Loe raamatut: «Fjodor Dostojewski: Hauptwerke», lehekülg 40

Font:

Er sprang vom Stuhl auf und wandte sich ab. Seine Frau weinte in der Ecke; das Kind begann wieder zu wimmern. Ich zog mein Notizbuch heraus und begann darin zu schreiben. Als ich damit fertig war und mich erhob, stand er vor mir und sah mich in ängstlicher Spannung an. ›Ich habe mir Ihren Namen notiert‹, sagte ich zu ihm, ›nun, und auch alles übrige: den Ort, wo Sie angestellt waren, den Namen Ihres Gouverneurs und die Daten. Ich habe einen Bekannten, noch von der Schule her, er heißt Bachmutow; dessen Onkel ist der Wirkliche Staatsrat Peter Matwejewitsch Bachmutow, der als Departementsdirektor ...‹

›Peter Matwejewitsch Bachmutow!‹ rief mein Mediziner, zitternd vor Aufregung. ›Aber das ist ja gerade der Mann, von dem fast alles abhängt!‹

Tatsächlich nahm die Geschichte meines Mediziners, an deren weiterer Entwicklung ich, durch den Zufall veranlaßt, mitwirkte, nun einen so glücklichen Gang, als ob alles dazu sorgsam vorbereitet gewesen wäre, ganz wie in einem Roman. Ich sagte diesen armen Leuten, sie sollten sich bemühen, auf mich keinerlei Hoffnungen zu setzen; ich sei selbst nur ein armer Gymnasiast (ich setzte mich selbst absichtlich herunter; ich hatte das Gymnasium schon längst absolviert und war nicht mehr Gymnasiast); es habe keinen Zweck, ihnen meinen Namen anzugeben; aber ich würde mich sofort nach der Wasili-Insel zu meinem Kameraden Bachmutow begeben, und da ich zuverlässig wisse, daß sein Onkel, der Wirkliche Staatsrat, ein kinderloser Junggeselle, an seinem Neffen, in dem er den letzten Sproß seines Geschlechts sehe, außerordentlich hänge und ihn sehr in sein Herz geschlossen habe, so ›wird mein Kamerad vielleicht imstande sein, mir zu Gefallen bei seinem Onkel etwas für Sie durchzusetzen ...‹

›Wenn mir nur gestattet würde, mich vor Seiner Exzellenz zu rechtfertigen! Könnte ich nur der Ehre teilhaftig werden, die Sache mündlich darzulegen!‹ rief er; er zitterte wie im Fieber, und seine Augen glänzten.

So drückte er sich aus: ›Könnte ich nur der Ehre teilhaftig werden!‹ Nachdem ich noch einmal wiederholt hatte, die Sache werde wahrscheinlich mißlingen und alles sich als Torheit herausstellen, fügte ich hinzu, wenn ich morgen vormittag nicht zu ihnen käme, so sei die Sache aus, und sie hätten nichts mehr zu erwarten. Sie begleiteten mich unter Verbeugungen hinaus und waren fast wie von Sinnen. Nie werde ich ihren Gesichtsausdruck vergessen.

Ich nahm mir eine Droschke und fuhr sogleich nach der Wasili-Insel.

Mit diesem Bachmutow hatte ich auf dem Gymnasium mehrere Jahre lang auf gespanntem Fuß gelebt. Er galt bei uns für einen Aristokraten; wenigstens nannte ich ihn so: er war stets elegant gekleidet und kam in eigener Equipage angefahren; indessen renommierte er nicht, sondern benahm sich stets als guter Kamerad; er war immer außerordentlich heiter und sogar manchmal recht witzig, obgleich es mit seinem Verstand nicht weit her war, trotzdem er in der Klasse immer den ersten Platz innehatte; ich dagegen war nie in irgendeinem Gegenstand der Erste. Alle Kameraden mochten ihn gern leiden, nur ich nicht. Mehrmals hatte er sich mir im Lauf jener Jahre zu nähern versucht; aber ich hatte mich jedesmal mürrisch und gereizt von ihm abgewandt. Jetzt hatte ich ihn schon seit einem Jahr nicht mehr gesehen; er besuchte die Universität. Als ich zwischen acht und neun Uhr abends zu ihm ins Zimmer trat (es war sehr zeremoniös zugegangen, indem ich erst angemeldet worden war), empfing er mich zunächst erstaunt, auch nicht einmal eigentlich freundlich; dann aber wurde er sofort heiter und lachte, mich anblickend, auf einmal laut auf. ›Wie sind Sie denn auf den Einfall gekommen, mich zu besuchen, Terentjew?‹ rief er mit seiner gewöhnlichen liebenswürdigen Ungeniertheit, die manchmal etwas Dreistes, aber nie etwas Verletzendes hatte, die mir an ihm so gefiel, und um derentwillen ich ihn so haßte. ›Aber was ist das?‹ rief er erschrocken. ›Sie sehen ja so krank aus!‹

Der Husten quälte mich wieder; ich sank auf einen Stuhl und konnte mich nur mit Mühe wieder erholen.

