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Franz Rosenzweig (1886–1929) war ein jüdischer Religionsphilosoph und Pädagoge. Durch sein entschiedenes Bekenntnis zum Judesein, durch seine Glaubensphilosophie und seine Werke, durch seine Gründung des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt am Main ist Franz Rosenzweig in mehrfacher Hinsicht zum Vorbild und Lehrer des Judentums in der Diaspora geworden. Sein großes glaubensphilosophisches Werk Der Stern der Erlösung erschien 1921. In der Zeit seiner schweren Lähmungserkrankung konnte er noch seine Übersetzungen der Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi vollenden und seit 1924 gemeinsam mit seinem engsten Freund Martin Buber (1878–1965) die »Verdeutschung der Schrift« (Die fünf Bücher der Weisung, 1925). Buber setzte nach Rosenzweigs Tod die Übersetzungsarbeit fort, bis 1961 die letzten Teile der hebräischen Bibel ins Deutsche übersetzt erscheinen konnten. Kurz vor seinem 43. Geburtstag ist Rosenzweig 1929 in Frankfurt am Main gestorben.

Gesine Palmer arbeitet seit 2007 als freie Autorin, Publizistin, Rednerin und Beraterin selbständig mit dem Büro für besondere Texte. 1996 Promotion zur Dr. phil. in historischer Theologie mit Ein Freispruch für Paulus. John Tolands Theorie des Judenchristentums. 1995–2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU Berlin am Institut Evangelische Theologie mit dem Fachgebiet Religionsgeschichte. 2003–2006 Projektleitung Religion und Normativität an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) Heidelberg. Zahlreiche Publikationen. Weitere Informationen sowie eine Publikationsliste: www.gesine-palmer.de

Franz Rosenzweig
Zweistromland

Kleinere Schriften zur Religion

und Philosophie

Mit einem

Nachwort von

Gesine Palmer


© E-Book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Neuausgabe © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Erstausgabe: © 2001 Philo Verlagsgesellschaft mbH Berlin / Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Coverabbildung: Micha Ullman, „Flooding“, 1999

Umschlaggestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

eISBN 978-3-86393-565-8

Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-102-5

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Zur jüdischen Erziehung

Zeit ists

Bildung und kein Ende

Die Bauleute

Vom Wesen des Judentums

Apologetisches Denken

Ein Rabbinerbuch

Über Sprache

Nachwort zu Jehuda Halevi

Neuhebräisch?

Altes und neues Denken

Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus

Ein Gedenkblatt

Hermann Cohens Nachlaßwerk

Hermann Cohens jüdische Schriften

Das neue Denken

Anhang

Quellen

Personenregister

Nachwort

Gesine Palmer

Zur – Vom – Über – Und

Zur jüdischen Erziehung

Zeit ists …

Psalm 119, 126

Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks

An Hermann Cohen

Hochverehrter Herr Geheimrat,

wenn ich mich mit den folgenden Gedanken und Meinungen schriftlich an Sie wende, so geschieht es, weil die Aussicht, sie Ihnen in näherer Zeit mündlich vorzutragen, gering und ungewiß ist. Zurückhalten mag ich sie nicht länger; das Leben ist kurz und der Augenblick kostbar. In Ihre Hand aber lege ich sie, als in die Hand eines Mannes, den der bislang noch weit überwiegende Teil der deutschen Judenheit, welcher sein Judentum irgendwie im Rahmen der deutschen Volks- und Staatsgemeinschaft auszuwirken gedenkt, als seinen geistigen Führer ehrt. Denn mag diese Ansicht des Judentums bejaht oder verneint werden – zur Erkenntnis dessen, was der Augenblick verlangt, ist sie die allein taugliche Voraussetzung. Nur auf dem „Boden der gegenwärtigen Zustände“ läßt sich machen, was die hier vorgelegten Gedanken eingestandenermaßen machen wollen und sollen: Politik.

