf der rechten Wange meines Bruders, das er sein ganzes Leben mit sich herumtragen würde. Wie aber unsere Mutter uns immer erzählte, konnte man schon vom Tag seiner Geburt an sehen, dass mein Bruder ein richtig attraktiver Junge werden würde – mit diesen feinen Gesichtszügen, von denen die Schläge nur so abzugleiten schienen, und dem Gesicht, das so viele Tausende Male im Fernsehen zu sehen war – das Gesicht, das fast alle auf der Welt kannten. Er war von Anfang an ein gut aussehender Junge, und Mutter liebte ihn von dem Moment an, an dem sie ihn zum ersten Mal sah.

Trotzdem, nicht alle erkannten meinen Bruder gleich. Kurz nach der Geburt legten die Krankenschwestern das falsche Baby zu Mutter ins Bett, die vor Erschöpfung noch ganz benommen war. Als sie das Namensschild erblickte, merkte sie sofort, dass dies nicht ihr Baby war. Obwohl sie dabei sicherlich in Panik geraten sein musste, hat unsere immer ruhige Mutter ihre Stimme wahrscheinlich nur ganz leicht erhoben und gesagt: „Hey, das ist nicht mein Kind.“

Sie hatte ihre eigene Art, diese Demütigungen mit Gelassenheit hinzunehmen – eine der vielen Eigenschaften, in denen sie das genaue Gegenteil unseres Vaters war. Schlussendlich brachten die Schwestern ihr meinen Bruder. Jahre später erzählte sie uns, dass die Babys auf der Station alle so ruhig gewesen seien und man kaum eines weinen gehört habe – mit Ausnahme meines Bruders natürlich, der nicht aufhörte zu weinen. Er startete wie eine Rakete, noch nicht einmal 24 Stunden auf der Welt, und war schon der Lauteste von allen, und natürlich steckte sein Geschrei die anderen Neugeborenen an. Nur mein Bruder konnte die Station so auf Trab halten. Vom Tag seiner Geburt an war Muhammad laut.

In den letzten fünfeinhalb Jahrzehnten war mein älterer Bruder „Muhammad“ für mich, doch als er das Licht der Welt erblickte, nannten ihn unsere Eltern nach meinem Vater – Cassius Clay Marcellus Senior. Er wurde am 17. Jänner 1942 geboren, 18 Monate vor mir. Unser Vater war recht angetan von Rudolph Valentino, dem Hollywoodstar, und beschloss, mich nach ihm zu benennen, Rudolph Arnett Clay. Für meinen Bruder war ich immer Rudy, und er war für mich und den Rest der Familie Gee, wegen seiner ersten Worte, die er sprach: „Gee-gee.“ Er sagte „Gee-gee“, wenn er hungrig war, seine Windeln gewechselt werden mussten oder er nur nach etwas Aufmerksamkeit und Zuwendung verlangte. Als er sich 1964 auf Muhammad umbenannte, nahm ich den Namen Rahaman an, doch unter Familienangehörigen hieß er immer noch Gee, und selbst heute nennen wir ihn noch so. Unseren Vater nannten wir Cash, und Mom war Bird, da sie immer in so ein wunderschönes Lachen ausbrach, wenn Vater für sie sang, sie neckte oder ihr Witze erzählte.

Unsere Mutter war am 12. Februar 1917 als Odessa Lee Grady geboren worden. Ihr Vater, John Grady, war zur Hälfte weiß, da er eine farbige Mutter und einen weißen irischen Vater hatte. Er war 1877 aus einer kleinen irischen Stadt namens Ennis nach Amerika gekommen. Nach einer langen und gefahrvollen Reise über den Atlantik traf und heiratete er eine befreite Sklavin. Mit innerer und äußerer Schönheit gesegnet, hatte unsere Mutter ein sehr sanftes und liebevolles Auftreten. Aufgrund ihres kräftigeren Körperbaus und der hellen Hautfarbe wurde sie oft für eine weiße Frau gehalten, sogar zu jener Zeit, in der die Hautfarbe eine wichtige Rolle im Leben der Menschen und den Möglichkeiten, die sie hatten, spielte.