›Beunruhigen Sie sich nicht; ich habe die Schwindsucht‹, sagte ich. ›Ich komme mit einer Bitte zu Ihnen.‹

Erstaunt setzte er sich hin; ich trug ihm sofort die ganze Geschichte des Arztes vor und bemerkte, er selbst könne bei dem großen Einfluß, den er auf seinen Onkel ausübe, vielleicht für den Unglücklichen etwas bewirken.

›Das werde ich, das werde ich unbedingt tun; gleich morgen werde ich meinen Onkel in dieser Angelegenheit überfallen; ich freue mich sogar sehr; Sie haben das alles so hübsch erzählt ... Aber wie sind Sie denn eigentlich auf den Einfall gekommen, Terentjew, sich an mich zu wenden?‹

›Von Ihrem Onkel hängt hier so viel ab, und außerdem waren wir beide, Sie und ich, immer Feinde, Bachmutow, und da Sie ein anständig denkender Mensch sind, so dachte ich, daß Sie es einem Feind nicht abschlagen würden‹, fügte ich ironisch hinzu.

›Gerade wie Napoleon sich an England gewendet hat!‹ rief er lachend. ›Ich werde es tun, ich werde es tun! Ich werde sogar sofort hingehen, wenn es möglich ist!‹ fügte er eilig hinzu, als er sah, daß ich ernst und gemessen vom Stuhl aufstand.

Und wirklich nahm ganz unerwarteterweise diese unsere Sache einen solchen Verlauf, wie man sich einen besseren gar nicht denken konnte. Nach anderthalb Monaten erhielt unser Mediziner wieder eine Stelle in einem andern Gouvernement; er bekam das Umzugsgeld und sogar eine Unterstützung. Ich vermute, daß Bachmutow, der die beiden Leute häufig zu besuchen pflegte (während ich seitdem absichtlich nicht mehr zu ihnen ging und den Arzt, wenn er zu mir kam, ziemlich trocken empfing) – Bachmutow überredete, wie ich vermute, den Arzt sogar, ein Darlehen von ihm anzunehmen. Mit Bachmutow kam ich in diesen sechs Wochen zweimal zusammen, und wir trafen uns zum drittenmal, als wir von dem Arzt bei seiner Abreise Abschied nahmen. Bachmutow hatte bei sich zu Hause eine Abschiedsfeier in Form eines Mittagessens mit Champagner arrangiert; dabei war auch die Frau des Arztes zugegen; indes fuhr sie sehr bald wieder nach Hause zu ihrem Kind. Das war Anfang Mai; es war ein klarer Abend, und der gewaltige Sonnenball senkte sich in die Bucht hinab. Bachmutow begleitete mich nach Hause; wir gingen über die Nikolajewski-Brücke; der genossene Wein hatte auf uns beide seine Wirkung ausgeübt. Bachmutow sprach sein Entzücken darüber aus, daß die Sache zu einem so guten Ende gelangt war, bedankte sich bei mir für irgend etwas, sagte, eine wie angenehme Empfindung er jetzt nach dieser guten Tat habe, versicherte, daß das ganze Verdienst mir gebühre, und bemerkte, es sei ein arger Irrtum, wenn heutzutage viele lehrten und predigten, daß die gute Tat eines einzelnen keinen Wert habe. Auch mich drängte es, mich auszusprechen.