Das Problem einer jüdischen Erziehung verengert sich auf dem Boden der, mindestens bisher, herrschenden deutschen Zustände zu dem Problem des jüdischen Religionsunterrichts. Dieses wiederum verengert sich bei der überwiegenden Stadtsässigkeit und der ungewöhnlichen Gesellschaftsschichtung der deutschen Judenheit wesentlich zur Frage nach dem jüdischen Religionsunterricht auf der höheren Schule, dem Gymnasium, Realgymnasium und der Ober-Realschule. In weiten und gerade den einflußreichsten Kreisen haben sich die Dinge so entwickelt, daß die beiden meist nur einige Jahre lang besuchten „Religionsstunden“ neben einigen Predigten zu den hohen Feiertagen die beinahe einzige Quelle für das „jüdische Wissen“ des künftigen Justiz-, Sanitäts-, Kommerzienrates bilden. Die Aufgabe, hier Abhilfe zu schaffen, ist längst erkannt und seit einiger Zeit ernstlich in Angriff genommen. Allerdings, wie mir scheint, nicht im vollen Gefühl ihrer Eigentümlichkeit und infolgedessen nicht in grundsätzlicher Klarheit und Einsicht.

Die Beschlüsse der Rabbinerversammlung, die im Sommer 1916 über diese Dinge verhandelte, legen bewußt oder unbewußt die Vorstellung zugrunde, als ob hier, abgesehen von den äußeren organisatorischen Mißständen, hauptsächlich nur die Schwierigkeit bestünde, die für den christlichen Religionsunterricht allerdings die eigentliche ist: die Schwierigkeit, eine Entwicklung des Gemüts durch, man mag sich stellen wie man will, immer letzthin lehrhafte Mittel, kurz gesagt durch Beeinflussung des Verstandes zu erreichen. In Wahrheit ist aber das Problem des jüdischen Religionsunterrichts ein ganz anderes. Es geht nicht um die Schaffung eines gefühlsmäßigen Mittelpunkts für den Kreis der Weltdinge, in den die übrigen Lehrfächer den Schüler einführen, sondern um nichts Geringeres, als um die Einführung in eine eigene, der übrigen Bildungswelt gegenüber wesentlich selbständige „jüdische Sphäre“. Diese Sphäre ist für die hier in Frage kommenden Teile der deutschen Judenheit, die den bewußt jüdischen Charakter des Hauses allermeist schon in einer der letzten drei Generationen preisgegeben haben, einzig noch gegeben in der Synagoge. Die Aufgabe des Religionsunterrichts kann hier also nur die sein, zwischen den Institutionen des öffentlichen Gottesdienstes und dem Einzelnen die von selber, d. h. „von Haus aus“, überhaupt nicht mehr vorhandene Fühlung herzustellen.

Die Aufgabe erscheint zunächst, dem hohen Begriff einer „religiösen Erziehung“ gegenüber, kleinlich und beschränkt. Wer aber eine Vorstellung davon hat, wie sehr unsere gottesdienstlichen Einrichtungen Filter und Sammelbecken zugleich bedeuten für alles, was sich in unserer dreitausendjährigen Geistesgeschichte im innersten jüdischen Sinn als fruchtbar und kräftig erwiesen hat, der wird wissen, daß in dem scheinbar eng gezogenen Kreis der Aufgabe alles Wünschbare beschlossen ist. Mag, um bei den literarischen Zeugnissen zu bleiben, mag das biblische Schrifttum des Altertums Quelle und Grund alles lebendigen Judentums sein, mögen wir im talmudischrabbinischen der späteren Zeit seine Enzyklopädie, in dem philosophischen seine feinste Sublimierung sehen, – Extrakt und Kompendium, Handbuch und Gedenktafel dieses ganzen geschichtlichen Judentums bleiben dennoch der Siddur und die Machsorim. Wem diese Bände kein versiegeltes Buch bedeuten, der hat das „Wesen des Judentums“ mehr als erfaßt, er besitzt es als ein Stück Leben in seinem Innern, er besitzt eine „jüdische Welt“.

