Luther, Rosenzweig und die Schrift

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Luther, Rosenzweig und die Schrift
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LUTHER, ROSENZWEIG UND DIE SCHRIFT

Ein DEUTSCH-JÜDISCHER DIALOG

Essays

Herausgegeben von Micha Brumlik

Mit einem Geleitwort von Margot Käßmann

CEP Europäische Verlagsanstalt

Wie viele seiner Freunde und Verwandten spielte Franz Rosenzweig – 1886 in Kassel als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie geboren – lange mit dem Gedanken, zum protestantischen Christentum überzutreten, um sich dann 1913 doch dafür zu entscheiden, Jude zu bleiben. Mit seinem 1926, drei Jahre vor seinem Tod, verfassten Aufsatz „Die Schrift und Luther“ steht er beispielhaft für eine Kultur, die das deutsche Judentum dem Protestantismus zu schulden meinte.

Es war kein geringerer als Gershom Scholem, der mit Blick auf diese Beziehung die von Martin Buber und Franz Rosenzweig vorgelegte Bibelübersetzung ein „Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung“ nannte.

Der vorliegende Band mit Aufsätzen namhafter Autorinnen und Autoren beleuchtet diese „Beziehung“ aus unterschiedlichen, einander jeweils ergänzenden Perspektiven.

Herausgeber des Buches ist Micha Brumlik, dem 2016 die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen wurde und der zurzeit die Rosenzweig-Professur in Kassel innehat.

© ebook-Ausgabe dieses Bandes 2017 CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg Erstausgabe des Essays von Franz Rosenzweig »Die Schrift und Luther«: Lambert Schneider/ Berlin, 1926

Cover: Susanne Schmidt, Leipzig

Satz und ePub-Erstellung: Datagrafix GmbH, Berlin

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa«, 1945

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.

ISBN 978-3-86393-544-3

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Geleitwort von Margot Käßmann

Vorwort von Micha Brumlik

Franz Rosenzweig Die Schrift und Luther

Walter Homolka Martin Luther als Symbol geistiger Freiheit? Der Reformator und seine Rezeption im Judentum

Micha Brumlik Dialog zwischen Übersetzern: Franz Rosenzweigs Aufsatz „Die Schrift und Luther“

Irmela von der Lühe Franz Rosenzweig: „Die Schrift und Luther“. Grenzgänge zwischen Philologie und Religion

Klaus Wengst „Ehrfurcht vor dem Wort“, das nicht Besitz wird. Warum „die Schrift“ anders gelesen werden sollte, als Luther sie gelesen hat

Elisa Klapheck Luther als Targum. Rosenzweig, Luther und die rabbinische Übersetzungskunst

Gesine Palmer „Wenn erst einmal die Regel gesichert ist…“ – Rosenzweigs Luther-Rezeption jenseits von „Buchvergötzung“ und „Wortverwaltung“

Christoph Kasten Mit Luther gegen Luther. Franz Rosenzweig, Siegfried Kracauer und die Bibel auf Deutsch

Christian Wiese Franz Rosenzweigs und Martin Bubers Kritik des protestantischen Neo-Marcionismus im Kontext der Zeit

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes

Margot Käßmann
Geleitwort

„Meister der Verdeutschung der Bibel“, so wird Franz Rosenzweig auf einer Gedenktafel an seinem ehemaligem Wohnhaus in Frankfurt (Main) bezeichnet. Die Ehrung bezieht sich auf die Übersetzung der hebräischen Bibel ins Deutsche. Als Franz Rosenzweig in den 1920er Jahren gemeinsam mit Martin Buber an der „Verdeutschung der Schrift“ arbeitete, war er bereits schwer erkrankt und konnte aufgrund einer Lähmung nicht mehr sprechen. Die Schrift aber brachte er mit seiner Übersetzung, die Martin Buber nach Rosenzweigs Tod fertig stellte, neu zum Klingen. Dass ihre Stimme nicht verstummt oder aber vor lauter Vertrautheit überhört wird, war Rosenzweig wichtig: „Die Stimme dieses Buches darf sich in keinem Raum einschließen lassen, nicht in den geheiligten Innenraum einer Kirche, nicht in das Sprachheiligtum eines Volkes“, betonte er einmal. Und: „Wenn sie irgendwo vertraut, gewohnt, Besitz geworden ist, dann muss sie immer wieder aufs Neue als fremder, unvertrauter Laut von draußen die zufriedene Gesättigtheit des vermeintlichen Besitzers aufstören.“ Das war vor 500 Jahren auch ein Anliegen der Reformation: Die Bibel allen Menschen zugänglich zu machen. Unabdingbare Voraussetzung dafür war die Übersetzung. Martin Luther war nicht der erste, der sie ins Deutsche übertrug. Doch er hat die sprachlich eindrücklichste und prägendste Übersetzung geschaffen, die bis heute Menschen auf der ganzen Welt fasziniert.