Überhaupt war es eine Seltenheit, unsere Mutter verärgert oder aufgebracht zu sehen. Immer gut aufgelegt, war da immer ein Funkeln, das Mutter zu einer so umgänglichen Person machte. Sie behandelte andere mit Würde, und diese Werte gab sie auch an Muhammad und mich von frühster Kindheit an weiter. Wir wurden gelehrt, anderen Menschen freundlich zu begegnen, uns gut zu benehmen und ältere Menschen zu respektieren, egal woher sie kamen. Zweifellos erbte mein Bruder seine freundliche und generöse Seite von unserer Mutter.

Mutter legte aber auch großen Wert auf Ordentlichkeit. Sie zog uns immer gut an, doch ihre Ansprüche galten auch für unser Heim. Zu Hause sorgte sie dafür, dass wir unsere Hausarbeiten erledigten – jeden Morgen mussten wir unsere Betten machen und unsere Schmutzwäsche in den Wäschekorb legen, bevor wir aus dem Haus gingen. Reinlichkeit wurde von jedem Familienmitglied erwartet, egal ob jung oder alt. Sie hatte auch keinen Favoriten. Obwohl Muhammad der Erstgeborene war, kann ich offen sagen, dass Mutter uns beide gleich liebhatte und keinen dem anderen gegenüber bevorzugte.

Unser Vater war in vielen Belangen das genaue Gegenteil von Mutter. Er war ein talentierter Künstler, der als Schildermaler in Louisville und Umgebung arbeitete, und er erzählte uns einmal, dass er, als er in den frühen 1950er-Jahren mit dem Malen begann, erst der zweite Farbige in der Stadt war, der Tankstellenschilder malte. Zuerst malte Vater nur in der farbigen Nachbarschaft, doch nach einiger Zeit und guter Mundpropaganda fragten auch immer mehr Weiße nach seinen Diensten – und dass, obwohl es zu dieser Zeit noch Rassentrennung in der Stadt gab. Sogar Bilder von Jesus Christus, die in vielen Kirchen Louisvilles hingen, stammten von Vater. Sein Name war überall in der Stadt zu finden.

Muhammad und ich waren seine größten Fans und absolut fasziniert von seinen Gemälden. Wir sahen dabei zu, wie seine Bilder entstanden, und bewunderten sein Talent so sehr, dass wir auch malen wollten wie er. Er war später meine Inspiration, als ich mit der Malerei begann, auch wenn ich nie ganz sein Niveau erreichte, wie ich meine.

Er sagte zu meinem Bruder: „Du solltest Anwalt oder Doktor werden“, doch schlussendlich waren es Vaters andere Talente, die Muhammed während seiner Laufbahn nachleben würde. Vater war ein natürlicher Schauspieler und liebte es, zu singen oder zu tanzen. Er hatte dieses gewisse Etwas, das einen Showman ausmacht, und er ahmte die Stars seiner Zeit nach. Dazu übte er immer wieder seinen Gesang zu Hause. Etwas anderes, wofür mein Vater bekannt wurde, war sein extravaganter Kleidungsstil.

Dieser adrette, dunkelhäutige und gut aussehende Mann zog seine frisch polierten Schuhe, seine immer eng anliegende Hose und ein frisch gebügeltes Hemd an und besuchte die Jazz Clubs der Umgebung, wo er bis in die frühen Morgenstunden tanzte. Er hatte diese Art, besonders schnell zu sprechen, so als ob er es eilig hätte, zu sagen, was er sagen wollte.

„Cassius, sprich langsamer. Ich versteh kaum, was du sagst“, sagte Mutter zu ihm, ohne zu wissen, dass die Art, wie die Worte mit 100 Stundenkilometern aus dem Mund meines Vaters kamen, der Karriere meines Bruders einmal sehr zugutekommen würden.

Muhammed und ich waren immer der Meinung, dass unser Vater eine Karriere im Showbusiness hätte machen können, doch er meinte, dass es die Rassenschranke sei, die ihn davon abgehalten habe, richtig Erfolg zu haben, denn die Chancen für Farbige waren zu jener Zeit nicht existent.