Dies Wort wird uns weiter führen. Er kann eine jüdische Welt besitzen, aber ihn umfängt in jedem Fall eine andere, eine unjüdische. Am zweiten, an der Tatsache, ist nichts zu ändern, soll wenigstens nach dem Willen unserer Mehrheit nichts geändert werden; das erste, die Möglichkeit, soll nach dem Willen dieser selben Mehrheit wirklich, aufs neue wirklich werden. Aber eine Welt „besitzen“ bedeutet nicht: sie innerhalb einer anderen, die den Besitzer selbst umschließt, besitzen; so ist es für den Deutschen möglich, eine fremde, antike oder moderne Kultur zu besitzen, eben weil und insofern sie der Gesamtwelt, die ihn umschließt, gleichfalls angehört; deswegen wird er sie, ohne aus seiner eigenen Welt herauszutreten, sich aneignen können, etwa auch ohne ihre Sprache zu verstehen; denn er wird sie, geistig verstanden, immer nur in einer Übersetzung aufnehmen, nämlich eben übersetzt in die „Sprache“ seiner Welt; und alte wie neue Erfahrung zeigt, daß es durchaus nicht gerade die Sprachkenner im Wortverstande sind, die fremde Kulturen in diesem Sinne „besitzen“. Anders, ganz anders bei unserer Frage. Zwar gehört die Welt, die hier anzueignen ist, in gewissem sehr bedeutendem Sinn auch zu den Grundkräften der umgebenden Welt, aber gerade in diesem Sinne soll sie hier nicht angeeignet werden. Nicht als Vorstufe, nicht als Element jener anderen umschließenden Welt dürfen wir unsere ureigene jüdische Welt erfahren. Ein jeder andere darf und soll das, wir nicht. Uns ist das Judentum mehr als eine Kraft der Vergangenheit, eine Merkwürdigkeit der Gegenwart, uns ist es das Ziel aller Zukunft. Weil aber Zukunft, darum eine eigene Welt; unbeschadet und ungeachtet der Welt, die uns umgibt. Und weil eine eigene Welt, darum auch in der Seele des Einzelnen verwurzelt mit einer eigenen Sprache. Der Deutsche, auch der Deutsche im Juden, kann und wird die Bibel deutsch – luthersch, herdersch, mendelsohnsch – lesen; der Jude kann sie einzig hebräisch verstehen. Und mag hier noch ein Nebeneinander von Möglichkeit gelten, eben weil hier der gemeinsame Besitz der beiden liegt, – für die Sprache des jüdischen Gebets gilt es ganz zweifellos und eindeutig: sie ist unübersetzbar. So wird es hier nie sein Bewenden haben können mit der Vermittlung des literarischen Stoffs; das Schulzimmer wird immer nur der Vorraum sein, aus dem der Weg zur Teilnahme am Kult der Gemeinde führt. Das lebendige tätige Verständnis des Gottesdienstes ist der Faden, an den kristallgleich sich ansetzen kann, was dem Judentum zu seiner Fortdauer allezeit nottut: eine jüdische Welt.

 

Von solchen Voraussetzungen aus sei nun zunächst ein Bild entworfen, wie dieser Unterricht sich gestalten und gliedern möge. Nicht daß ich dächte, hier irgend Endgültiges zu geben; aber nur eine entschlossen einseitige, wenn auch bloß vorläufige, Wahl zwischen dem Mancherlei des Möglichen kann die Deutlichkeit gewährleisten, die zur Verständigung erforderlich ist. Das Bild gehe voran; alles was zu seiner Verwirklichung unter den heutigen Umständen gehört – und wir werden sehen, daß es nichts Geringes ist –, wird ihm folgen.