1522 erschien das Neue Testament, 1534 die gesamte Bibel in deutscher Sprache.

Mit seiner Übersetzung wollte Martin Luther möglichst vielen Menschen die Lektüre der Heiligen Schrift ermöglichen, die für ihn die wesentliche Grundlage seines Glaubens darstellte. Mit sprachlichem Feingefühl und Wortschöpfungskraft übertrug er die alten Texte in ein Deutsch, das „die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, der gemeine Mann auf dem Markt“ verstehen konnten. Das kam einer Revolution der Bibelrezeption gleich, denn dadurch wurde jeder Einzelne in die Lage versetzt, einen eigenen Zugang zu Gottes Wort zu finden.

Die Bibel in der Sprache des Volkes wurde zu einem wesentlichen Impuls der Reformation. In vielen Ländern machten sich Übersetzer ans Werk, damit die Geschichte Gottes mit den Menschen in ihrer jeweiligen Landessprache lesen und sich eine eigene Meinung bilden konnten.

Die Übersetzung Franz Rosenzweigs und Martin Bubers ist wortmächtig in einer anderen Art und fasziniert mich ebenfalls. „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz“ (1 Mose 1f.) – was für ein beeindruckender Einstieg in das erste Buch der Schrift. Oder aber Habakuk 2,4, ein Satz, den Paulus in seinem Brief an die Römer (1,17) zitierte und der Martin Luther einst zu seiner reformatorischen Erkenntnis führte: „Der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben“, übersetzte Luther. In der Buber-Rosenzweig-Übersetzung heißt es kraftvoll und poetisch: „… dieweil der Bewährte leben wird durch sein Vertrauen“. Nur zwei von unzähligen faszinierenden Beispielen. Quasi als Vorarbeit dazu lässt sich Franz Rosenzweigs Aufsatz „Die Schrift und Luther“ lesen, in der er sich tiefgründige Gedanken über das Übersetzen macht und Luthers Übersetzungsarbeit kritisch würdigt.

Micha Brumlik ist zu verdanken, dass diese Überlegungen Franz Rosenzweigs wieder ins Interesse der Öffentlichkeit rücken. Die klugen Beiträge im vorliegenden Buch werden die Diskussion im 500sten Gedenkjahr der Reformation und den christlich-jüdischen Dialog befruchten. Dass sich Micha Brumlik dem Thema widmet, verspricht einen originellen und kreativen Zugang. Brumlik ist ein Querdenker mit Sinn für die Wurzeln, das gefällt mir. Wir brauchen Querdenker in einer Zeit, die zu Anpassung und Mainstream neigt, in der es so viel einfacher ist, stromlinienförmig zu sein als anzuecken. Mir imponiert, dass er es sich nicht leicht gemacht hat, gerade auch in den Fragen der Religion. In gewisser Weise ist er ein Seismograf für die Suche nach jüdischer Identität in Deutschland nach der Shoah. Und dabei war – und ist! – er streitbar. Als lutherische Theologin teile ich diese Leidenschaft für das Ringen um Position, die kritische Auseinandersetzung mit Religion, den Streit um die Wahrheit. Es gibt eine kreative Kraft der Differenz, die Menschen aufschreckt und anregt, neu zu denken.

Der zweite Punkt, der mir imponiert, ist eine Leistung, für die Christinnen und Christen in Deutschland dankbar sein können. Micha Brumlik hat jüdische Theologie und Praxis für uns zugänglich gemacht. Er war ein Brückenbauer zu den jüdischen Gemeinden und für die jüdischen Gemeinden, ohne je selbst in ihnen besonders aktiv zu sein, stets eher Ideengeber als Institutionenmensch. Der Philosoph Brumlik war und ist einer der wichtigsten Meinungsführer jüdischer Intellektueller im Nachkriegsdeutschland sozusagen zwischen Michael Wolffsohn und Henryk M. Broder.