Unglücklicherweise hatte Vater auch den Ruf, gerne zu trinken und ein Schürzenjäger zu sein. Er war ein Playboy, und Mutter musste sein Verhalten für den Großteil ihres Lebens tolerieren. Manchmal konnten wir unsere Eltern dabei beobachten, wie sie miteinander stritten, und Muhammad hasste es. Er versteckte sich dann unterm Bett oder kroch unter die Decke. Dabei umarmte er mich liebevoll und hielt seine Arme schützend um mich, seinen kleinen Bruder. Nichtsdestotrotz liebten unsere Eltern einander, auch wenn sie so unterschiedliche Persönlichkeiten waren. Im Unterschied zu unserer Mutter war unser Vater sehr ernst und nicht einer dieser Väter, von denen viel Liebe ausging. Doch am schlimmsten war es, wenn er betrunken war und begann, mit Mutter zu streiten und ihr gegenüber gewalttätig wurde. Im Großen und Ganzen war er aber ein freundlicher Mann, der danach strebte, die Menschen korrekt zu behandeln, doch diese Momente, in denen unsere Eltern stritten, hinterließen einen bleibenden Eindruck bei Muhammad und mir, und ich denke, dass wir beide uns deswegen immer so bemühten, die Frauen in unserem Leben besser zu behandeln.

Eine Sache, die unsere Eltern allerdings gemeinsam hatten, war ihr Glaube. Sie waren beide überzeugte Christen und lebten nach der Bibel. Ich erinnere mich, wie Mutter mich und Muhammad jeden Sonntag anzog und mit uns zur Morgenmesse ging, um Reverend Wilson zuzuhören, wie er das Evangelium predigte. Obwohl sie uns zu Hause mit Liebe und Freundlichkeit überschüttete, war unsere Mutter nicht der Typ, der seine Gefühle offen in der Kirche mit Schreien und Rufen zur Schau stellte, so wie es andere Gläubige taten. In der Öffentlichkeit war sie immer eine ruhige und stille Dame, auch wenn sich davon nur sehr wenig auf ihre beiden Söhne übertrug.


Als Muhammad noch klein war, konnte er nie stillsitzen. Er hatte den Drang, immer aktiv zu sein. Bei jeder Gelegenheit, die er bekam, redete er dazwischen und hatte auch dann seinen Mund offen, wenn es keinen Grund dafür gab. Er aß und stopfte das Essen nur so in sich hinein und sagte zu Mutter: „Ich will noch mehr.“

Im Alter von fünf Jahren spielte er mit den Nachbarskindern und stand auf einer kleinen Plattform wie ein Anführer, der zur Menge spricht – mit mir im Schlepptau. Ich folgte ihm, so schnell es mein damals dreijähriger Körper zuließ. Unsere Mom sagte immer, sie habe schon damals gesehen, dass mein Bruder sich nie damit zufriedengeben würde, im Hintergrund zu bleiben. Er war geradezu dafür prädestiniert, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und immer gehört zu werden. Er war laut, stolz und bestimmt. Ich begann, einen geborenen Anführer in ihm zu sehen, jemanden, dem ich überall hin folgen würde.

Glücklicherweise gab es für zwei Jungs wie uns, die so vielseitige Interessen hatten, damals nicht viele Gelegenheiten, in echte Schwierigkeiten zu geraten. Wir lebten in einem rauen Stadtviertel im südlichen Louisville, zogen aber etwa zwei Jahre nach meiner Geburt für kurze Zeit ans westliche Ende der Stadt zu unseren Großeltern und dann, 1947, vier Blocks weiter in die Grand Avenue 3302. Das ist das berühmte Haus, das als der Ort gilt, an dem Muhammad Ali aufwuchs. Anfangs war es hart in der Gegend, doch es gab noch viel schlimmere Plätze im West End, so dass man sagen kann, dass die Grand Avenue zu den besseren Wohngegenden in der Nachbarschaft zählte. Im Osten der Stadt lag das Stadtviertel Smoke Town, das richtig schlimm war, doch keines der farbigen Viertel in Louisville war so schlimm wie die Ghettos in den Großstädten, in denen Afroamerikaner auf bestimmte Viertel beschränkt waren und wo die Bevölkerungsdichte oft dem Drei- oder Vierfachen weißer Viertel entsprach und in denen große Arbeitslosigkeit herrschte. Die Nachbarschaft, in der wir aufwuchsen, bestand vorwiegend aus Afroamerikanern, doch es waren einige Anwälte und Ärzte darunter, und es gab sogar einige wenige weiße Familien, die hier wohnten.

