Loe raamatut: «Die Vampirschwestern – Ruhig Blut, Frau Ete Petete»

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Gefühle am Gartenzaun


Die Straßenbahn Nummer 14 ruckelte gemächlich wie ein alter Bauer durch die Bindburger Innenstadt. Die hupenden Autos, klingelnden Radfahrer und eiligen Fußgänger interessierten sie nicht. Sie folgte beharrlich den Schienen Richtung Norden, nichts und niemand brachte sie vom Kurs ab.

Auch nicht die zwei Halbvampirmädchen, die an der Haltestelle Ringelnatzstraße eingestiegen waren, die sich direkt vor der Gotthold-Ephraim-Lessing-Schule befand.

„Weißt du, was das Schönste an der Schule ist?“, fragte Daka. Sie hielt sich mit einer Hand an einer Stange fest und schlenkerte im Rhythmus der Straßenbahnfahrt vor und zurück.

„Dass wir Helene und Ludo dort sehen?“, antwortete Silvania, ohne von ihrem Buch aufzusehen.

„Das Klingeln nach der letzten Stunde.“ Daka grinste.

Silvania seufzte. Obwohl ihre Schwester nur sieben Minuten jünger war als sie, kam es ihr manchmal wie sieben Jahre vor.

Silvania hielt sich das Buch lieber direkt vors Gesicht. Keine Sprechstunde.

Daka stopfte sich Kopfhörer in die Ohren. Verstanden.

In dem Punkt waren Silvania und Dakaria Tepes ganz normale Schwestern: Mal klebten sie wie Kaugummi aneinander, mal liefen sie auf verschiedenen Straßenseiten nach Hause. Weniger normal war, dass ihr Vater ein Vampir, ihre Mutter ein Mensch und sie somit Halbvampire waren. Genau wie Franz, ihr kleiner Bruder.

Franz ging seit ein paar Wochen in die Kinderkrippe. Elvira Tepes, die Mutter der drei Halbvampire, war Klobrillengestalterin und Besitzerin des kleinen, aber sehr erfolgreichen Geschäfts „Die Klobrille“. Mihai Tepes, der Vater, arbeitete im Nachtdienst im rechtsmedizinischen Institut. Tagsüber schlief er in seinem Sarg im Keller. Silvania und Daka gingen zur Schule und holten Franz danach immer von der Krippe ab. Diese lag auf der Strecke und nur eine Station vor dem Lindenweg, in dem sie wohnten.

„Daka! Wir müssen raus!“ Silvania zupfte ihre Schwester an der Lederjacke.

„Compotoi Chuman delizioso …!“, sang Daka den neusten Hit ihrer transsilvanischen Lieblingsband Krypton Krax laut mit. Sie wackelte im Rhythmus mit dem Kopf und hüpfte hinter ihrer Schwester aus der Straßenbahn.

Daka setzte die große Sonnenbrille auf. Silvania zog die breite Krempe ihres fliederfarbenen Basthuts tiefer ins Gesicht. Seit sie von Transsilvanien nach Deutschland gezogen waren, hatten sie sich an einiges gewöhnt: tagsüber zur Schule gehen, in der Schule sitzen und nicht abhängen und Mahlzeiten zu sich nehmen, die sich nicht mehr bewegten. Aber das Sonnenlicht machte ihnen noch immer zu schaffen, trotz Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 200.

Die Kinderkrippe „Villa Milchzahn“ lag nur wenige Schritte von der Straßenbahnhaltestelle entfernt. Daka verstaute die Kopfhörer in ihrer Jackentasche. „Mal sehen, was Franz heute wieder angestellt hat“, sagte sie.

„Hm“, machte Silvania.

„Vielleicht ist er mit Stechmücken um die Wette geflogen.“

„Hm. Hm.“

„Oder er hat sich kopfüber an die Dachrinne gehängt.“

„Hm.“

„Gut möglich, dass er alle Erzieher gebissen, ausgesaugt und in Vampire verwandelt hat.“

„Hm. Hm. Hm.“

Daka blieb stehen. „SILVANIA! Hörst du mir überhaupt zu?“

„Ja. Äh. Was?“ Silvania blinzelte, sah kurz zu Daka und dann wieder zum Haus gegenüber der Villa Milchzahn.