Wir legen zunächst weiter nichts zugrunde als das, was bisher schon ziemlich allgemein besteht: zwei Wochen –, also 80 Jahresstunden und eine neunjährige Schulzeit vom neunten bis achtzehnten Lebensjahr. Eine erste sehr wichtige Neuforderung rein äußerlicher Art, die einzige, die wir unter allen Umständen dem bestehenden öffentlichen Schulwesen gegenüber durchsetzen müssen, wird gleich genannt werden. Da weiter das deutsche Schulwesen schwerlich so bald eine allgemeine innere Umgestaltung erfahren wird, so setzen wir die jetzt bestehende höhere Schule voraus, in der, was hier vor allem in Betracht kommt, gleich im ersten Jahr eine Fremdsprache gelehrt wird. Wir nehmen ferner an, daß der Sextaner von der Vorschule her höchstens eine gewisse Kenntnis der „biblischen Geschichte“ mitbringt, so daß also unser Unterricht ziemlich voraussetzungslos beginnen muß. Das Rückgrat des Unterrichts auf Sexta und in den folgenden Jahren wird dann jene Ordnung sein, in der sich die Selbständigkeit der jüdischen Welt heut am sinnfälligsten ausdrückt: der jüdische Kalender, das eigene „Kirchenjahr“. Indem das Kind in die jüdische Woche und das jüdische Festjahr eingeführt wird, kann ihm hier anschließend eine Reihe der wichtigsten kultischen Gebräuche erklärt werden und wieder im unmittelbaren Anschluß an diese eine Darstellung der biblischen Geschichte in ganz frei aus Schrift und Agada geschöpften Einzelbildern folgen. Was die Pesachhagada in der Zeit ihrer Entstehung geleistet haben muß, das oder etwas Ähnliches hat hier der Lehrer im Zusammenhang der Behandlung des Sabbats und der Festtage zu geben. Vollständigkeit verschlägt dabei wenig, auf die Lebendigkeit allein kommt es an. Es ist unnötig und auch kaum möglich, im einzelnen Vorschriften zu geben. Ganz sachte und allmählich, noch möglichst ohne grammatische Erklärungen, rein nach der alten schlecht und rechten Weise des Wort-um-Wort-Übersetzens sind diesem Unterricht von Anfang an kleine hebräische Stücke beizugeben; es genügt, wenn der Schüler im ersten Halbjahr Teile vom Sch’ma, die Eingangs- und Schlußgruppe der Sch’mone esre, einzelne Segenssprüche insbesondere aus der Feier des Freitagabends, einiges aus den Stücken beim Aus- und Einheben, und, je nachdem es ein Sommer- oder Winterhalbjahr ist, kleine Hauptstücke zu den betreffenden Festen, sei es ein Stück Moaus Zur, sei es das Mah nischtanno, die Zehn Worte, die Akeda, das Owinu malkenu in dieser primitivsten Weise „übersetzt“ hat. Daß nicht gleich mit dem weit rationelleren grammatischen Verfahren begonnen wird, hat einen doppelten Grund. Einmal empfiehlt es sich, die natürlichen Schwierigkeiten der ersten Fremdsprache möglichst schon im allgemeinen Unterricht überwunden sein zu lassen und nicht den Religionsunterricht damit zu belasten. Ferner aber hat jene überlieferte Weise trotz ihrer Umständlichkeit und der geringen Dauerhaftigkeit ihrer Ergebnisse den einen gar nicht zu unterschätzenden Vorzug, daß das Kind hier in die heilige Sprache nicht als in ein totes grammatisches Lehrgebäude, sondern gewissermaßen wie in eine lebendige Sprache, durch den Gebrauch, eingeführt wird und daß dem grammatischen Unterricht schon ein gewisser Vorrat von Belegen zur Verfügung steht. Eben dies ist ja der Unterschied vom grammatischen Betrieb der eigenen und der fremden Sprache, daß in dieser der Schüler von der Regel zur Anwendung, in jener hingegen von der Anwendung zur Regel fortschreitet. So ist es unser Wunsch, daß der Schüler etwa beim Erlernen der Konjugation sich an den schon, wenn auch grammatisch unverstanden, seinem Gedächtnis einverleibten Sprachschatz erinnern kann, also etwa, um im Rahmen der oben gegebenen Beispiele zu bleiben, der Reihe nach an: „der ich dich herausgeführt habe“, „und du sollst lieben“, „der uns gegeben hat“, „wir haben gesündigt“, „und dienet fremden Göttern“, „da gingen sie beide zusammen“. Immerhin, etwa in der zweiten Hälfte des ersten Schuljahrs dürfte es ratsam sein, mit dem grammatischen Unterricht zu beginnen und bis zum Ende dieses ersten Jahres das Wichtigste von Hauptwort und Fürwort sowie das regelmäßige Zeitwort einzuüben. In der ersten Hälfte des zweiten Schuljahrs würde dann mit dem noch Fehlenden, vor allem mit dem unregelmäßigen Zeitwort, abgeschlossen werden. Was durch die vorangegangene kurze Epoche rein mechanischen Übersetzens an Zeit verloren ist, wird sich durch die Erleichterung des beispielgetragenen Grammatikunterrichts leicht wieder einbringen. Im ganzen darf man hier überhaupt keine übergroßen Schwierigkeiten sehen; vorausgesetzt nur, daß auf alles Beiwerk von Ausnahmen und Abweichungen verzichtet wird und man nur das nackte Gerüst der Regeln und Schemata systematisch darbietet; alles weitere tut die Übung. So wird es auch nicht als übermäßige Inanspruchnahme erscheinen, daß diese ganze systematische Grammatik hier auf einen Teil, sagen wir je eine Viertelstunde, von höchstens zweimal 40 Stunden zusammengedrängt wird; der Stoff läßt sich bei der eben vorgeschlagenen Beschränkung bequem auf 70 bis 80 solche „Zwerglektionen“ verteilen.