 

An dieser Stelle möchte ich auch gleich mit einem weitverbreiteten Mythos aufräumen, der schon lange existiert, nämlich dass mein Bruder und ich aus der Mittelschicht kommen. Zugegeben, wir waren nicht die ärmste Familie in der Gegend – da gab es einige, die viel schlechter dran waren –, doch den Großteil unserer Kindheit in Louisville verbrachten wir am Rande der Armutsgrenze. Das ist die Wahrheit, und ich weiß es, denn wir erlebten es ja mit. Es war nicht einfach, immer wieder Geld aufzutreiben, und es gab immer wieder Zeiten, in denen wir nicht einmal ein Auto besaßen. Als wir dann endlich eines bekamen, war es bereits zehn Jahre alt oder mehr. Wenn es einmal dringend neue Reifen benötigte, hatte Vater oft Schwierigkeiten, das Geld für neue Reifen zusammenzukratzen. Unser Haus, ein Bungalow, war ein bescheidenes Gebäude mit zwei Schlafzimmern, einem Wohnzimmer, mit einer kleinen Essecke und Küche sowie einem Badezimmer. Wir hatten einen kleinen Vorgarten und einen lang gezogenen Garten hinter dem Haus, der sich von der hinteren Veranda bis zu einer kleinen Gasse erstreckte. Dazu standen mehrere große Bäume in unserem Hinterhof, mit einem kleinen Teich, in dem ein Goldfisch schwamm. Es war sicher kein schlechter Platz zum Wohnen, doch es gab immer wieder Zeiten, in denen wir uns nötige Reparaturen im Haus nicht leisten konnten und damit leben mussten. So waren zum Beispiel unser Dach und die Mauern für mehrere Jahre in einem so schlechten Zustand, dass es ins Haus regnete. Die Veranda vorne am Eingang war schon bei unserem Einzug in einem so desolaten Zustand, dass sie beinahe auseinanderfiel. Vater versuchte, sie zu reparieren, doch es gab immer wieder andere Dinge, die wichtiger waren und wofür das Geld herhalten musste.

Auch die meiste Kleidung, die Muhammad und ich als Kinder trugen, kam von der Wohlfahrt oder wurde uns geschenkt. Wir trugen Leibchen und Schuhe aus zweiter Hand, die nicht mehr als einen Dollar kosteten. So gesehen würde ich Muhammads und meine Kindheit sicherlich nicht als ein Aufwachsen in der Mittelschicht bezeichnen. Obwohl unser Vater ein nicht ganz unbekannter Maler war und unsere Mutter als Putzfrau für einige weiße Familien arbeitete, war es trotz aller unserer Bemühungen nicht leicht, mit dem Geld auszukommen. Aber immerhin konnten uns unsere Eltern ernähren. Und auch wenn mein Bruder und ich kaum Geld hatten, nicht mit Geschenken überhäuft wurden und selten das bekamen, was wir wollten, so reichte es meist aus, dass wir einander hatten, um glücklich zu sein.

So teilten sich Muhammad und ich zum Beispiel ein Zimmer von fünf mal sechs Metern – wobei unsere Betten nebeneinanderstanden. Einige Kinder hätte das vielleicht gestört, doch wir wuchsen dadurch als Brüder noch enger zusammen. Wir unterhielten uns bis spät in die Nacht, bis wir einschliefen. Er erzählte mir, dass er von großen Dingen träumte und es einmal zu etwas bringen würde, und er erzählte mir, dass er reich und berühmt werden würde. Ich erinnere mich, dass er zu mir sagte, er würde Mutter und Vater ein großes neues Haus kaufen sowie einen nagelneuen Cadillac, und er selbst würde eine Viertelmillion Dollar auf dem Konto haben. Genauer gesagt, meinte er, dass diese Viertelmillion – es war immer diese Zahl – auf einem Sparbuch liegen würde, damit sich die Familie keine Sorgen machen müsse, wenn sie einmal in Not geraten würde. Viele Leute dachten, die Ambitionen meines Bruders seien nur Träumereien, doch ich war überzeugt, dass Muhammed der Auserwählte war. Ich wusste schon immer, dass er es zu etwas ganz Großem bringen würde.