„Ach, daher weht der Knoblauch. Ich rede von Franz, und du denkst nur an Jacob.“

„Jacob? Welcher Jacob?“ Silvania lachte wie eine Plastikpuppe und bekam rote Ränder um die Augen.

„Na, der Jacob, bei dem du mal Englisch-Nachhilfe gehabt hast. Und du hättest ihn beinahe gebissen, so lecker fandest du ihn. Schon vergessen?“

„Natürlich nicht! Leider.“ Die peinliche Aktion mit dem Biss wollte Silvania wirklich lieber vergessen. An alles andere dachte sie dafür nur allzu gerne. Vor allem an Jacobs winterhimmelgraue Augen. Seit Franz in die Kinderkrippe gegenüber von Jacobs Haus ging, sah Silvania ihn wieder öfter. Zuerst hatten sie sich nur zugenickt, dann zugelächelt und seit ein paar Tagen unterhielten sie sich immer kurz.

„Ich verstehe das alles nicht“, sagte Daka. „Erst warst du in Jacob verliebt, dann in Bogdan und letzte Woche hast du dich doch erst frisch in diesen Fönfrisur-Schauspieler verknallt. Geht das jetzt alles immer wieder von vorne los?“

Silvania legte ihrer Schwester die Hand auf die Schulter und sah sie ernst an. „Dakaria Tepes, du bist einfach sieben Minuten zu jung für die Liebe.“ Dann drehte sie sich um, winkte Jacob zu, der gerade aus der Haustür kam, und ging zu dessen Gartenzaun.

Daka lehnte sich mit verschränkten Armen an die Mauer der Villa Milchzahn und schob sich eine geröstete Schweineborste zwischen die Lippen.

Jacob war zu Silvania an den Gartenzaun getreten. Er war genauso schlaksig, blass und dünn wie die Birke im Vorgarten. Daka hätte sich nicht gewundert, wenn ihm die Jeanshose von den Hüften gerutscht wäre. Dann hätte sie wenigstens etwas zu lachen gehabt.

Silvania legte den Kopf auf die rechte Seite, als wollte sie, dass Jacob sie in den Hals biss. Langsam wanderte ihr Kopf auf die linke Seite, dabei blinzelte Silvania. So ging es ein paar Mal hin und her, während sich die beiden über irgendwas unterhielten. Dann kicherte Silvania, warf die Haare über die Schulter, senkte den Blick, sah Jacob von unten an und grinste dabei völlig belämmert, fand Daka.

„Liebe – die Pest des Herzens“, murmelte Daka. „Wird Zeit, dass sie dagegen einen Impfstoff finden. Und hoffentlich verliebe ich mich nicht vorher.“

Ein Taxi hielt vor Jacobs Haus. Ein Mann mit Anzug und Lederkoffer stieg aus. Er begrüßte Jacob mit einer Umarmung und einem Klaps auf die Schulter, dann wandte er sich an Silvania.

Daka hörte nicht, was er sagte, sah aber sogar von der anderen Straßenseite aus, dass Silvania knallrote Ränder um die Augen bekam, als hätte sie eine Brille mit einem roten Rahmen auf. Silvania nickte dreimal hintereinander und machte einen Knicks.

Daka zerbiss ihre Schweineborste.

„Na, ausgeknickst?“, fragte Daka ihre Schwester, nachdem diese sich von Jacob verabschiedet und die Straßenseite gewechselt hatte.

Silvania starrte in die Luft, als würden dort dicke Engel mit Herzchen herumfliegen, wippte auf den Zehenspitzen und hauchte: „Er hat mich eingeladen. Zum Dinner!“

„Hauptsache, Jacob wird beim Dinner nicht deine Nachspeise.“

„Nicht Jacob. Sein Vater.“

„Klar, aus dem lässt sich mehr raussaugen.“

„Gumox. Sein Vater – das war der ungeheuer gut aussehende Mann im tadellosen Anzug eben – hat mich zum Abendessen eingeladen. Im Kreise der Familie.“

„Na herzlichen Glückwunsch.“

Silvania lächelte, als hätte sie Amors Pfeil quer im Mund. Plötzlich riss sie die Augen vor Panik auf. „Aber was soll ich nur anziehen?!“

Daka schüttelte den Kopf, spuckte die Schweineborste aus und ging auf den Eingang der Villa Milchzahn zu.