Das zweite Schuljahr findet so den Schüler schon mit einem gewissen Schatz hebräischer Kenntnisse, die es erlauben, in allmählich gesteigertem Tempo das erste Buch der Thora, natürlich in Auswahl, zu lesen. Daneben wird sich Zeit finden, alle wesentlichen Teile des Siddur, wenigstens die täglichen und sabbatlichen Gebete, zu lesen; Stücke, die besondere sprachliche oder sachliche Schwierigkeiten enthalten, wie einzelne Psalmen, die Sprüche der Väter u. a., bleiben fort. An diesen Stoff läßt sich alles, was man etwa sonst wünscht, anknüpfen. Eine gesonderte „biblische Geschichte“ wird sich ja ohne weiteres erübrigen, wenn dem Kind die ehrwürdigen Gestalten der Väter schon in ihrer eigenen Sprache entgegentreten; es werden ihm die großen Momente dieser Erzählung nicht in abgeblaßter Nachbildung, sondern in ihrer starken Echtheit sich einprägen, statt eines lahmen „Wo bist du?“ in der Paradieserzählung, eines „Hier bin ich“ in der Akedah die ewige Gedrungenheit des hebräischen Urlauts. Wie sinnlos, wie zweckwidrig ist es überhaupt, jüdischen Kindern die Kernsprüche ihres Glaubens in deutscher Übersetzung ins Leben mitgeben zu wollen. An der Sprache hängt der Sinn, und es ist wahrhaftig eine Unterschätzung der Innigkeit, mit der sich Christentum und deutsche Sprache seit Luther und länger schon vermählt haben, wenn man glaubt, jüdische Inhalte in deutscher Sprache ohne fremdgläubigen Beiklang mitteilen zu können. Am schlimmsten, wenn gar das Gedächtnis systematisch mit solchem Aufguß vollgefüllt wird; es ist wirklich nicht schwerer, einen Psalm im ursprünglichen Wortlaut einem frischen unbelasteten Kindergedächtnis einzuprägen als in dem meist noch dazu recht fragwürdigen „Deutsch“ der gegenwärtig zu diesem Zweck bei uns beliebten Übersetzungen.