›Wer das sogenannte Einzelalmosen angreift‹, begann ich, ›der greift die Natur des Menschen an und verachtet dessen persönliche Würde. Aber die Organisation des staatlichen Almosenwesens und die Frage der persönlichen Freiheit sind zwei verschiedene Fragen und schließen sich gegenseitig nicht aus. Die gute Tat des einzelnen wird stets bestehenbleiben; denn sie ist ein Bedürfnis der Persönlichkeit, das lebendige Bedürfnis einer direkten Einwirkung der einen Persönlichkeit auf die andere. In Moskau lebte ein alter Herr mit einem deutschen Namen, ein General, das heißt ein Wirklicher Staatsrat; der ging sein ganzes Leben lang fortwährend in die Gefängnisse zu den Verbrechern; jeder Trupp von Verschickten, der nach Sibirien abging, wußte im voraus, daß der alte General ihm auf den Sperlingshügeln einen Besuch machen werde. Er verfuhr dabei mit größtem Ernst und größter Frömmigkeit; er erschien, ging durch die Reihen der Verschickten, die ihn umringten, blieb vor einem jeden stehen, erkundigte sich bei einem jeden nach seinen Bedürfnissen, hielt fast nie jemandem eine Strafpredigt und nannte sie alle Täubchen. Er gab ihnen Geld und schickte ihnen notwendige Gebrauchsgegenstände, wie Fußlappen und Leinwand; auch brachte er ihnen manchmal geistliche Büchelchen mit und beschenkte damit jeden des Lesens Kundigen in der festen Überzeugung, daß diese sie unterwegs lesen und ihren des Lesens unkundigen Schicksalsgenossen vorlesen würden. Nach den begangenen Verbrechen fragte er nur selten; indes hörte er zu, wenn der Verbrecher von selbst davon zu reden anfing. Alle Verbrecher behandelte er gleich; er machte darin keinen Unterschied. Er sprach mit ihnen wie mit Brüdern; sie selbst aber betrachteten ihn schließlich als ihren Vater. Wenn er unter den Verschickten eine Frau mit einem Kind auf dem Arm bemerkte, so trat er hinzu, liebkoste das Kind und schnipste ihm etwas mit den Fingern vor, damit es anfinge zu lachen. So verfuhr er viele Jahre lang bis zu seinem Tod; es kam so weit, daß er in ganz Rußland und in ganz Sibirien bekannt war, das heißt bei allen Verbrechern. Jemand, der in Sibirien gewesen ist, hat mir erzählt, er sei selbst Zeuge gewesen, wie die verstocktesten Verbrecher sich des Generals erinnerten; und dabei konnte der General, wenn er einen Trupp besuchte, jedem einzelnen Verschickten selten mehr als zwanzig Kopeken geben. Allerdings gedachten sie seiner nicht eigentlich mit warmer, tiefer Empfindung. Ein oder der andere dieser Unglücklichen, der vielleicht zwölf Menschen ermordet und ein halbes Dutzend Kinder lediglich zu seinem Vergnügen abgeschlachtet hatte (es heißt ja, daß es solche Menschen gibt), seufzte plötzlich aus heiler Haut und vielleicht nur einmal im Laufe seiner zwanzigjährigen Strafzeit auf und sagte: »Was mag jetzt der alte General machen? Ob er wohl noch lebt?« Dabei lächelte er vielleicht; das war alles. Aber woher wissen Sie, was für ein Samenkorn in die Seele dieses Verbrechers von diesem alten General gestreut war, den derselbe in den zwanzig Jahren nicht vergessen hatte? Woher wissen Sie, Bachmutow, welche Bedeutung diese Einverleibung einer Persönlichkeit in die andere für die Schicksale der einverleibten Persönlichkeit haben wird ...? Hierbei kommt ja das ganze Leben mit seiner zahllosen Menge uns unbekannter Verzweigungen in Betracht. Der beste Schachspieler, auch der scharfsinnigste, kann nur einige Züge vorausberechnen; von einem französischen Spieler, der zehn Züge vorausberechnen konnte, wurde in den Zeitungen wie von einem Weltwunder berichtet. Wieviele Züge aber und wieviel uns Unbekanntes gibt es in einem Menschenleben? Indem Sie Ihr Samenkorn, Ihr Almosen, Ihre gute Tat in irgendeiner Form ausstreuen, geben Sie einen Teil Ihrer Persönlichkeit weg und nehmen einen Teil einer andern in sich auf; Sie verleiben sich wechselseitig einer dem andern ein; es bedarf dann nur noch einiger Aufmerksamkeit, und Sie werden sich durch eine schöne Erkenntnis und durch ganz ungeahnte Entdeckungen belohnt sehen. Sie werden schließlich mit Sicherheit Ihre Tätigkeit wie eine Wissenschaft betrachten; diese Wissenschaft wird Ihr ganzes Leben in sich schließen und kann Ihr ganzes Leben ausfüllen. Auf der andern Seite werden all Ihre Gedanken und alle von Ihnen ausgestreuten Samenkörner, wenn Sie sie auch vielleicht längst vergessen haben, sich verkörpern und wachsen; wer sie von Ihnen empfangen hat, wird sie an einen andern weitergeben. Und wie können Sie wissen, welchen Anteil Sie dadurch an der künftigen Gestaltung der Schicksale der Menschheit haben werden? Wenn die theoretische Erkenntnis und ein ganzes dieser Arbeit gewidmetes Leben Sie schließlich dahin bringen, daß Sie imstande sind, ein gewaltiges Samenkorn auszustreuen, der Welt einen gewaltigen Gedanken als Erbe zu hinterlassen, dann ...‹ Und so weiter; ich redete damals noch viel über diesen Gegenstand.