Rakete in der Krippe


Haltet ihn!“

„Ich hab ihn! Mist, doch nicht.“

„Wieso ist der so schnell?“

„Franz! Ich bin die Leiterin dieser pädagogischen Einrichtung und befehle dir, sofort zu mir zu kommen!“

„Aufpassen! Er will wieder beißen!!!“

„Bringt die anderen Kinder in Sicherheit!“

„Holt den Maulkorb vom Hund des Hausmeisters!“

„Wie ist er denn jetzt auf den Schrank gekommen?“

„Nicht nachdenken, HANDELN!“

Silvania und Daka standen in der Tür des Gruppenraums der „Sonnenkinder“. Es sah aus, als wäre eine Silvesterrakete im Zickzackflug durch den Raum geschossen und hätte eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Die Silvesterrakete hieß Franz Tepes.

Silvania räusperte sich. „Wir wollen Franz abholen.“

„Gott sei Dank!“, rief die Krippenleiterin.

Im gleichen Moment flog Franz Daka in die Arme, gab ihr einen feuchten Kuss und rief: „Dagga!“

Eine Erzieherin sank völlig erschöpft in die Kuschelecke, die andere bekreuzigte sich.

Die Krippenleiterin schob die Vampirschwestern aus dem Zimmer der Sonnenkinder-Gruppe und schloss die Tür hinter sich. Sie zupfte sich ein Puzzleteil aus der Dauerwelle. Den roten Strohhalm, der wie eine Antenne am Hinterkopf aus ihren Locken ragte, bemerkte sie nicht. Dann sammelte sie ein paar Buntpapierfetzen und Knetklümpchen von ihrer Bluse. „Wir müssen reden. So geht das nicht weiter. Eigentlich wollte ich warten, bis ich eure Eltern sehe. Aber wir sind am Ende unserer Kräfte. Keinen Tag länger halten wir das durch.“

Silvania, Daka und Franz machten süße, unschuldige Gesichter.

Die Krippenleiterin blinzelte. „Ich weiß, es ist hart. Und noch nie in meiner siebenundzwanzig-jährigen Laufbahn als Erzieherin musste ich zu solch einer Maßnahme greifen. Allerdings habe ich auch noch nie ein solches Kind erlebt.“ Sie sah zu Franz, der sie angrinste.

Silvania setzte ihrem Bruder sein Mützchen auf, von dem Fledermausflügel abstanden. „Stimmt schon, Franz ist sehr lebhaft, aber –“

„LEBHAFT?“ Die Krippenleiterin schnappte nach Luft. „Franz ist nicht lebhaft, er ist lebensmüde. Darüber, dass er sich beim Schlafen in seinem Bettchen kopfüber ans Gitter hängt, wundern wir uns schon nicht mehr. Auch nicht darüber, dass er jeden Käfer, der nicht bei drei davongekrabbelt ist, in den Mund steckt. Oder dass er sich beim Mittagessen die Makkaroni auf die Zähne steckt und die Tomatensoße damit aufsaugt.“

„Die Idee hätte von mir sein können.“ Daka kniff Franz liebevoll ins rechte Bäckchen.

„Wenn Sie sich nicht mehr wundern, ist also alles in Ordnung“, sagte Silvania.

„Moment! Wir wundern uns nicht mehr, wir sind verzweifelt.“ Die Krippenleiterin holte so tief Luft, dass der Strohhalm an ihrem Hinterkopf wackelte. „Franz hat mehrmals versucht, andere Kinder, die Erzieher und heute sogar den Postboten zu beißen. Wir schieben ihm meist schnell einen Holzbauklotz in den Mund, anders wissen wir uns nicht zu helfen. Alle Holzklötze haben schon seine Zahnabdrücke.“

„Unser Bruder macht eben Eindruck“, sagte Daka.

„Gestern, beim Morgenkreis, wir saßen gerade gemütlich beisammen und spielten ‚Alle Vögel fliegen hoch‘, ist Franz losgeflogen.“ Die Krippenleiterin lauschte ihren Worten nach. Dann schüttelte sie den Kopf. „Also, irgendwie hat er … Höhe gewonnen … vielleicht ist er gehüpft.“

Silvania und Daka sahen ihren Bruder streng an.