Das Kalendarische wird bei der angegebenen Stoffverteilung in diesem zweiten Schuljahr zurücktreten; die Notwendigkeit eingehenderer Behandlung sowohl der Vätergeschichte wie des täglichen und wöchentlichen Gebetszyklus macht das notwendig. Vom dritten Jahr an aber tritt es beherrschend hervor. Der Unterricht folgt von jetzt ab nach Möglichkeit dem Wochenabschnitt. Der Elfjährige wird nach den beiden vorausgegangenen Jahren schon zu einigermaßen geläufiger Durchnahme der Thora imstande sein; auch jetzt ist selbstredend Vollständigkeit noch durchaus nicht am Platze; es wird sich nur um eine Auswahl handeln; wieweit es ratsam ist, diese Auswahl durch eine eigene Schülerausgabe des Textes dem Lehrer vorzuschreiben, könnte ich nicht sagen. An den Siddur schließen sich in diesem Jahr, den Festzeiten entsprechend, ausgewählte Stücke aus den Machsorim und natürlich die Pesachhagada. Wesentlich nun ist, daß von jetzt an, nachdem der Schüler genügend vorbereitet ist und überdies der Zeitpunkt der Barmizwah in Sicht kommt, ihm Gelegenheit gegeben wird, am sabbatlichen Gottesdienst teilzunehmen. Es bedarf dazu allerdings eines Entgegenkommens von seiten der Schule. Die höheren Schulen der Stadt oder, in sehr großen Städten, eines Stadtbezirks müssen eine gewiß nicht ganz leichte Stundenplanvereinigung vornehmen, durch welche eine der zwei oder drei Wochenstunden in christlicher Religion auf eine Stunde des Samstagvormittags gelegt wird, und zwar vom dritten Schuljahr aufwärts mindestens bis zum fünften, wenn möglich – es wird dies von der Anzahl der christlichen Religionslehrer abhängen, die an der Schule tätig sind – auch noch weiter. Dadurch wird für die jüdischen Schüler eine Stunde, also bei entgegenkommender Einteilung der Pausen leicht 5/4 Stunden, zum Besuch des Gottesdienstes frei, und nun muß die jüdische Gemeinde für zweierlei sorgen: einmal müssen, falls die Verhältnisse nicht schon von selbst so liegen, Gottesdienste in einer Räumlichkeit eingerichtet werden, die von sämtlichen Schulen des Ortsbezirks nicht weiter als 10 Minuten entfernt ist, und ferner müssen die in Betracht kommenden Gottesdienste so gelegt werden, daß in diese knappe Stunde, wie es durchaus möglich ist, sowohl Ausheben wie Einheben zu liegen kommt. Ist es angängig, daß dieser Gottesdienst der Hauptgottesdienst der Gemeinde ist – um so besser; geht das nicht, so wird ein kleiner Nebengottesdienst bei dem durchaus zu „demokratischer“ Schlichtheit neigenden Charakter unseres Kults auf die jungen Seelen kaum weniger Eindruck machen wie der große „offizielle“, und jedenfalls einen größeren als ein künstlich zurechtgemachter „Jugendgottesdienst“, der gerade das, worauf es ankommt, die Einführung in das Leben der Gemeinde, nicht leistet. Ein Zwang zum Besuch soll natürlich keinesfalls ausgeübt werden. Aber der Antrieb dazu soll vom Unterricht ausgehen und die Möglichkeit von der Schule gegeben werden. Es versteht sich übrigens bei dem geschilderten nahen Zusammenhang zwischen Unterricht und Synagoge ganz von selbst, daß die Aussprache des Hebräischen, die im Unterricht eingeübt wird, sich nach der Synagoge richten muß; nur dann kann jenes Gefühl des Heimischseins entstehen, aus dem das Bewußtsein des Besitzes einer eigenen jüdischen Welt entspringt.

 

Der kalendarische Zusammenhang wird nun im nächsten Schuljahr – Untertertia – auf einer neuen Stufe wieder aufgenommen. Lernte der Elfjährige bloß Thora, so der Zwölfjährige jetzt Thora mit Raschi; ich brauche nicht mehr zu sagen, daß auch hier wieder nur eine Auswahl gemeint ist. Der große volkstümliche Kommentator, der den aufgespeicherten Schatz des ersten Exiljahrtausends dem zweiten übermittelt hat, wird den Schüler unvermerkt in die geistige Welt des talmudischen und midraschischen Schrifttums hineinspinnen, die für die jüdische Eigenart, mehr als wir wissen und zugeben, selbst bis in unsere Gegenwart hinein bestimmend geworden ist. Es bleibt Sache des Lehrers, schon auf dieser Stufe hier und da mit Vorsicht und Ehrfurcht das Gespinst etwas zu zerteilen und dem Schüler Durchblicke zu öffnen auf die Kräfte des Judentums, die, großenteils erst nach Raschi erstarkt, diesem noch fremd waren. Die in diesem vierten Jahr vom Schüler erreichte Sprachsicherheit wird ihn befähigen, ziemlich bald von dem anfangs gebrauchten punktierten Text zum unpunktierten überzugehen. Kursorische Lektüre der wichtigsten Stücke aus den erzählenden Büchern von Josua bis Nehemia wird außerdem nebenher in diesem Schuljahr ihren Platz finden und so die biblische Geschichte abschließen. Es ist, um auch das noch hinzuzufügen, durchschnittlich an der Wende von diesem zum nächsten Schuljahr, daß der Schüler als Barmizwah in die Gemeinde tritt. Man wird zugeben, daß das bis hier bezeichnete Maß von Vorbereitung dem Akt, der in seiner feierlichen Einfachheit und seiner Unbeschwertheit von intellektuellen und moralischen Examensnöten wahrhaftig verdient erhalten zu werden, wieder die Bedeutung sichern wird, die ihm seit den letzten Jahrzehnten in den betreffenden Kreisen rapid verlorenging.