Wenn Christinnen und Christen in Deutschland gelernt haben, mit großem Respekt die jüdische Glaubenstradition zu sehen und das eigene Versagen gegenüber dem Judentum zu begreifen, ja die Scham zu ertragen, dass wir Jüdinnen und Juden schutzlos dem Terror und Morden der Nationalsozialisten auslieferten, dann haben wir das auch Micha Brumlik zu verdanken. Es hat im Nachkriegsdeutschland noch lange gedauert, bis die Erkenntnis der eigenen Schuld zu einem unbefangenen Verhältnis von Christen und Juden führte – und der Prozess dauert noch immer an. Luthers verheerende Hetzschriften gegen die Juden sind endlich aufgearbeitet, die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich von ihnen offiziell distanziert.

 

Ja, Luther war Antijudaist, wohl gar Antisemit. Genau das aber sind die Lutheraner mit Blick auf 2017 nun endlich in der Lage zu thematisieren. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat sich 2015 klar von Luthers „Judenschriften“ distanziert. Das Jubiläumsjahr wird eben nicht als Heldengedenkfest geplant, sondern als eines, das sich wertschätzend, aber auch kritisch mit dem Reformator Luther und der Reformation als Bewegung insgesamt auseinandersetzt. Und eines, das fragt, wo Reform und Reformation heute angesagt sind. Die gemeinsame Rückbesinnung auf die Bibel dürfte dafür wie vor 500 Jahren eine gute Grundlage sein.

Margot Käßmann, Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017

Micha Brumlik
Vorwort

Die jüdischen Wege ins deutsche Bürgertum waren – wie die Historikerin Simone Lässig gezeigt hat – nicht zuletzt durch die Aneignung kulturellen Kapitals gekennzeichnet: die Übernahme eines bestimmten Habitus, den Erwerb kultureller Kenntnisse sowie die Aneignung institutioneller, etwa akademischer Titel. Kulturell gesehen, war das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich protestantisch geprägt: die an den Universitäten gelehrte Philosophie stand in der Schuld von Kant, Fichte, Schelling und Hegel, das Musikleben im Zeichen der Klassik von Bach und Beethoven, der Protestantismus selbst stand allemal und immer wieder im Banne Martin Luthers, seiner stets politischen Theologie und – nicht zuletzt – seiner Bibelübersetzung.

Franz Rosenzweig, 1886 in Kassel als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie geboren, spielte lange mit dem Gedanken, ebenso wie viele seiner Freunde und Verwandten zum protestantischen Christentum überzutreten, um sich dann 1913 doch dafür zu entscheiden, Jude zu bleiben. Sein 1926, drei Jahre vor seinem Tod verfasster Aufsatz „Die Schrift und Luther“ ist eines der deutlichsten, wenn nicht das deutlichste Zeugnis jener Kultur, die das deutsche Judentum wähnte, dem Protestantismus zu schulden.

Das ist Grund genug, im fünfhundertsten Jahr von Luthers Bekanntgabe seiner Thesen jener beispielhaften Aneignung protestantischer Kultur durch einen deutschen Juden zu gedenken. Der vorliegende Band beleuchtet dies aus unterschiedlichsten, einander allemal ergänzenden Perspektiven.

Den Anfang macht Walter Homolkas luzide Übersicht der jüdischen Rezeption Luthers vom 19. Jahrhundert bis in die ersten Jahre des Dritten Reiches. Dem folgt mein eigener Versuch, in Rosenzweigs Text sein Oszillieren zwischen jüdischem Universalismus und nie gekündigtem deutschen Nationalismus zu verdeutlichen. Der allemal auch philosophisch bedeutsamen Problematik der Kunst des Übersetzens gelten die Beiträge von Irmela von der Lühe und Elisa Klapheck. Während Irmela von der Lühe am Text Rosenzweigs die grundsätzliche Spannung zwischen Philologie und Religion untersucht, betrachtet Elisa Klapheck als jüdische Theologin beide, Rosenzweig und Luther vor der Tradition der rabbinischen Übersetzungkunst, des „Targums“. Demgegenüber geht Klaus Wengst aus der Perspektive des evangelischen Theologen dem Problem nach, ob und wie Luther mit Rosenzweig auch gegen dessen Antijudaismus gelesen werden könnte. Gesine Palmer, die sich schon früher kritisch mit Rosenzweigs negativer Haltung zum Islam auseinandergesetzt hat, erwägt in ihrem Beitrag, ob aus Rosenzweigs Theorie der Übersetzung, also der „Vermählung zweier Sprachgeister“, Anhaltspunkte für eine neue, deutsche Übersetzung des Korans zu gewinnen wären. Christoph Kastens Beitrag erinnert an ein zu Unrecht vergessenes Kapitel deutsch-jüdischer Intellektualgeschichte. Indem sich Kasten der Kritik von Siegfried Kracauer – eines Mitstreiters und Freundes von Adorno – an Bubers und Rosenzweigs Bibelübersetzung widmet, wird deutlich, wie und warum etwa Adorno in seinem „Jargon der Eigentlicheit“ den in den 1950er Jahren so hochgeschätzten Martin Buber in Grund und Boden kritisieren konnte. Beiden, den nicht nur von Kracauer, sondern auch von protestantischen Theologen kritisierten Autoren, Buber und Rosenzweig gilt der abschließende Beitrag Christian Wieses, der mit Leo Baeck auf die bleibende Bedeutung der Hebräischen Bibel für das Christentum und damit auf die theologische und auch politische Bedeutung von beider Bibelübersetzung hinweist.