„Die radikale Regel Nummer eins“, flüsterte Silvania und wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger. Franz versuchte, danach zu greifen.

Elvira Tepes hatte nach dem Umzug aus Transsilvanien sieben radikale Regeln für das Leben in Deutschland aufgestellt. Die erste lautete: kein Fliegen bei Tageslicht. Silvania hielt sich daran (fast immer), Daka hielt sich daran (ab und zu) und Franz hielt sich daran (fast nie).

„Wie auch immer euer Bruder es geschafft hat, beim Morgenkreis abzuheben – unsere geschätzte Kollegin Blaurock ist jedenfalls in Ohnmacht gefallen und befindet sich seitdem in psychologischer Behandlung.“

„Skyzati“, murmelte Daka. Das war Vampwanisch und hieß „Entschuldigung“.

„Das tut uns leid, und Franz sicher auch“, sagte Silvania.

Franz grinste.

Die Krippenleiterin seufzte. „Ich kann es mir nicht leisten, dass die Kolleginnen hier reihenweise umkippen und ausfallen. Wo gutes Personal doch so schwer zu finden ist. Und bis Franz einmal richtig zubeißt, ist es nur eine Frage der Zeit. Dann stehen bei mir die Eltern der anderen Kinder auf der Matte und es hagelt Beschwerden.“

„Vielleicht braucht Franz eine intensivere Betreuung“, sagte Silvania.

„Genau das wollte ich auch vorschlagen“, entgegnete die Krippenleiterin.

„Sie haben also einen Erzieher, der nur für Franz da sein kann?“, fragte Silvania.

Die Krippenleiterin schüttelte traurig den Kopf. „Ich fürchte, wir können Franz in der Villa Milchzahn nicht seinem … seinem Naturell entsprechend betreuen. Bitte richtet euren Eltern aus, dass Franz nicht mehr in die Krippe kommen kann. Ich habe sehr mit mir gerungen. Aber so liebenswert und entzückend euer kleiner Bruder auch ist, er ist eine Gefahr für die anderen Kinder und für das Personal. Und für meine Nerven.“

Daka starrte die Krippenleiterin an. „Sie schmeißen ihn raus.“

„Ähm. Wir legen euren Eltern nahe, für Franz eine geeignetere Betreuung zu finden.“

Wortlos suchten die Vampirschwestern Franz’ Sachen zusammen und verließen dann mit ihrem wie immer bestens gelaunten Bruder die Villa Milchzahn.

Die Krippenleiterin sah ihnen nach, kratzte sich am Kopf und der Strohhalm knickte ab.

Beste Zeugnisse


Hier sehen Sie mein polizeiliches Führungszeugnis. Selbstverständlich ohne jegliche Einträge oder Vorstrafen.“ Frau Meister holte das in Klarsichthülle verpackte Dokument aus einem dicken, schwarzen Ordner und legte es auf den Tisch.

Elvira und Mihai, die an der anderen Tischseite saßen, beugten sich vor und warfen einen Blick darauf.

„Und hier“, fuhr Frau Meister fort und hievte einen grauen Ordner auf den Tisch, „sind die Beurteilungen und Empfehlungsschreiben meiner bisherigen Arbeitgeber. Chronologisch geordnet und immer von beiden Arbeitgebern, in den meisten Fällen den Eltern, unterzeichnet.“

Frau Tepes blätterte durch den Ordner und nickte ab und zu.

Silvania und Daka lagen auf der Couch. Franz kroch unter dem Tisch herum und versuchte, seinen Papa in den Fuß zu beißen.

„Fumpfs“, schrie Herr Tepes, als Franz seinen großen Zeh erwischt hatte.

„Stimmt etwas nicht?“ Frau Meister blickte ernst auf ihre Unterlagen. „Alle Dokumente zeugen von meiner tadellosen Arbeit. Ich bin seit nunmehr zwanzig Jahren als Kindermädchen tätig. Ich habe Zusatzausbildungen als Familientherapeutin, als Stillberaterin, als Kinder-Yoga-Lehrerin, als Konzentrationstrainerin und habe mich auf dem Gebiet der alternativen Vorschulpädagogik weitergebildet.“ Frau Meister holte einen dritten, grünen Ordner hervor. „Hier finden Sie alle Zertifikate, alphabetisch nach Kursbezeichnung geordnet.“

„Oh … äh, interessant.“ Elvira Tepes warf einen Blick auf den Ordner.