Die zwei Jahre, die nun folgen – Obertertia und Untersekunda – müssen unter den heutigen Umständen, wo mit der Einjährigenberechtigung, hier eine bei uns sehr bedeutende Gruppe, die künftigen Geschäftsleute, abzuschwenken pflegt, als eine Art Abschluß gestaltet werden. Im ersten dieser beiden Jahre wird die Anlehnung an den jährlichen Kreislauf der Sabbate gegeben durch den Zyklus der Haftaroth. Im Anschluß an diese, insbesondere an einige Prophetenabschnitte, wird sich hier leicht eine wenn auch nur primitive Erörterung unseres Standpunkts gegenüber dem Christentum geben. Auch die Sprüche der Väter wären auf dieser Stufe durchzunehmen; diese Kernworte jüdischer Ethik einerseits und, mit ausgesuchten Abschnitten aus der Mischnah und hie und da auch aus den Kodifikatoren, die klassischen Belege für eine Reihe der wichtigsten Gebräuche andrerseits werden so die Kenntnis des praktischen Judentums zu einem ersten Abschluß bringen. Das zweite dieser beiden Jahre – Untersekunda – wird in ähnlicher Weise die Kenntnis des geistigen Judentums abschließen. Vor allem die Psalmen, soweit sie noch nicht aus dem Siddur bekannt sind, und auch sonst, nach Ermessen des Lehrers, bisher noch nicht gelesene Stücke der Schrift haben hier den Ausgangspunkt zu bilden. Ferner gehört hierher ein gedrängter Überblick – mehr nicht – über die jüdische Geistesentwicklung im Zusammenhang der allgemeinen Schicksale des Volks. Und schließlich soll, wie mir scheint, der Schüler nicht entlassen werden, ohne daß er nicht auch einen eigenen Einblick getan hat in das eigentümlichste und in mancher Hinsicht bedeutsamste Erzeugnis dieses Geistes: den babylonischen Talmud. Ich bin mir der Kühnheit dieses letzten Verlangens wohl bewußt. Dennoch scheint es mir nicht zu umgehen. Es wird auf die Dauer ein mindestens ungesunder Zustand, daß unserer Gemeinschaft oder wenigstens ihren nach außen führenden Kreisen nahezu gänzlich jede lebendige Fühlung mit diesem Buch, dem sie äußerlich gesehen ihren Zusammenhalt und Bestand bis in die neueste Zeit dankt, verlorengegangen ist, soweit daß man vielleicht von der Mehrheit unserer jüdischen Gebildeten ohne Übertreibung behaupten kann, daß sie das Buch wissentlich nicht einmal von außen je gesehen haben. Andrerseits ist die Übermittlung einer solchen allgemeinen Kenntnis innerhalb des beschränkten Raums von rund 25 Unterrichtsstunden – wenn wir 40 auf Bibellektüre und 15 auf den Überblick der jüdischen Geschichte rechnen – nicht so schwierig, wie es zunächst scheint. Die bisher erreichte Sicherheit im Hebräischen erlaubt es, die sprachliche Eigenart des talmudischen Aramäisch, dem man ohnedies noch durch Lektüre der aramäischen Teile der Bibel zu Hilfe kommen kann, als „Abweichungen vom Hebräischen“ sehr kurz zu behandeln; es genügt dann, wenn einige möglichst zugleich leichte und charakteristische Proben aus verschiedenen Gebieten dieser klassischen „Jüdischen Enzyklopädie“ durchgegangen werden; genug, wenn der Schüler einen Begriff von dem Besonderen der talmudischen Lehrart und eine entfernte Vorstellung von dem Umfang der behandelten Gegenstände erhält. Der Talmud gehört, eben durch seine Fremdartigkeit gegenüber dem heutigen Denken und Wissen, zu den Dingen, bei denen der Sprung vom Nichtkennen zur oberflächlichen Bekanntschaft größer und bei guter Leitung ausblicksreicher ist als der von dieser oberflächlichen Bekanntschaft zu gründlicher Vertrautheit.