Während Muhammad also über den Reichtum, den er einmal besitzen würde, tagträumte, verlor er nie seinen Sinn für Humor. Dieser Humor, für den er in seinem späteren Leben so bekannt war, zeigte sich schon in seiner Kindheit. Überhaupt machte es ihm viel Spaß, Leuten Streiche zu spielen – meist in unendlichen Varianten, die er sich für jeden einfallen ließ, von dem er glaubte, dass er darauf hereinfallen würde, aber ganz speziell für mich. Eines Tages kam ihm die grandiose Idee, mich dazu zu bringen, wie am Spieß zu schreien. Er band eine lange Schnur um die Vorhänge in unserem Zimmer. Um meine Aufmerksamkeit zu erregen, zog er an der Schnur, während er gemütlich auf seinem Bett lag.

„Hey, Rudy“, sagte er, „in unserem Haus spukt ein Geist!“

Das Nächste, was unsere Eltern mitbekamen, war, dass ich sie schreiend aufweckte, um ihnen zu sagen, dass es bei uns spukte. Vater sprang auf und rannte in unser Zimmer, um nachzusehen, was los war, und durchschaute den Trick sofort.

„Cassius Junior, willst du wohl sofort damit aufhören, solche Scherze mit deinem kleinen Bruder Rudolph zu treiben!“, erinnere ich mich, ihn sagen hören.

Dabei war er noch ganz verschlafen, und er verwendete den vollen Namen meines Bruders, um zu zeigen, wie ernst es ihm war – nicht, dass dies Muhammad jemals abgeschreckt hätte, weiterzumachen.

„Ich habe dich richtig gut drangekriegt, Rudy“, wiederholte er immer wieder und bog sich dabei vor Lachen. Das hätte sein Slogan sein können.


Muhammad bewunderte alles an unserer Nachbarschaft. Unsere Nachbarn waren insgesamt recht nett, und die allgemeine Stimmung war die einer engen Gemeinschaft. Doch das, was ihm am meisten gefiel, war, dass ihm die Umgebung unendlich viele Gelegenheiten bot, zusammen mit gleichgesinnten Kindern Unfug und Chaos zu stiften. Wie ich bereits erwähnt habe, war mein Bruder einer der Rädelsführer unter den Kindern in unserem Viertel, hochgekommen aufgrund der natürlichen Hierarchie, die sich immer einstellt, wenn genügend Kinder zusammenkommen. Ich war dabei sein permanenter Kumpan, doch ich überließ es immer ihm, zu führen, während ich mich im Hintergrund hielt, vor unserem Haus auf der Veranda saß oder in dem kleinen Restaurant um die Ecke. Es gab auch eine andere Ecke, abseits der wachsamen Augen unserer Eltern, wo wir spielten und würfelten.

Klar hatten wir auch Spielzeug, wenn unsere Eltern es sich leisten konnten, und spielten damit, aber wie andere Kinder bastelten wir uns auch eigenes. So banden wir eine Schnur um das Ende eines Besens, nahmen den Stiel zwischen die Beine, und schon hatten wir ein Pferd und rannten unter lautem Gejohle die Straße auf und ab, als gäbe es keine anderen Sorgen auf dieser Welt. Und wie alle Jungs spielten wir natürlich auch Cowboy und Indianer mit den anderen Kindern. Muhammad, der wie immer alles bestimmte, bestand darauf, der Cowboy zu sein, und sagte, dass ich den Indianer spielen musste. Damals wurden die Cowboys in den Westernfilmen immer als die Guten porträtiert, und die Indianer waren die Bösen. Mein Bruder wollte immer der Gute sein, denn die Guten gewannen immer.