„Sie können ruhig blättern und ich beantworte gerne Fragen zu den einzelnen Weiterbildungen. Lebenslanges Lernen ist für mich nicht nur eine Floskel“, sagte Frau Meister.

Da Franz in der Villa Milchzahn sozusagen Lokalverbot hatte – was, so fand Herr Tepes, bei dem Namen der Kinderkrippe kein Wunder war –, mussten sich die Eltern nach einem Babysitter oder einer Nanny umsehen. Und zwar schnell, oder rapedadi, wie man auf Vampwanisch sagt. So kam es, dass sie an diesem Tag gleich drei Babysitter zum Vorstellungsgespräch eingeladen hatten.

Frau Meister wollte gerade einen vierten Ordner aus ihrer Tasche hervorholen, als Elvira lächelnd mit den Händen abwehrte. „Ich denke, wir haben schon allerhand von Ihnen erfahren und einen recht guten Eindruck. Haben Sie denn Fragen zu Franz?“

Franz hatte jetzt einen Arm in Mihais Hosenbein gesteckt und spielte kleiner Blutegel, was bedeutete, dass er seinen Papa in die Waden kniff. Mihai zuckte und hüpfte auf dem Stuhl hin und her.

Frau Meister beobachtete Mihai einen Moment, ohne die Miene zu verziehen. Dann wandte sie sich an Elvira: „Wissen Sie, Kinder sind Kinder. Ob sie nun Franz heißen oder Chantal. Ich habe genug Erfahrung und meine bewährten Methoden, jedes Kind in den Griff zu bekommen. Entscheidend ist das pädagogische Konzept, nach dem ich streng vorgehen werde.“

„Ach. Und ich dachte immer, entscheidend sei das Kind.“ Elvira lächelte, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen.

„Wenn Sie keine Fragen zu meinen zahlreichen Weiterbildungen haben, würde ich jetzt gerne über die Arbeitszeiten, die Beiträge zur Steuer und Sozialversicherung und mein Gehalt reden.“

Frau Meister holte eine rote Mappe hervor, in der ein paar Vordrucke zum Ausfüllen lagen.

Franz fand es mittlerweile nicht mehr so spannend im Hosenbein seines Vaters. Er war auf seiner Expedition unter dem Tisch weitergekrochen und bei der Tasche von Frau Meister angelangt, die diese neben ihren Stuhl gestellt hatte.

Frau Meister war so sehr damit beschäftigt, Herrn und Frau Tepes die Formulare zu erklären, dass sie gar nicht mitbekam, wie es zu ihren Füßen erst klongte, dann raschelte und schließlich plätscherte.

„Boah, was riecht denn hier so übel?“, rief Daka von der Couch. Silvania verzog die Nase.

Auch Mihai bebten die Nasenflügel. „Dieser Gestank! Das kommt von Ihnen!“

„Wie bitte?“ Frau Meister sah Herrn Tepes entrüstet an. In dem Moment machte es „Ratsch“ zu ihren Füßen. Frau Meister blickte nach unten, wurde bleich, sprang auf und schrie: „Was hast du getan? Meine Zeugnisse! Mein Lebenslauf!“

Franz saß in einer dampfenden Pfütze. In der Pfütze schwammen ein Brillenetui, Papierschnipsel, Stifte und Taschentücher. Franz hatte ein Blatt Papier im Mund, kaute darauf herum und blinzelte Frau Meister unschuldig an.

Frau Meister riss Franz das Blatt aus dem Mund. „Das war mein Schulabschlusszeugnis!“

„Muss ein köstliches Zeugnis sein“, sagte Daka.

„Oh Gott, Franz, ist etwa deine Windel ausgelaufen?“ Frau Tepes war aufgestanden und nahm Franz auf den Arm.

„Nein. Mein Tee.“ Frau Meister hob eine tropfende Thermoskanne hoch. Jemand hatte versucht, den Verschluss aufzudrehen.