›Und wenn man dabei daran denken muß, daß gerade Ihnen ein solches Leben nicht vergönnt ist!‹ rief Bachmutow im Ton eines erregten Vorwurfs, der sich gegen irgend jemand richtete.

In diesem Augenblick standen wir auf der Brücke, mit den Ellbogen auf das Geländer gestützt, und blickten auf die Newa hinunter. ›Wissen Sie, was mir eben durch den Kopf gegangen ist?‹ sagte ich, indem ich mich noch weiter über das Geländer bog.

›Doch nicht, sich in das Wasser zu stürzen?‹ rief Bachmutow beinah in Entsetzen. Vielleicht glaubte er, diesen Gedanken auf meinem Gesicht gelesen zu haben.

›Nein, vorläufig nur eine Erwägung, nämlich diese: ich habe jetzt noch zwei bis drei Monate zu leben, vielleicht vier; wenn ich aber zum Beispiel nur noch zwei Monate übrig hätte und große Lust bekäme, ein gutes Werk zu tun, das eine Menge Arbeit, Lauferei und Mühe erforderte, in der Art wie die Angelegenheit unseres Arztes, so müßte ich in solchem Fall aus Mangel an noch verfügbarer Zeit von dem betreffenden Werk Abstand nehmen und mir ein kleineres, meinen Mitteln entsprechendes Werk suchen (wenn es mich nun einmal so nach guten Werken gelüstet). Geben Sie zu, daß das ein amüsanter Gedanke ist!‹

Der arme Bachmutow war um mich sehr beunruhigt; er begleitete mich ganz bis zu mir nach Hause und war so zartfühlend, daß er sich gar nicht auf Tröstungsversuche einließ und fast immer schwieg. Als er von mir Abschied nahm, drückte er mir warm die Hand und bat mich um die Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen. Ich antwortete ihm, wenn er als ›Tröster‹ zu mir kommen wolle (und auch sein Schweigen würde diesen selben Sinn haben; ich machte ihm das klar), so werde er mich ja dadurch jedesmal erst recht an den Tod erinnern. Er zuckte die Schultern, gab mir aber recht; wir schieden recht höflich voneinander, was ich gar nicht erwartet hatte.

Aber an diesem Abend und in dieser Nacht wurde das erste Samenkorn meiner ›letzten Überzeugung‹ gesät. Eifrig erfaßte ich diesen neuen Gedanken; eifrig durchdachte ich ihn in allen Einzelheiten und Möglichkeiten (ich schlief die ganze Nacht nicht), und je mehr ich mich in ihn vertiefte, je mehr ich ihn in meine Seele aufnahm, um so größer wurde meine Angst. Sie wuchs schließlich zu furchtbarer Größe heran und wich auch an den folgenden Tagen nicht von mir. Manchmal, wenn ich an diese beständige Angst dachte, überlief es mich eiskalt infolge einer neuen Angst: aus dieser Angst konnte ich ja schließen, daß meine ›letzte Überzeugung‹ in mir sehr fest Wurzel gefaßt hatte und mich jedenfalls zur Ausführung drängen werde. Aber zur Ausführung fehlte es mir an Entschlossenheit. Nach drei Wochen war dies alles zum Ende gelangt, und die Entschlossenheit hatte sich eingestellt, aber infolge eines sehr merkwürdigen Umstandes.