Was nach dem Scheideweg der Einjährigenberechtigung noch auf der Schule bleibt, darf als ein in gewisser Weise noch weiter gesiebtes Schülermaterial angesehen werden. Während aus jener abschwenkenden Gruppe vielfach die tätigen Erhalter des materiellen Daseins unserer Gemeinschaft hervorgehen, bleibt jetzt der Rest, der auf die Ansichten, auf die „öffentliche Meinung“, soweit man von einer solchen innerhalb der Gemeinde reden kann, zu wirken bestimmt ist. So wird sich der Unterricht der drei letzten Jahre eindeutiger als bis dahin auf ein Schülerpublikum von künftigen Akademikern einstellen. Im ersten – Obersekunda – mag die zuletzt gewonnene Ansicht des Talmuds noch etwas vertieft werden; zugleich läßt sich hier durch eine Heranziehung der im weiteren Sinn talmudischen Literatur, insbesondere der Midraschim, der im vorhergehenden Jahre verlorene Anschluß an das jüdische Jahr wiedergewinnen; die Kenntnis dieser ganz eigentümlichen, man möchte sagen, wissenschaftlichen Mythologie ist ja für das tiefere Verständnis des jüdischen Geistes geradezu Voraussetzung. Neben dieser gewissermaßen volkstümlichen Quelle der jüdischen Weltanschauung wird nun auf dieser Klassenstufe vor allem Raum zu schaffen sein für eine gründliche Übersicht über ihren klassischen Ausgangspunkt, die Prophetie. Zu den einzelnen Prophetenabschnitten, die schon der Obertertianer und Untersekundaner gelesen hat, kommt jetzt eine zusammenhängende Auswahl von Amos und Hosea bis zu Maleachi und Daniel; mindestens die Hälfte der Zeit dieses Jahres ist darauf zu verwenden; ich rechne, daß dann etwa ein Fünftel des ganzen Textes durchgelesen werden kann; bei guter Auswahl genug. An diesem Hauptstück unseres Schrifttums als an dem eigentlich kritischen Punkt und wahren religionsgeschichtlichen Scheideweg mag dann auch das schon früher gelegentlich erörterte Verhältnis zum Christentum gründlich dargestellt werden.

Nachdem so die geistigen Grundlagen weitschichtig gelegt sind, mag nun das nächste Jahr – Unterprima – eine Art anthologischen Überblicks über die ganze exilische Literatur bringen. Von Philo und Saadja über Gabirol und Ibn Esra, Juda ha-Levi und Maimonides, Gersonides und Albo weiter zu Caro und Isserles bis hin zu Mendelssohn und Zunz und je nach der Neigung des Lehrers auch noch weiter in unsere Zeit mag der Schüler geführt werden. Hier endlich liegt ein Stoff vor, der ihm großenteils, wenn auch nicht ausschließlich, in Übersetzung vorgelegt werden kann; denn der geheime Zauber des hebräischen Worts ist diesen Produktionen meist, und gerade vielfach den größten unter ihnen, nicht an der Wiege gesungen; so wird hier die Weiterübersetzung ins Deutsche wenig verschlagen. Es läßt sich sehr viel in so einem Jahr zusammendrängen; 80 Stunden sind eine lange Zeit, die Zeit einer zweisemestrigen dreistündigen Universitätsvorlesung; man darf sie ruhig voll rechnen; denn ein Lehrer, der bei Sechzehn- und Siebzehnjährigen und einem solchen Stoff noch glaubt „Pensen abfragen“ zu müssen, disqualifiziert sich selber.

Dem Überblick folgt die Vertiefung. Das letzte Schuljahr sei wesentlich der Philosophie gewidmet. Hier muß der persönlichen Liebe des Lehrers freie Bahn gelassen werden; es ist seine Sache, ob er hier ein Stück Kusari oder Ikkarim oder More oder Choboth halebaboth lesen will oder gar es wagen möchte, den Schülern einen Einblick in den Sohar oder in Lurja zu öffnen. Nicht auf den eindrucksvollen Reichtum des literargeschichtlichen Gesamtbildes, wie im vorhergehenden Jahre, kommt es hier an, sondern auf sachliche Vertiefung am einzelnen Punkt oder an einzelnen Punkten. Auch Hiob oder Koheleth mag mancher Lehrer hier lesen wollen; es sei ihm unbenommen. Die stärksten und tiefsten Eindrücke sind gerade recht für den künftigen Abiturienten; er soll das Judentum nicht bloß als eine ihm eigene Welt, sondern auch als eine geistige Macht erkennen und im Leben behüten.