„Tee? Das riecht aber wie Piss–“, Herr Tepes räusperte sich, „wie Pistazieneis.“

Frau Meister sah ihn finster an. „Tee mit Knoblauch und Ingwer. Kurbelt den Stoffwechsel an.“

„Bei mir kurbelt der was ganz anderes an.“ Daka machte Würggeräusche.

Frau Meister schnappte erst nach Luft, dann schnappte sie sich ihre Tasche und stopfte alle Ordner hinein. „So etwas habe ich in meinem ganzen harten Berufsleben noch nicht erlebt.“

„So ist das mit dem lebenslangen Lernen“, sagte Frau Tepes.

„Vergessen Sie Ihre Formulare nicht“, sagte Mihai.

„Und Ihren Tee!“, rief Daka.

Frau Meister verließ mit tropfender Thermoskanne das Haus, ohne Franz oder auch nur ein anderes Mitglied der Familie Tepes eines Blickes zu würdigen. Diese Familie hatte ihre ausgezeichnete pädagogische Kompetenz ganz klar nicht verdient.

Tri Tra Trallala


Seid ihr alle da? Dann ruft mal laut HURRAAA!“

Silvania, Daka, Franz und Herr und Frau Tepes starrten die Kasperle-Handpuppe an, die den Kopf zur Tür hereinsteckte.

„Ich bin der Kasperl und wer bist du? Komm, lach wie ein Kakadu!“ Der Kasperl kicherte.

Silvania und Daka sahen sich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Mihai Tepes nahm seinen Sohn zur Sicherheit auf den Arm.

„Äh, Herr Langholm?“, fragte Frau Tepes.

Kasperl stieß die Tür auf und ein Mann mit langen grauen Locken und Nickelbrille hüpfte wie ein Rumpelstilzchen in die Wohnung. Er grinste, nickte Familie Tepes zu, hüpfte weiter ins Wohnzimmer und hockte sich dann hinter das Sofa. Kasperl tauchte auf der Sofalehne auf.

„Tri, tra, trallala, der Kasperl, der ist wieder da!“, sang Herr Langholm mit hoher Stimme.

Franz kletterte aufs Sofa und zog den Kasperl an der Nase.

„Welch kleiner Schlingel macht so ein Dingel, zieht an meinem Näschen, war es das Osterhäschen?“ Der Kasperl kicherte abermals.

Franz schnappte sich ein Kissen und feuerte es auf den Kasperl. Kasperl und Herr Langholm kippten hinter dem Sofa um.

„Mit Kissenschlacht, da geht es los, das macht Spaß, ist famos!“, keuchte Herr Langholm, nachdem er sich wieder aufgerichtet und seine Brille gerade gerückt hatte. „Kleiner Franz, magst du einen Tanz? Oder eine Geschichte von der lustigen Nichte?“

Franz stützte sich auf die Sofalehne und schnappte nach dem Kasperl. Er biss ihn ins Ohr, in die Hand und beinahe erwischte er das Handgelenk von Herrn Langholm.

Mihai Tepes schnappte sich seinen Sohn, bevor er den Babysitter in einen Vampir verwandeln konnte. „Nicht den Kasperl beißen. Aus dem kannst du höchstens Holzwürmer raussaugen.“

Kurz tauchte der wirre graue Kopf von Herrn Langholm hinter der Sofalehne auf. Der Babysitter sah Mihai stirnrunzelnd an.

„Herr Langholm, wollen Sie nicht mal hinter dem Sofa hervorkommen, damit wir uns unterhalten können?“, fragte Frau Tepes. Auf seiner Homepage bezeichnete sich Herr Langholm als „fantasievollen Quereinsteiger“ und für ihn waren „Kinder die Sonne des Lebens, mit denen er mit frühlingsfröhlichen Hüpfern, viel Lust am Lachen und mit einem Herz voller Liebe und einer ordentlichen Portion Neugier die Geheimnisse der bezaubernden Welt“ erkunden wollte.

Doch Herr Langholm kam weder hinter dem Sofa hervor, noch hörte er auf, mit Kasperlstimme in Reimen zu reden. Daka setzte sich die Kopfhörer auf und Silvania versteckte sich hinter einem Wörterbuch (sie hatte es blindlings aus dem Regal gezogen), nachdem der Kasperl sie zum Mitsingen von „Alle meine Entchen“ aufgefordert hatte.