Es war kein geringerer als Gershom Scholem, der im Jahr 1961 Bubers und Rosenzweigs Übersetzung als „Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung“, nämlich von Juden und Deutschen würdigte. Franz Rosenzweigs Versuch über Luthers Bibelübersetzung ging diesem Grauen voraus – ob aus ihr nach dem Holocaust mehr als nur Resignation folgt, wollen wir in diesem vorliegenden Band erkunden.

Berlin, im Januar 2017

Franz Rosenzweig
Die Schrift und Luther
I

Übersetzen heißt zwei Herren dienen. Also kann es niemand. Also ist es wie alles, was theoretisch besehen niemand kann, praktisch jedermanns Aufgabe. Jeder muß übersetzen und jeder tuts. Wer spricht, übersetzt aus seiner Meinung in das von ihm erwartete Verständnis des Andern, und zwar nicht eines unvorhandenen allgemeinen Anderen, sondern dieses ganz bestimmten, den er vor sich sieht und dem die Augen, jenachdem, aufgehen oder zufallen. Wer hört, übersetzt Worte, die an sein Ohr schallen, in seinen Verstand, also konkret geredet: in die Sprache seines Mundes. Jeder hat seine eigene Sprache. Oder vielmehr: jeder hätte seine eigene Sprache, wenn es ein monologisches Sprechen (wie es die Logiker, diese Möchtegern-Monologiker, für sich beanspruchen) in Wahrheit gäbe und nicht alles Sprechen schon dialogisches Sprechen wäre und also – Übersetzen.

Wenn alles Sprechen Übersetzen ist, dann kann jene theoretische Unmöglichkeit des Übersetzens, die wir erkennen und anerkennen, nur die Bedeutung für uns haben, die all solche theoretischen Unmöglichkeiten, die man aus der Storchenteichperspektive den vor dem Leben Stehenden erkennt, nachher im Leben selbst haben: sie wird uns in den „unmöglichen“ und notwendigen Kompromissen, deren Abfolge Leben heißt, den Mut der Bescheidenheit geben, die nicht das erkannte Unmögliche, sondern das aufgegebene Notwendige von sich selbst fordert. Also im Sprechen und Hören nicht, daß der andere meine Ohren oder meinen Mund hat, wodurch freilich das Übersetzen unnötig würde, aber das Sprechen und Hören auch. Und im Sprechen und Hören zwischen den Völkern nicht, daß die Übersetzung – keine Übersetzung ist, sondern entweder das Original, womit dann das hörende Volk überflüssig würde, oder ein neues Original, womit dann das sprechende Volk abgetan wäre. Beides könnte nur ein verrückter Egoismus wollen, der in dem eigenen, persönlichen oder nationalen, Dasein sich zu befriedigen meinte und um sich her Wüste ersehnt. In der Welt, die nicht zur Wüste geschaffen wurde, sondern in Scheidungen und nach Arten, ist für solche Gesinnung kein Platz.