Ich verzeichne hier in meiner Erklärung all diese Zeitangaben. Mir kann das natürlich gleichgültig sein; aber jetzt (und vielleicht erst in diesem Augenblick) hege ich den Wunsch, es möchten diejenigen, die über meine Handlung ein Urteil fällen werden, klar erkennen, aus welcher Kette logischer Schlüsse meine ›letzte Überzeugung‹ hervorging. Ich habe im obigen soeben die Bemerkung hergeschrieben, daß die endgültige Entschlossenheit, an der es mir zur Ausführung meiner ›letzten Überzeugung‹ gemangelt hatte, bei mir anscheinend gar nicht aus einem logischen Schluß hervorging, sondern aus einem sonderbaren äußeren Anstoß, aus einem sonderbaren, mit dem Gang der Sache selbst vielleicht gar nicht in Zusammenhang stehenden Umstand. Vor zehn Tagen kam Rogoschin zu mir, und zwar in einer ihn betreffenden Angelegenheit, auf die hier näher einzugehen ich für überflüssig halte. Ich hatte Rogoschin früher nie gesehen, aber sehr viel von ihm gehört. Ich gab ihm alle nötigen Auskünfte, und er ging bald wieder weg; und da er nur um dieser Auskünfte willen gekommen war, so hätte unser Verkehr damit beendet sein können. Aber er hatte in hohem Grade mein Interesse erregt, und ich befand mich diesen ganzen Tag über im Bann sonderbarer Gedanken, so daß ich beschloß, am andern Tag zu ihm zu gehen und seinen Besuch zu erwidern. Rogoschin war über mein Kommen offenbar nicht erfreut und deutete sogar ›zart‹ an, wir hätten eigentlich keinen Anlaß, unsere Bekanntschaft fortzusetzen; aber trotzdem verbrachte ich eine sehr interessante Stunde, und wahrscheinlich auch er. Es war zwischen uns ein solcher Gegensatz, daß er uns beiden notwendigerweise auffallen mußte, namentlich mir: ich war ein Mensch, der schon die ihm noch übrigen Lebenstage zählte, er aber überließ sich dem vollen, unmittelbaren Lebensgenuß, dem Genuß des gegenwärtigen Augenblicks ohne alle Sorge um die ›letzten‹ Ergebnisse, um zeitliche Daten oder um irgend etwas, was nicht mit dem Gegenstand seiner ... seiner ... nun meinetwegen seiner Verrücktheit zusammenhing; möge mir Herr Rogoschin diesen Ausdruck verzeihen, meinetwegen als einem schlechten Stilisten, der seine Gedanken nicht recht auszudrücken versteht. Trotz all seiner Unliebenswürdigkeit schien es mir, daß er ein Mensch von gutem Verstand sei und vieles begreifen könne, obgleich er für das, was ihn nicht unmittelbar angeht, wenig Interesse hat. Ich machte ihm keine Andeutungen über meine ›letzte Überzeugung‹; aber ich hatte aus einem nicht recht verständlichen Grund den Eindruck, daß er sie erriet, indem er mir zuhörte. Er schwieg meist; er ist sehr schweigsam. Beim Fortgehen deutete ich ihm an, daß trotz aller zwischen uns bestehenden Verschiedenheit und trotz aller Gegensätzlichkeit doch les extrêmités se touchent (ich erklärte es ihm auf russisch), so daß vielleicht auch er selbst von meiner ›letzten Überzeu gung‹ gar nicht so weit entfernt sei, wie es scheine. Hierauf antwortete er mir mit einer sehr mürrischen, sauren Grimasse, stand auf, suchte mir meine Mütze, tat so, als ob ich von selbst hätte weggehen wollen, und führte mich unter dem Anschein, mir höflich das Geleit zu geben, ganz einfach aus seinem finsteren Haus hinaus. Sein Haus überraschte mich; es hat Ähnlichkeit mit einem Kirchhof; ihm aber scheint es zu gefallen, was übrigens begreiflich ist: ein so volles, unmittelbares Leben, wie er es führt, ist an sich schon zu voll, als daß es einer besonderen Umgebung bedürfte.