Mihai Tepes, der auch sehr gerne sang, begann mit tiefer Stimme sein geliebtes Heimatlied „Transsilvania, rodna inima moi“ zu singen. Das verstörte den Kasperl, beziehungsweise Herrn Langholm, nur kurz. Dann freute er sich über das neue Liedgut und sang fröhlich mit.

Das wiederum verstörte Herrn Tepes länger. Das stolze und uralte Lied über seine wunderschöne transsilvanische Heimat – gesungen von einem Kasperl! Als Mihai Tepes vor Unbehagen knurrte und die Eckzähne entblößte, sprang Herr Langholm hinter dem Sofa hervor und rief: „Au ja! Lasst uns Vampire spielen!“

Bevor dieser verwegene Plan in die Tat umgesetzt werden konnte und Mihai, Franz, Daka und Silvania Herrn Langholm zeigten, was ein echter Vampir war, geleitete Frau Tepes den Babysitter zur Haustür und wünschte ihm und seinem Kasperl alles Gute beim frühlingsfröhlichen Hüpfen mit den Kindern der Sonne.

„Aller guten Dinge sind drei.“ Frau Tepes atmete tief durch und gönnte sich erst einmal einen starken Kaffee (und ihrem Mann einen Kaffee mit einem Schuss Blut), bevor der nächste und letzte Babysitter klingelte.

„Hi“, sagte eine etwa Zwanzigjährige und sah nur kurz von ihrem Handy auf.

„Bist du Jasmin?“, begrüßte sie Frau Tepes.

„Jo. Aber nennt mich keiner. Jazz.“

„Hip Hop?“ Herr Tepes sah erst seine Frau und dann Jasmin achselzuckend an.

„Jazz“, wiederholte das Mädchen langsam, als leide Herr Tepes unter Schwerhörigkeit.

„Komm rein“, sagte Frau Tepes. „Franz und die Mädchen freuen sich schon darauf, dich kennenzulernen, und du bist sicher auch gespannt.“

„Geht so.“ Jazz ließ ihre Umhängetasche in den Flur plumsen und schlurfte ins Wohnzimmer, setzte sich aufs Sofa und wischte über ihr Smartphone, was mit ihren langen neonroten Fingernägeln eine echte Kunst war. Als Frau Tepes ihre Kinder vorstellte, blickte sie jeweils kurz auf.

„Und jetzt erzähl von dir.“ Frau Tepes nickte Jazz aufmunternd zu.

„Lebenslauf? Hab ich doch alles schon gemailt.“

„Und was ist mit Hobbys?“, fragte Frau Tepes.

„Hab ich.“

„Und Erfahrungen mit Vamp–, ähm, mit Kindern?“, fragte Herr Tepes.

„Zwei kleine Brüder, eine kleine Schwester, eine Halbschwester und eine Stiefschwester. Ach so, und ein Meerschweinchen“, murmelte Jazz, ohne von ihrem Smartphone aufzusehen. Dieses gab ein klirrendes Geräusch von sich, Jazz wischte zweimal und schien etwas zu lesen. „Also, nächsten Freitag kann ich schon mal nicht. Da is’ Party bei Hotte.“

Franz war auf das Sofa geklettert und sah gespannt zu, wie Jazz über das Smartphone wischte. Er wartete einen passenden Moment ab, dann stürzte er sich auf das Handy und biss hinein, als wäre es eine Blutwurststulle.

„Ey! Bist du Banane, oder was, du Knirps?“ Jazz hatte Franz das Smartphone aus dem Mund gerissen, war aufgesprungen und wischte das vollgesabberte Display am Sofa ab.

„Sei froh, dass er nur ins Smartphone gebissen hat“, sagte Silvania.

„Hä?“, machte Jazz.

Bevor Jazz herausfinden konnte, was Franz noch so alles gerne biss, bugsierte Herr Tepes sie aus dem Haus. „Datiboi für deinen Besuch, Hip Hop.“

„Jazz.“

„Tango!“, rief Herr Tepes und knallte die Tür zu.

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23 oktoober 2024
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9783732004515
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