Schleiermacher, selber mit seinem Platon einer der großen Übersetzer, hat einmal die Übersetzungen witzig genug in solche geschieden, die den Schriftstiller möglichst in Ruhe lassen und den Leser ihm entgegen bewegen, und in solche, die den Leser möglichst in Ruhe lassen und den Schriftsteller ihm entgegen bewegen1. Wir wissen nun nach dem Vorhergesagten, daß diese blendende Antithese, insofern sie ernstlich Antithese hatte bleiben wollen, wirklich nur blendend war. Denn wenn sie mehr sein wollte als die antithetisch klärende Aufhellung einer vielfältig verflochtenen und vermischten und nie antithetisch geschiedenen Wirklichkeit, dann wäre ja das Ideal einer Plato-Übersetzung entweder eine Teubnersche Textausgabe oder Kants Kritik der reinen Vernunft. Aber vernünftig aufgefaßt, nämlich nicht als ein Entweder-Oder, sondern als ein Mittel zur Entmischung der gemischten Wirklichkeit, kann jenes Schleiermachersche Wort uns in unsre Untersuchung hineinleiten und eine Strecke lang begleiten. Es kann uns lehren, die Frage nach dem Mischungsverhältnis zu stellen; und wenn diese Frage, die wie alle quantitativen Fragen sehr wichtig, aber, wie ebenfalls alle quantitativen Fragen, nur eine Vorfrage ist, ihre Antwort gefunden hat, kann es uns an die eigentliche Frage heranführen: an welchen Punkten des Werks der Leser und an welchen Punkten das Original „bewegt“ wird. Die bloße Nennung der wirkenden Kräfte sagt hier wie stets noch gar nichts; die Feststellung ihres quantitativen Verhältnisses sagt hier wie stets zwar etwas, aber nur wenig; erst die Beschreibung der Punkte, wo die eine ansetzt und wo die andere, gibt ein Bild.

II

Von Luthers Äußerungen über seine Übersetzung sind grade die bekannt, die seinen Willen aussprechen, Deutsch, gemeinverständliches Deutsch, zu schreiben: „deutliche und jedermann verständliche Rede zu geben, mit unverfälschtem Sinn und Verstand“2. Es sind auch wirklich weitaus die überwiegenden. Und der große Schritt, den er über die deutsche vorluthersche Bibelübersetzung hinaustat, war hier schon den Zeitgenossen am eindrücklichsten. Dennoch war er sich auch der andern Seite seines Werks, der Bewegung des deutschen Lesers hin zu dem fremden Original, dem fremden Sprachgeist, voll bewußt. In der Sondervorrede des „Deutschen Psalters“, dieser instruktivsten all seiner Äußerungen zum Übersetzungsproblem, in der er sich und dem Leser an einer langen Reihe von Beispielen Rechenschaft gibt über seine Methode und über die tiefgreifendste und durchgängigste Umarbeitung, die er je an einem Teil seines Werks vollzogen hat, kommt er ganz, ausdrücklich auch hierauf zu sprechen und stellt als die von ihm entdeckte und befolgte „Regel“ auf, „zuweilen die Worte steif zu behalten, zuweilen allein den Sinn zu geben“.

Die Gründe nun oder vielmehr der Grund, aus dem Luther seinem deutschen Leser zuweilen zumutet, „der hebräischen Sprache Raum zu lassen“ und „solche Worte zu gewohnen“, wird ganz deutlich aus einer Stelle jener Psaltervorrede, die ich deshalb trotz ihrer Länge ungekürzt hersetze:

„Wiederum, haben wir zuweilen auch stracks den Worten nach gedolmetscht, ob wirs wohl hätten anders und deutlicher können geben, darum, daß an denselben Worten etwas gelegen ist. Als hier im 18. Vers3: Du bist in die Höhe gefahren und hast das Gefängnis gefangen. Hier wäre es wohl gut deutsch gewesen: Du hast die Gefangenen erlöset. Aber es ist zu schwach, und gibt nicht den feinen reichen Sinn, welcher in dem Hebräischen ist, da es sagt: Du hast das Gefängnis gefangen, welches nicht allein zu verstehen gibt, daß Christus die Gefangenen erledigt hat, sondern auch das Gefängnis also weggeführt und gefangen, daß es uns nimmermehr wiederum fangen kann noch soll, und ist so viel als eine ewige Erlösung.

Auf solche Weise hat S. Paulus Lust zu reden, wenn er spricht: ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben. Item, Christus hat die Sünde durch Sünde verdammt. Item, der Tod ist durch Christum getötet. Das sind die Gefängnisse, die Christus gefangen und weggetan hat, daß uns der Tod nicht mehr halten, die Sünde nicht mehr schuldigen, das Gesetz nicht mehr das Gewissen strafen kann, wie S. Paulus solche reiche, herrliche, tröstliche Lehre allenthalben treibt.