Natürlich war das alles nur Spiel und Spaß, aber bereits in jungen Jahren begannen mein Bruder und ich, miteinander zu konkurrieren. Da wir beinahe gleich alt waren, wetteiferten wir bei fast allem, was wir taten. Vor allem Muhammad wollte bei jedem Spiel oder Wettbewerb, bei dem er mitmachte, gewinnen, und es machte keinen Unterschied, ob es darum ging, wer schneller war oder höher springen konnte, oder ob wir mit Murmeln oder Verstecken spielten. Verlieren war keine Option. In den 1950er-Jahren war Pro Wrestling sehr beliebt, und auch unsere Eltern waren davon begeistert und sahen sich immer die Kämpfe im Fernsehen an, zumindest dann, wenn der Fernseher in unserem Haus funktionierte. Es erübrigt sich wohl zu sagen, dass mein Bruder alles nachspielen wollte, was die Wrestler im Fernsehen taten – auf meine Kosten natürlich.

Das Ganze konnte auch schon einmal etwas ausarten, wenn wir versuchten, uns gegenseitig im Wohnzimmer niederzuringen, aber es war bei Weitem keine einseitige Sache. Als Kind war ich immer etwas größer und kräftiger gebaut als er, der viel schlanker und recht schlaksig war. Bevor er mit dem Boxen anfing, war mein Bruder eigentlich nie wirklich besonders daran interessiert, Sport zu betreiben – und es gab viele andere Kinder, die körperlich weit beeindruckender aussahen als er, auch wenn er schnell und ehrgeizig war.

Was den Sport anbelangt, so konnte er sich nie so recht mit Basketball oder Baseball anfreunden, jenen Sportarten, die fast alle Jungs in unserem Alter so oft wie möglich spielen wollten. Auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem Haus unseres Freundes Adrian, gab es ein brachliegendes Areal, auf dem wir uns immer trafen, und obwohl Muhammad sich nicht besonders für organisierten Sport interessierte, spielte er trotzdem aus Spaß mit. Allerdings war er kein Fan von Tackle Football, denn es erschien ihm ironischerweise als zu brutal. Dafür spielte er gerne die entschärfte Variante, Touch Football, da er ein sehr guter und beweglicher Läufer war, der sich unseren Versuchen, ihn zu berühren und damit zu stoppen, immer wieder entzog, genauso wie er später einmal um die besten Boxer seiner Generation herumtänzelte. Und schon damals auf dem Spielplatz begann er zu prahlen. Der Nervenkitzel, wenn er einer Herausforderung gegenüberstand, schien einen Schalter bei ihm umzulegen, und er rief: „Ich bin zu schnell für dich!“, während er über die Wiese sprintete. „Du kannst mich nicht einholen! Du kannst mir zusehen, wie ich den Touchdown mache!“

Und dieses Selbstbewusstsein konnte er dank seines erstaunlichen, natürlichen Bewegungstalents meist auch rechtfertigen.

Glücklicherweise waren Muhammad und ich meist im selben Team, genauso wie wir den Großteil unseres restlichen Lebens zusammen verbrachten, und diese Sommertage in unserer Kindheit blieben uns immer in Erinnerung. Damals waren wir einfach arglose Kinder mit grenzenloser Energie. Muhammad sorgte immer für Stimmung und versuchte allem, was er anfasste, eine Portion Begeisterung einzuhauchen. Im Gegenteil zu mir, der alles meist viel zu ernst nahm – zumindest, wenn man meinem Bruder Glauben schenken durfte. Obwohl ich mich eigentlich mit meiner Rolle abgefunden hatte – immerhin war ich 18 Monate jünger –, gab es Momente, in denen dann doch eine gewisse Frustration hochkam. Aber selbst dann wurde es nur sehr selten handgreiflich. Mutters stilles Missfallen und Vaters etwas handfestere Herangehensweise verhinderten gröbere Auseinandersetzungen. Abgesehen davon war dieser Konkurrenzkampf zwischen uns nur von Vorteil für mich. Muhammad wollte gemocht und anerkannt werden. Das war ihm schon mit der Muttermilch mitgegeben worden. Immer wieder versuchte er, andere zu beeindrucken und sich von der Gruppe abzuheben. Es gab jedoch eine Sache, bei der ich meinen Bruder ausstechen konnte, und wie es das Schicksal wollte, war es genau das, was ihn am meisten ärgerte.