Dieser Besuch bei Rogoschin hatte mich sehr ermüdet. Außerdem hatte ich mich schon vom Morgen an nicht wohl gefühlt; gegen Abend wurde ich sehr schwach und legte mich zu Bett; zeitweilig verspürte ich eine starke Hitze und redete in manchen Augenblicken sogar irre. Kolja blieb bis nach zehn Uhr bei mir. Ich erinnere mich jedoch an alles, worüber wir miteinander sprachen. Aber wenn mir für einige Minuten die Lider zufielen, stand mir sofort Iwan Fomitsch vor Augen, der in den Besitz mehrerer Millionen Rubel gelangt war. Er wußte gar nicht, wo er damit bleiben sollte, zerbrach sich darüber den Kopf, zitterte vor Angst, das Geld könnte ihm gestohlen werden, und beschloß endlich, es in der Erde zu vergraben. Ich riet ihm nun, statt einen so großen Haufen Gold nutzlos in die Erde zu legen, möchte er aus der ganzen Masse einen kleinen Sarg für das erfrorene Kind gießen lassen und zu diesem Zweck das Kind wieder ausgraben. Diesen meinen Spott nahm Surikow mit Tränen der Dankbarkeit auf und schritt sogleich zur Ausführung des Planes. Angeekelt spuckte ich aus und ging von ihm weg. Als ich wieder ganz zur Besinnung gekommen war, sagte mir Kolja, ich hätte gar nicht geschlafen und die ganze Zeit über mit ihm von Surikow gesprochen. Zeitweilig befand ich mich in außerordentlicher Angst und Verwirrung, so daß Kolja in großer Unruhe fortging. Als ich selbst aufstand, um hinter ihm die Tür zuzuschließen, fiel mir plötzlich ein Gemälde ein, das ich vorher bei Rogoschin in einem der düstersten Säle seines Hauses über der Tür gesehen hatte. Er selbst hatte es mir im Vorbeigehen gezeigt, und ich hatte ungefähr fünf Minuten lang davorgestanden. In künstlerischer Hinsicht war an ihm nichts Hervorragendes; aber es hatte in mir eine eigentümliche Unruhe hervorgerufen.

Auf diesem Bild ist der soeben vom Kreuz abgenommene Christus dargestellt. Ich glaube, die Maler pflegen Christus sowohl am Kreuz als auch nach der Abnahme von demselben immer noch mit außerordentlich schönem Gesicht darzustellen; diese Schönheit suchen sie ihm sogar bei den furchtbarsten Leiden zu bewahren. Auf Rogoschins Bild aber kann von Schönheit nicht die Rede sein; dies ist in jeder Hinsicht der Leichnam eines Menschen, der schon vor der Kreuzigung, während er das Kreuz auf seinen Schultern trug und unter ihm zusammensank, grenzenlose Qualen erlitten hat, Verwundungen, Martern, Schläge von seiten der Wache und des Volkes, und dann schließlich die sechsstündige Kreuzesqual (solange dauerte sie nach meiner Berechnung mindestens). Das ist allerdings wirklich das Gesicht eines soeben vom Kreuz abgenommenen Menschen; das heißt, es bewahrt noch sehr viel Lebenswärme, es ist an ihm noch nichts erstarrt, so daß auf dem Gesicht des Toten noch immer ein Ausdruck des Schmerzes liegt, wie wenn er ihn noch jetzt empfände (dies hat der Künstler sehr gut erfaßt); aber dafür ist das Gesicht auch ohne jede Schonung dargestellt, durchaus naturgetreu; so mußte in Wahrheit der Leichnam eines Menschen, wer dieser auch sein mochte, nach solchen Qualen aussehen. Ich weiß, daß die christliche Kirche schon in den ersten Jahrhunderten als Dogma festgestellt hat, daß Christus nicht figürlich, sondern tatsächlich gelitten habe, und daß folglich sein Körper am Kreuz dem Naturgesetz voll und ganz unterworfen gewesen sei. Auf dem Bild ist dieses Gesicht furchtbar von Stockhieben zerschlagen, verschwollen, von schrecklichen, blutunterlaufenen, blauen Flecken bedeckt; die Augen stehen weit offen; die Pupillen schielen; die großen, offen sichtbaren Augäpfel haben einen toten, gläsernen Glanz. Aber es ist seltsam: betrachtet man diesen Leichnam eines gepeinigten Menschen, so drängt sich einem eine eigenartige, interessante Frage auf: wenn alle seine Jünger, die seine wichtigsten Apostel werden sollten, und die Weiber, die ihm nachgefolgt waren und an seinem Kreuz gestanden hatten, und alle, die an ihn glaubten und ihn für den Sohn Gottes hielten, wenn diese alle einen genau solchen Leichnam sahen (und er mußte unbedingt genau so aussehen): wie konnten sie dann trotzdem glauben, daß dieser Märtyrer auferstehen werde? Hier kommt einem unwillkürlich der Gedanke: wenn der Tod so furchtbar und die Naturgesetze so stark sind, wie kann man sie dann überwinden? Wie kann man sie überwinden, wenn selbst derjenige sie jetzt nicht besiegte, der zu seinen Lebzeiten der Natur überlegen war, derjenige, dem sie gehorchte, derjenige, der da rief: ›Talitha kumi!‹, und das Mägdelein stand auf, oder: ›Lazarus, komm heraus!‹, und der Tote kam heraus? Wenn man dieses Gemälde anschaut, so erscheint die Natur als eine riesige, unerbittliche, stumme Bestie oder, um es richtiger, weit richtiger, wiewohl etwas sonderbar auszudrücken, als eine riesige Maschine neuester Konstruktion, die ohne Sinn und Verstand dieses herrliche, unschätzbare Wesen ergriff, zermalmte und verschlang, dieses Wesen, das allein so viel wert war wie die ganze Natur und all ihre Gesetze und der ganze Erdball, der vielleicht einzig und allein zu dem Zweck geschaffen wurde, damit dieses Wesen auf ihm erschiene! Gerade diese Vorstellung von einer dunklen, brutalen, sinnlosen Macht, der alles gehorcht, wird durch dieses Bild zum Ausdruck gebracht und teilt sich dem Beschauer unwillkürlich mit. Diese Menschen, die den Toten umgaben, und von denen hier keiner auf dem Gemälde dargestellt ist, mußten an diesem Abend, der mit einem Schlag all ihre Hoffnungen und beinah ihren Glauben vernichtete, die entsetzlichste Angst und Bestürzung empfinden. Sie mußten in der schrecklichsten Furcht auseinandergehen, obgleich ein jeder von ihnen eine gewaltige Idee in sich trug, die ihnen nie wieder entrissen werden konnte. Und wenn der Herr und Meister selbst am Tag vor der Hinrichtung sein eigenes Bild hätte sehen können, hätte er dann wohl so, wie es jetzt wirklich geschehen ist, sich kreuzigen lassen und den Tod erlitten? Auch diese Frage steigt einem bei Betrachtung dieses Gemäldes unwillkürlich auf.