Darum müssen wir zu Ehren solcher Lehre, und zu Trost unsres Gewissens, solche Worte behalten, gewohnen, und also der hebräischen Sprache Raum lassen, wo sie es besser macht, denn unser Deutsch tun kann.“

Hier wird unvergleichlich klar, wie sich das Herrschgebiet der beiden Prinzipien, das der Bewegung des Texts zum Leser und das der Bewegung des Lesers zum Text, gegeneinander abgrenzt. Jenes ist an sich das vorherrschende, für Luther wie für jeden Übersetzer; denn schließlich geschieht alles Übersetzen in die Sprache des Lesers und nicht in die Sprache des Originals; daß Luther so viel von dieser, doch mehr selbstverständlichen, Seite seines Tuns spricht, hat seinen guten Grund darin, daß er sich als den ersten Könner dieser Kunst fühlen durfte; wenn die Übersetzung seiner Vorgänger von Latinismen wimmelte, so war das keine Wirkung jenes andern Prinzips, sondern bloße Stümperei. Das andre Prinzip ist für ihn, wie für jeden Übersetzer, die Ausnahme. Daß wir uns heut mehr dafür interessieren, liegt daran, daß, wenn erst einmal die Regel gesichert ist, die Ausnahme sowohl umstrittener als auch fragwürdiger und darum lehrreicher und interessanter ist als die Regel. Wo aber beginnt nun nach Luthers Ansicht die Notwendigkeit, im Deutschen „der hebräischen Sprache Raum zu lassen“? Wo das Gesagte ganz wichtig, ganz zu uns, zu „unserm Gewissen“ gesprochen ist, wo also die Schrift für ihn, den lebendigen Christen von heute, heute lebendig ansprechendes Gotteswort, lebendige Lehre, lebendiger Trost, ist. Er hatte in der „Analogie des Glaubens“ die nie versagende Wünschelrute, die ihm an all den Stellen, wo das Alte Testament „Christus trieb“, aufzuckte. Wo es so für ihn, den Christen, lebendiges Gotteswort war, da, und nur da, da aber unbedingt, mußte es wörtlich genommen werden und also auch in ,,steifer“ Wörtlichkeit übersetzt. Überall sonst, und das umfaßte für ihn beim Alten Testament den größten Teil des Textes, wo es nach der herrlichen Stelle der Vorrede auf das Alte Testament nur ein Bild und Exempel des Regiments und des Lebens ist, wie es ,,zugehet wenn es im Schwang gehet“, läßt der Übersetzer „die hebräischen Worte fahren und spricht frei den Sinn heraus aufs beste Deutsch, so er kann“4.

 

Luthers Glaube bestimmt also bis ins einzelne, wie die große Mittlerarbeit geschieht, wo also das Wort und wo hingegen der Hörer „in Ruhe gelassen wird“. Luthers Glaube und, da es einen isolierten Glauben nicht geben kann, sein Begriff eines abgrenzbaren, weil abgegrenzten, Glaubensinhalts. Einer Zeit also, der dieser Offenbarungsbegriff verlorengegangen ist und die, klarer oder verworrener, sich Offenbarung des ihr Glaubenswürdigen grade in der ganzen Breite dessen hofft, was Luther als bloßes Bild und Exempel des Lebens aus dem fest und sichtbar und für immer eingegrenzten Glaubenskern des Buchs herausverwiesen hatte, einer solchen Zeit müßte es also erlaubt sein, die Glaubensfrage des Übersetzens neu an das Buch zu stellen, so sicher wie es ihr geboten ist. Und diese Frage wäre in keinem der europäischen Sprachvölker eine Frage. In Deutschland ist sies, und eine von schwerstem Ernst. Denn zwar für Luther selbst war sein Werk stets im Fluß geblieben; noch am Ende seines Lebens hat er geklagt, daß es ihm nicht mehr gegönnt sein würde, die Übersetzung ganz neu umzuarbeiten, und hat von der Zukunft erhofft, daß sie „es mehr und besser machen“5 würde; aber für sein Volk hat sich das Werk von dem Glaubensleben seines Urhebers gelöst und ist zum Grundbuch nicht nur einer Kirche, was weniger bedeuten würde, sondern der nationalen Sprache selber geworden. So prallt hier der Mut jenes Erlaubt und der Ernst jenes Geboten an das verschlossene Tor eines Unmöglich.