Alles dies schwebte auch mir ganze anderthalb Stunden lang, nachdem Kolja weggegangen war, bruchstückweise vor, vielleicht tatsächlich im Fieberwahn, manchmal aber auch in klarer Gestalt. Kann einem denn das in klarer Gestalt vorschweben, was überhaupt keine Gestalt hat? Aber es schien mir zeit weilig, als sähe ich diese grenzenlose Macht, dieses taube, dunkle, stumme Wesen in einer seltsamen, unglaublichen Form vor mir. Ich erinnere mich, daß es mir vorkam, als leite mich jemand, der eine Kerze hielt, an der Hand und zeige mir eine riesige, widerliche Tarantel und versichere mir, das sei eben jenes dunkle, taube, allmächtige Wesen, und lache über meine Empörung. In meinem Zimmer wird vor dem Heiligenbild immer für die Nacht das Lämpchen angezündet, das zwar nur ein schwaches, trübes Licht gibt, indes kann man doch alles erkennen und dicht bei ihm sogar lesen. Ich glaube, es war schon Mitternacht vorüber; ich war völlig wach und lag mit offenen Augen da; plötzlich wurde die Tür meines Zimmers geöffnet, und Rogoschin trat herein.

Er trat herein, machte die Tür wieder zu, sah mich schweigend an und ging leise in die Ecke zu dem Stuhl, der dicht unter dem Heiligenlämpchen steht. Ich war sehr erstaunt und blickte erwartungsvoll hin; Rogoschin stützte sich mit dem Ellbogen auf ein Tischchen und begann, mich schweigend anzuschauen. So vergingen zwei bis drei Minuten, und ich erinnere mich, daß sein Stillschweigen mich sehr verletzte und ärgerte. Warum wollte er denn nicht reden? Daß er so spät kam, schien mir allerdings sonderbar; aber ich erinnere mich, daß ich gerade darüber eigentlich nicht erstaunt war. Im Gegenteil: ich hatte ihm zwar am Morgen meinen Gedanken nicht deutlich ausgesprochen; aber ich wußte, daß er ihn verstanden hatte; und dieser Gedanke war von der Art, daß Rogoschin aus Anlaß desselben allerdings herkommen konnte, um nochmals darüber zu reden, selbst zu so später Stunde. Ich meinte auch, daß er deswegen gekommen sei. Wir hatten uns am Vormittag in einigermaßen feindseliger Stimmung getrennt, und ich erinnere mich sogar, daß er mich ein paarmal sehr spöttisch angesehen hatte. Und nun las ich in seinem Blick diesen selben Spott, und der war eben das, was mich beleidigte. Daran, daß dies wirklich Rogoschin selbst war und nicht eine Erscheinung, ein Fieberwahn, daran zweifelte ich anfangs nicht im geringsten. Ein solcher Gedanke kam mir überhaupt gar nicht in den Kopf.

Unterdessen saß er noch immer und schaute mich mit demselben Lächeln an. Ich drehte mich zornig im Bett herum, stützte mich ebenfalls mit dem Ellbogen auf das Kopfkissen und beschloß absichtlich, auch meinerseits zu schweigen, und wenn wir noch so lange so dasitzen sollten. Aus irgendeinem Grund wollte ich durchaus, daß er zuerst anfangen sollte zu reden. Ich glaube, so vergingen etwa zwanzig Minuten. Plötzlich kam mir der Gedanke: wie, wenn das nicht Rogoschin ist, sondern eine Erscheinung?

Weder in meiner Krankheit noch sonst je in der vorhergehenden Zeit hatte ich eine Erscheinung gesehen; aber ich hatte immer, schon seit meiner Knabenzeit, gemeint, und das meinte ich auch jetzt, das heißt noch vor kurzem, wenn ich auch nur ein einziges Mal eine Erscheinung sähe, so würde ich auf der Stelle sterben; und zwar meinte ich das, obwohl ich an keine Erscheinungen glaube. Aber als mir der Gedanke kam, daß dies nicht Rogoschin, sondern nur eine Erscheinung sei, so erschrak ich, wie ich mich erinnere, gar nicht darüber. Noch mehr: ich wurde darüber sogar zornig. Sonderbar war auch das, daß die Beantwortung der Frage, ob das eine Erscheinung sei oder Rogoschin selbst, mich eigentlich gar nicht so beschäftigte und beunruhigte, wie das in der Natur der Sache zu liegen schien; ich glaube, daß ich damals an etwas ganz anderes dachte. Es interessierte mich zum Beispiel weit mehr, warum Rogoschin, der vorhin in Schlafrock und Pantoffeln gewesen war, jetzt einen Frack, eine weiße Weste und eine weiße Krawatte trug. Es tauchte in meinem Kopf auch der Gedanke auf: wenn das eine Erscheinung war und ich mich nicht vor ihr fürchtete, warum sollte ich dann nicht aufstehen und zu ihr hingehen und mich selbst vergewissern? Vielleicht wagte ich es übrigens auch nicht und fürchtete mich doch. Aber sowie ich auf den Gedanken gekommen war, daß ich mich fürchtete, war es mir, als ob man mir mit einem Stück Eis über den ganzen Körper führe; ich fühlte eine Kälte im Rücken, und die Knie zitterten mir. Gerade in diesem Augenblick ließ Rogoschin, wie wenn er erraten hätte, daß ich mich fürchtete, den Arm, mit dem er sich aufgestützt hatte, sinken, richtete sich gerade und öffnete den Mund, wie wenn er loslachen wollte; dabei sah er mich starr an. Mich ergriff eine solche Wut, daß ich mich wirklich auf ihn stürzen wollte; aber da ich mir fest vorgenommen hatte, daß ich nicht zuerst anfangen wollte zu reden, so blieb ich im Bett, um so mehr, da ich immer noch nicht im klaren darüber war, ob es Rogoschin selbst sei oder nicht.

Ich erinnere mich nicht genau, wie lange das dauerte; auch habe ich keine sichere Erinnerung daran, ob ich manchmal auf einige Minuten das Bewußtsein verlor oder nicht. Endlich jedoch stand Rogoschin auf, musterte mich ebenso langsam und aufmerksam wie vorher, als er hereinkam, lächelte aber nicht mehr und ging leise, beinah auf den Zehen, zur Tür, öffnete sie und ging hinaus. Ich stand nicht vom Bett auf; ich erinnere mich nicht, wie lange ich noch mit offenen Augen dalag und nachdachte; Gott weiß, worüber ich nachdachte; ebensowenig erinnere ich mich, wie mir das Bewußtsein schwand und ich einschlief. Am andern Morgen erwachte ich, als nach neun Uhr an meine Tür geklopft wurde. Ich hatte ein für allemal die Anordnung getroffen, wenn ich nicht selbst bis neun Uhr die Tür öffnete und nach Tee riefe, so solle Matrona bei mir anklopfen. Als ich ihr die Tür aufmachte, kam mir sofort der Gedanke: wie hat er nur hereinkommen können, da doch die Tür verschlossen war? Ich erkundigte mich und überzeugte mich, daß es für den wirklichen Rogoschin unmöglich gewesen war, hereinzukommen, da all unsere Türen zur Nacht zugeschlossen werden.

Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
0+
Objętość:
5250 lk
ISBN:
9783754189153
Kustija:
Õiguste omanik:
Bookwire
Allalaadimise formaat:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip