Seewölfe - Piraten der Weltmeere 215

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 215
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-551-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

1.

Das Gesicht des Kutschers war ernst, als er zum Achterdeck aufenterte und eine Kanne Tee mit Rum hinaufbrachte.

Ein wenig umständlich füllte er zwei Mucks und reichte eine dem Seewolf und die andere Ben Brighton.

Dann stand der schmalbrüstige Mann, der Feldscher und Koch an Bord der „Isabella“, der sich selbst Kutscher nannte, nervös an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und knetete seine Finger.

Sein Blick war besorgt in die Ferne gerichtet, aber da gab es nichts zu sehen als das weite, endlos scheinende Meer und die Sonne, die gleißende Strahlen in die Dünung warf.

Die „Isabella VIII.“ hob und senkte sich im ewigen Rhythmus dieser langgestreckten Wellen. Sie glitt schnell und mit stark geblähten Segeln unter vollem Preß dahin, ließ sich von der Dünung in die Höhe heben, ritt elegant über sie hinweg und ließ sie achteraus als blasigen Streifen zurück.

So ging das jetzt schon tagelang, länger als eine Woche, und es schien, als würde dieses ewige Auf und Ab niemals mehr unterbrochen werden.

Philip Hasard Killigrew, der Seewolf genannt, trank den kalten Tee in kleinen Schlucken, bis die Muck leer war. Dann seufzte er behaglich und gab die Muck dem Kutscher zurück.

Der füllte sie wortlos und reichte sie an den Rudergänger Pete Ballie weiter, der die „Isabella“ auf Kurs hielt.

Immer noch stand der Kutscher herum, aber der Seewolf hatte sein merkwürdiges Gebaren längst registriert.

„Was ist mit dir, Kutscher?“ fragte er. „Dich bedrückt doch wieder mal etwas.“

„Ja, Sir, es ist der alte Seemann, dieser Jonny. Du solltest ihn dir einmal ansehen.“

Hasards Gesicht verdüsterte sich.

„Was ist mit ihm?“

Der Kutscher wirkte ratlos und zuckte mit den Schultern.

„Ich verstehe es nicht, aber hin und wieder fühlt der alte Mann sich ziemlich wohl, dann sieht er aus, als würde er gleich an Deck erscheinen. Dann wieder ist es wie verhext, und ich habe Angst, daß er mir unter den Händen stirbt.“

Hasard blickte ausdruckslos in die Ferne. Seine blauen Augen waren auf die Kimm gerichtet, und er fragte sich, weshalb Jonny, wie der alte Seemann genannt wurde, einen Tag gesund und munter schien und am nächsten Tag schon wieder todkrank in der Koje lag.

Sie hatten Johan Brad auf einer Insel des Chagos-Archipel kennengelernt, in einer üblen Hafenspelunke. Der alte Seemann war schamlos von Iren, Kneipenwirten und anderen Seeleuten ausgenutzt worden, und er hatte nicht die geringsten Aussichten, seine Heimat England je wieder zu erreichen.

Die meisten Schiffe nahmen ihn nicht, weil er zu alt war, eine Passage aber konnte er nicht bezahlen, und als er dann Philip Hasard Killigrew und seinen Seewölfen begegnete, hatte sich sein düsteres Dasein schlagartig geändert.

Er konnte aus der Spelunke ausziehen, wo er in einer winzigen drekkigen Kammer hauste, und sein Domizil mit der „Isabella“ vertauschen.

Aber dann hatte es Streit gegeben, Iren und Seewölfe waren übereinander hergefallen, und ein Ire hatte Jonny mit dem Messer getroffen und ihn schwer verletzt.

Als die Seewölfe die Insel verlassen hatten, wurde in der Seemannskiste des alten Jonny eine rätselhafte Seekarte gefunden. An dieser Karte rätselte man immer noch herum, und nur die Zwillinge waren in der Lage, die Schrift zu entziffern, weil sie aus orientalischen Schriftzeichen bestand.

Diese Karte hatte Jonny von einem sterbenden Seemann erhalten, wie er versicherte, und diese Karte war zweifellos ein Hinweis auf einen versteckten Schatz, der sich auf einer der drei Maskareneninseln befinden sollte.

Jetzt stand es also schon wieder so schlecht um den armen Kerl, dachte Hasard, und es war zweifelhaft, ob sie ihm seinen letzten Wunsch, England noch einmal zu sehen, überhaupt erfüllen konnten.

„Hat er eine Infektion, Wundbrand oder so etwas?“ fragte Hasard, als sein Blick von der Kimm zurückkehrte und sich wieder voll auf den Kutscher konzentrierte.

„Nein“, sagte der Kutscher entschieden. „Weder das eine noch das andere. Er scheint eine komplizierte innere Verletzung zu haben, aber ich kann das nicht feststellen. Dazu müßte ich schon so ausgerüstet sein wie Doktor Freemont, und selbst unter den Umständen wäre es noch schwierig.“

„Nun verliere mal nicht den Mut“, sagte Hasard, der genau wußte, daß der Kutscher darunter litt, wenn es ihm nicht gelang, einem Mann helfen zu können.

„Willst du ihn dir einmal ansehen, Sir?“

„Ja, sofort!“

Hasard wandte sich an seinen Bootsmann und Stellvertreter Ben Brighton, der die letzten Worte ebenso gehört hatte wie der Rudergänger Pete Ballie.

„Ich gehe nach vorn, Ben, und sehe mir den Mann einmal an. Hoffentlich übersteht er es.“

Ben Brighton nickte.

„Ich würde es ihm wünschen, seine Heimat noch einmal zu sehen. Der arme Teufel hat viel hinter sich.“

„Ja, das hat er ganz sicher.“

Der Kutscher hatte immer noch ein bekümmertes Gesicht und wirkte so ratlos wie vorhin.

Zusammen stiegen sie den Niedergang hinunter zur Kuhl und durchquerten sie.

Matt Davies und Ferris Tucker sahen ihnen nach, und der rothaarige Schiffszimmermann schüttelte betrübt den Kopf.

„Es scheint ja immer schlimmer zu werden, wenn jetzt schon Hasard nach vorn geht.“

„Vorgestern war Jonny noch ganz fröhlich und fragte unseren Moses, wann wir denn in England seien. Anscheinend hatte er aber doch leichtes Fieber, denn er glaubt immer noch, daß wir uns schon ziemlich dicht vor der heimatlichen Küste befinden.“

„Hoffen wir, daß er es übersteht“, sagte auch Ferris Tucker und wandte sich schweigend seiner Arbeit zu.

Hasard trat durch das angelehnte Schott in den dämmerigen Mannschaftsraum. Er mußte sich bücken, um nicht mit dem Kopf an den Plafond zu stoßen.

Frische Luft gab es hier unten genug, stellte er fest, denn der große Raum mit den vielen Kojen war gut belüftet, und es war auch so hell, daß man keine Lampe brauchte.

Das Lüften hatte Ferris Tucker schon heute morgen besorgt, damit die Räume nicht feucht wurden, damit frische Luft hineinkam.

Hasard trat, dicht gefolgt von dem besorgten Kutscher, bis dicht an die hintere Bunk.

Ein älterer, grauhaariger und etwas verwittert aussehender Mann lag darin. Seine Gestalt war unter der dünnen Decke schmächtig zu nennen, seine Arme lagen auf der Brust, und er schaute aus trüben, fieberheißen Augen zu den Brettern der oberen Bunk hinauf, in der der Moses sonst schlief.

Man sah Brad den seebefahrenen Mann sofort an, dazu genügte ein einziger Blick, aber jetzt sah er erbarmungswürdig aus, und kleine graue Bartstoppeln bedeckten sein Kinn.

Er versuchte zu lächeln, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen, und er verzog die Lippen eher etwas schmerzhaft.

Hasard ergriff die heiße, schmale Hand des Mannes und legte die andere an seine Stirn.

Sie war sehr heiß, aber auf dem Gesicht stand kein einziger Tropfen Schweiß. Auch die Stirn war trokken.

„Wie fühlen Sie sich, Mister Brad?“ fragte der Seewolf leise.

Jonny versuchte leicht den Kopf zu drehen, aber selbst das mußte mit Schmerzen verbunden sein.

„Ah, der Kapitän, Sir Killigrew“, sagte der alte Seemann mit schwacher Stimme. Dann begann er wieder zu flüstern, und dem Seewolf lief es kalt über den Rücken.

„Sir“, hauchte er drängend, „kann man an Deck schon die englische Küste sehen? Ich fürchte, wir müssen uns beeilen, sonst werde ich sie nie mehr sehen.“

„Noch nicht“, sagte Hasard. „Das wird noch ein paar Tage dauern, und so lange müssen Sie schon noch durchhalten, sonst wäre ja alles umsonst gewesen, nicht wahr?“

Heilige Seeschlange, dachte er, sie befanden sich noch mitten im Indischen Ozean und hatten den Atlantik zu überqueren, und selbst dann würden sie immer noch nicht die englische Küste sehen.

„Wie geht es Ihnen, wie fühlen Sie sich?“ wiederholte er seine soeben gestellte Frage.

Der Mann, der sämtliche Meere befahren hatte, und der auf eine ebenso harte Vergangenheit zurückblicken konnte wie der alte Donegal Daniel O’Flynn, winkte schwach mit der Hand ab.

Seine Augen strahlten jetzt in einem fast übernatürlichen Glanz, und er sprach für kurze Zeit klar und deutlich.

„Ich weiß es nicht, Sir, ich fühle mich schlapp, und in meinen Eingeweiden brennt es, als hätte ich Feuer geschluckt. Aber ich kann nicht einmal die Stelle bezeichnen, Sir“, fügte er klagend hinzu. „Lassen Sie einen alten Mann hier unten still krepieren, ich habe Ihnen seit meiner Ankunft nur Schwierigkeiten und Ärger bereitet. Ich möchte keinem zur Last fallen.“

„Sie fallen uns nicht zur Last, ganz im Gegenteil, Mister Brad. Wir werden alles tun, damit Sie bald wieder auf den Beinen stehen. Das ist nicht mehr als unsere Christenpflicht, und die erfüllen wir mit tausend Freuden. Aber Sie müssen den Willen haben, wieder gesund zu werden, und Sie dürfen sich nicht selbst aufgeben. Wenn Sie den Willen aufbringen, dann haben Sie den ersten Schritt zu Ihrer Genesung bereits selbst getan.“

 

„Glauben Sie, Sir?“

„Das weiß ich ganz sicher“, sagte Hasard. „Haben Sie irgendeinen Wunsch? Möchten Sie kühlen Tee trinken?“

„Nein, Sir, danke, ich habe keinen Wunsch.“

Jonny war sein Leben lang ein bescheidener zurückhaltender Mann gewesen, der hart gearbeitet hatte. Es war ihm peinlich, hilflos in der Bunk zu liegen, und es war ihm noch peinlicher, wenn andere ihn bedienten, und so hatte er nie irgendwelche Wünsche.

England sehen, das war sein großer Wunsch, und gerade den konnte Philip Hasard Killigrew ihm vorerst nicht erfüllen, denn das war in keinem Fall machbar.

„Haben Sie Schmerzen, wenn Sie sich bewegen?“ fragte der Kutscher, der bis dahin stumm im Hintergrund gestanden hatte.

„Nicht mehr als sonst auch, es ist nicht so schlimm.“

Der Blick seiner Augen trübte sich erneut, sein Gesicht wirkte jetzt wieder fahl und eingefallen, und er holte tief Luft.

Der Kutscher ließ ihn nicht aus den Augen. Schon ein paarmal hatte er vermutet, daß die Lunge des Mannes vielleicht durch den Messerstich etwas abgekriegt hatte, aber die Anzeichen sprachen in keiner Weise dafür. Er konnte unbeschwert Luft holen, er hustete auch nicht, und er verkrampfte sich beim Atmen nicht.

Er goß ihm aus der halbleeren Kanne, die er noch bei sich trug, ebenfalls eine Muck voll Tee und setzte sie ihm an die Lippen.

Jonny trank nur einen winzigen Schluck. Danach wirkte er so erschöpft, als hätte er pausenlos gearbeitet.

„Vielleicht würde ihm die Sonnenwärme guttun“, sagte Hasard hilflos, „frische Decksluft, viel Sonne, das ist eine der besten Arzneien, die ich kenne.“

Der Kutscher sah den Seewolf geknickt an.

„Ich weiß nicht einmal, ob wir ihn gefahrlos transportieren können, Sir. Er hat irgendwo eine innere Verletzung, aber ich finde das nicht heraus. Sicher hast du recht, Sir, Sonne und Wind täten ihm gut. Wir können es jedenfalls versuchen.“

Johan Brad schien die beiden Männer nicht zu hören. Sein Blick ging durch die Dielen der oberen Bunk hindurch, als sähe er schon den Himmel.

Hasard blickte bedauernd auf dieses Häufchen Elend. Jeden erwischte es einmal, dachte er, aber ihn hatte es ausgerechnet auf der „Isabella“ erwischt, ausgerechnet dann, als er wieder einigermaßen froh in die Zukunft blicken konnte.

Hasard hätte diesen alten Mann gern an Bord behalten, wenn er gewollt hätte. Leichte Arbeit gab es immer, er hätte dem Koch helfen können oder dem alten Segelmacher Will Thorne, dem dieser Jonny auf irgendeine Art etwas ähnelte.

Aber er wollte nicht, daß dieser alte Haudegen hier an Bord starb. Er mußte es ganz einfach überleben, und vielleicht schaffte er es ja auch.

Er bückte sich nieder, und hob ihn vorsichtig aus der Koje. Er war erstaunt, wie leicht Jonny war, er hatte in den letzten Tagen stark abgenommen.

„Geh voraus, Kutscher“, sagte er leise, „ich bringe ihn an Deck. Besorge eine Unterlage.“

„Aye, Sir, aber vorsichtig!“

„Wem sagst du das!“

Wie eine Puppe trug er den alten Seelord nach oben, und als er an Deck stand, die schlaffe Gestalt im Arm, da erstarrten schlagartig die Gesichter der Männer.

Sie legten ihre Arbeit nieder, und rissen sich das, was sie an Kopfbedeckungen trugen, schnell vom Schädel.

Der alte O’Flynn blickte aus starren Augen auf den Seewolf, dann blieb sein Blick an der Gestalt des alten Jonnys hängen, und er bekreuzigte sich.

Hasard schüttelte den Kopf, und da erst sah er, daß die Männer erleichtert aufatmeten und sich auch Carberrys erschrecktes Gesicht langsam wieder entspannte.

Der Kutscher hatte unter dem Großmarssegel ein schattiges Plätzchen bereitet. Hier war es hell und luftig, und hin und wieder fiel auch mal ein Sonnenstrahl hierher.

Der Wind war warm, und er brachte auch ein wenig Kühlung, wenn er etwas härter blies, wie es seit einer halben Stunde der Fall war. Dann spürte man die Wärme nicht mehr so stark, und es war angenehm erfrischend.

Hasard legte die leichte Last ab und bettete sie vorsichtig auf dem aus Säkken und Decken bereiteten Lager.

Hier lag der alte Seelord bequem, besser als in der Koje, und er hatte Sonne, Schatten und auch Wind.

Aber er lag da wie ein Toter und rührte sich nicht. Nur ab und zu öffneten sich ungläubig seine Augen, und dann starrte er in einen aus blauer Seide gespannten Himmel, und seine Lippen bewegten sich leise, murmelten Worte, die kein Mensch verstand.

Es sah so aus, als würde er sich auf seine letzte große Reise vorbereiten, um sich vom größten aller Master persönlich anheuern zu lassen.

2.

Die „Isabella“ lief weiter mit Dreiviertelwind durch blaugrünes, langdünendes Wasser.

Das Leben an Bord ging weiter, die Arbeit nahm ihren Verlauf, und nur hin und wieder blickte jemand zur Kimm, ob sich da vielleicht schon Land zeigte.

An diesem Novembertag fünfzehnhundertneunzig schien die Welt nur aus Wasser und Himmel zu bestehen, und man konnte glauben, auf der Welt gäbe es keine anderen Lebewesen mehr.

Da war wieder diese einzigartige Weite, die Unermeßlichkeit der Natur, die Elemente, die ruhig und friedlich gestimmt waren, und trotzdem lag in der Luft eine leichte Beklemmung.

Vielleicht hing das mit dem alten Seemann zusammen, vielleicht lag das auch an etwas anderem, das hätte auf der „Isabella“ niemand definieren können, aber etwas lastete über dem Schiff, das in vollendeter Harmonie seine Bahn durch das Wasser zog.

Die einzigen, die sich unbeschwert gaben, waren die zehnjährigen Zwillingssöhne des Seewolfs, Hasard und Philip.

Sie mochten den alten Seemann, und sie warfen auch hin und wieder einen verstohlenen Blick nach ihm, der wie tot auf den Decken lag und in den Himmel über sich starrte.

Aber die beiden spürten es nicht so wie die anderen. Sie waren noch zu jung dazu, ihnen fehlte dieses Gefühl noch.

Vor zehn Jahren waren sie geboren worden, und sie unterschieden sich nur durch eine Kleinigkeit. Das war das eintätowierte Symbol eines Haifisches, das Hasard auf der rechten, und Philip auf der linken Schulter trug; ein unauslöschliches Mal, das ihnen ein Schuft und Gauner eingeritzt hatte, ein Schnapphahn namens Keymis, der im gefräßigen Rachen eines Hammerhais gelandet war.

Beide trugen nur ihre Leinenhosen mit dem Schiffsmesser im Hosenbund. Ihre sonnenverbrannten Oberkörper waren nackt, und sie gingen mit Feuereifer ihrer aufregenden Lieblingsbeschäftigung nach, die darin bestand, auch das letzte Rätsel dieser mysteriösen Seekarte zu lösen.

Anfangs war diese Karte, die Johan Brad gehörte, nur mitleidig belächelt worden, und der Seewolf hatte versucht, seinen Söhnen die Schatzsuche auszureden, denn sie würde doch zu nichts führen, und außerdem könne die Zeichen und Symbole ohnehin kein Mensch lesen.

Das hatte sich erst dann geändert, als die beiden tatsächlich zur großen Verblüffung ihres Vaters die ersten Zeichen enträtselt hatten.

Sie hatten in dieser orientalischen Schrift bei der Gauklertruppe in Märchenbüchern gelesen, und nun wurde das Geheimnis der Seekarte Schritt um Schritt enträtselt.

Die Karte lag ausgebreitet auf dem Achterdeck und war an den Ecken mit Jakobstab, einem Stein und einem Tauende beschwert, damit sie sich nicht wieder zusammenrollte.

Beide lagen bäuchlings darüber gebeugt. Neben ihnen stand der grauhaarige, ehemalige Schmied von Arwenack, Big Old Shane, der einen breiten Schatten über die Karte warf.

Daneben hatte aber auch der junge O’Flynn Platz genommen, der mit Feder und Tusche die „Übersetzungen“ aus der Karte auf ein Stück Pergament übertrug und der immer wieder rechnete und überlegte, und so zur Freude der Zwillinge viel dazu beitrug, der Karte auch das letzte Geheimnis zu entreißen.

Soviel stand bisher einwandfrei fest, vorausgesetzt, es hatte sich nicht jemand einen schlechten Scherz beim Fertigen der Karte geleistet:

Die Inseln lagen auf dem Kurs der „Isabella“, und Hasard hatte versprochen, sie anzulaufen, um nach dem langen Törn von Chagos Trinkwasservorräte und Proviant zu ergänzen, denn der Kurs ging weiter in den Atlantik, und die Reise, die vor ihnen lag, war noch sehr lang.

Diese Inselgruppe bestand der Karte nach aus drei Inseln und nicht aus fünf, wie ursprünglich angenommen worden war. Es waren die Maskarenen, und die Inseln trugen arabische Namen. Sie hießen Dina Arobi, Dina Margabim und Dina Moraze.

Das war alles reichlich verwirrend, denn die Inselgruppe wurde auch noch Cirne genannt, und außerdem hatte im Jahre 1540 ein Portugiese namens Domingo Fernandez die Inseln bereits entdeckt.

Das alles war in der Karte vermerkt worden, und auf der Rückseite war sie außerdem noch eng mit den orientalischen Symbolen beschriftet, die selbst Hasard und Philip nicht vollständig übersetzen konnten.

Außerdem mußte die Karte sehr alt sein, und das bestärkte die beiden in der Annahme, daß es sich um einen sehr alten und sehr gewaltigen Schatz handeln mußte. Aber begründen konnten sie das nicht, sie hatten das einfach im Gefühl, sagten sie auf alle diesbezüglichen Fragen.

„Auf welcher von euren verdammten drei Inseln befindet sich denn nun der Schatz?“ fragte der junge O’Flynn schon ein paarmal. Bisher hatten sich die Zwillinge immer vornehm und leicht verlegen um eine Antwort herumgedrückt.

„Wir suchen noch“, sagte Hasard schließlich, „so leicht ist das nämlich auch nicht. Der Schreiber hier sagt, wenn die Sonne durch die Augenhöhlen des Totenkopfes scheint, bricht sich das Licht im Auge des Gottes. Entferne den Stein! Hüte dich vor dem Feuer!“

„Das ist alles?“

„Genügt das etwa nicht? Nein, das ist noch nicht alles, da steht auch noch was von einer Grotte oder einer Höhle oder so ähnlich.“

Dan O’Flynn wiederholte den Satz und zuckte dann mit den Schultern. Dabei blickte er auf die Schriftzeichen, ohne sie jedoch zu begreifen.

„Folglich muß da irgendwo ein Totenschädel liegen“, meinte er, „und zwar so, daß die Sonne, wenn sie hindurchscheint, auf einen ganz bestimmten Teil einer Gottheit oder einer Statue fällt. Das gibt dann einen Lichtreflex, und vermutlich muß man das Auge oder den Stein dieser Gottheit entfernen. Mann, den Totenkopf könnt ihr suchen, bis euch graue Bärte wachsen. Der ist längst vom Wind verweht, oder zu Staub zerfallen.“

„Ja, das glaube ich auch“, sagte der junge Hasard betrübt.

„Und was soll dieser Quatsch überhaupt heißen: ‚Hüte dich vor dem Feuer!‘ Da kann längst kein Feuer mehr sein.“

„Der Totenkopf muß nicht unbedingt ein menschlicher Schädel sein“, bemerkte Big Old Shane. „Diese Araber drücken sich oft sehr symbolhaft aus und meinen etwas ganz anderes. Man darf das nicht so wörtlich nehmen.“

„Wie willst du es dann übersetzen, Shane?“ fragte O’Flynn.

„Das weiß ich auch nicht“, sagte der Riese bedächtig, und strich mit der Hand durch seinen dichten grauen Bart. „Ihr jungen Spunde seid doch immer so schlau. Laßt euch mal etwas einfallen!“

„Schnickschnack ist das“, sagte Dans Vater, der mit verdrossenem Gesicht auf die Karte blickte. „Ihr zerbrecht euch den Kopf über einen Schatz, den es gar nicht gibt. Diese Karte hat irgendein Gauner angefertigt, um einen anderen damit übers Ohr zu hauen. Vielleicht hat er eine Menge Geld dafür gekriegt.“

„Du weißt doch selbst, daß Jonny sie von einem sterbenden Seemann erhalten hat“, wandte sein Sohn ein. „Weshalb sollten sich denn alle Leute ständig begaunern? Nein, nein, da ist schon etwas dran, Dad, und vermutlich ist das alles längst geborgen oder aber zu Staub zerfallen.“

„Ich mag daran nicht glauben“, sagte der alte O’Flynn störrisch.

„Dann laß es doch bleiben, Dad“, schlug Dan vor.

Auch der Seewolf beugte sich nun interessiert über die seltsame Karte mit den geheimnisvollen Zeichen und Andeutungen. Seit die Zwillinge immer mehr herausgefunden hatten, packte es ihn auch, denn verständlicherweise wollte jeder das Rätsel lösen, und nach einer Weile überboten sie sich gegenseitig mit ihren Vermutungen und Ansichten.

Über diesen Totenschädel zerbrachen sie sich lange den Kopf, und sie versuchten ihn immer wieder anders zu interpretieren. Aber niemand fand es heraus, alles blieb graue Theorie.

 

„Entferne den Stein! Hüte dich vor dem Feuer!“ las Philip noch einmal vor. „Das ist richtig, da haben wir alle Wörter zusammen. Aber was da unten steht, haben wir immer noch nicht herausgefunden, es klingt so merkwürdig.“

„Was steht denn da?“ fragte Hasard interessiert.

„Folge dem Lauf des, hier fehlt ein Wort, und dann steht als nächstes Wort Silber da.“

„Folge dem Lauf des glänzenden Silbers“, stückelte O’Flynn zusammen, aber beide Jungen schüttelten die Köpfe.

„Nein, glänzend heißt es nicht.“

„Dann vielleicht schimmernd“, half Dan nach.

„Auch nicht.“

Weitere Wörter wurden gesucht und eingesetzt, aber die Zwillinge verneinten immer wieder.

„Wie, zum Teufel, kann man Silber denn noch nennen?“ fragte der alte O’Flynn und stampfte mit dem Holzbein auf. „Silber glänzt, oder es schimmert, oder es wird flüssig, wenn es geschmolzen wird. Mehr fällt mir dazu nicht ein.“

Hasard junior kroch noch dichter an die Schrift heran, bis sie vor seinen Augen zu flimmern begann.

„Springen kann es doch nicht heißen, Philip, oder doch?“

„Habt ihr schon mal Silber springen sehen, ihr grünen Heringe?“ fragte Old O’Flynn. „Höchstens Silberstücke, wenn man sie auf den Boden wirft.“

„Springendes Silber ergibt wahrhaftig keinen Sinn“, meinte Big Old Shane nachdenklich. „Das würde dann ja heißen: ‚Folge dem Lauf des springenden Silbers‘. Da steckt ein anderes Wort dahinter.“

Den Männern begann es Spaß zu bereiten, die rätselvollen Andeutungen umzusetzen, damit sie einen vernünftigen Sinn ergaben, aber es war sehr schwierig, und nach einer Weile wurde über das eine Wort diskutiert, das angeblich keinen Sinn gab.

Die Zwillinge hockten grübelnd an Deck und zerbrachen sich die Köpfe, und Philip behauptete wieder, daß seiner Ansicht nach kein anderes Wort in Frage käme.

Auch Hasard sann lange darüber nach. Dann konnte er mit einer Lösung aufwarten, die einigermaßen logisch klang.

„Folge dem Lauf, läßt sich ganz einfach übersetzen. Man kann beispielsweise einem Flußlauf folgen, und in diesem Fall wird das springende Silber mit dem Wasser eines Flusses verglichen. Genau müßte das also heißen, daß man dem Lauf eines silbrig scheinenden Flusses folgen soll, und daß er springt, bedeutet nichts anderes, als daß sich kleine Wasserwirbel oder Strudel darin befinden. Wenn das stimmt, wären wir der Lösung ja ein ganz beachtliches Stück näher gerückt, denn dann gilt es hauptsächlich, nach einem Fluß Ausschau zu halten.“

„Eine vernünftige Lösung, wie mir scheint“, meinte der Bootsmann Ben Brighton. „Und Flüsse auf einer Insel dürften nun ja wirklich nicht so schwierig zu finden sein.“

Ja, diese Lösung bot sich an, und sie ergab einen Sinn, dachten auch die anderen, und damit glaubten einige, das Rätsel sei schon so gut wie gelöst und man brauche den Schatz nur noch zu heben.

Aber da lagen noch etliche große Steine im Weg, denn die Angaben widersprachen sich, und vor allem waren die Koordinaten nicht klar. Keiner wußte, um welche der drei Inseln es sich handelte. Jede von ihnen konnte Flüsse aufweisen, und zudem waren die Inseln nicht gerade klein.

„Sehr lange werden wir uns da also nicht aufhalten“, sagte der Seewolf. „Wir können nicht unsere Zeit wochenlang mit der Suche nach einem fragwürdigen Schatz verbringen. Schließlich haben wir ein Ziel vor Augen.“

Hasard junior protestierte, und auch sein Bruder begann gleich darauf zu maulen.

„Du hast uns aber versprochen, Sir, Dad, daß wir die Inseln anlaufen und uns einmal umsehen.“

„Ich halte mein Versprechen auch, aber wenn wir nach höchstens drei Tagen nichts finden, dann segeln wir weiter, und das ist mein allerletztes Wort.“

Die beiden hatten verstanden, und sie hüteten sich, auch nur ein Wort des Protestes laut werden zu lassen, denn da stand ihr Großvater O’Flynn und schien nur auf einen Widerspruch zu warten.

Und Granddad war dafür bekannt, daß er sich nicht scheute, auch auf seine alten Tage noch sein Holzbein abzuschnallen, um es auf edlen Körperteilen springen zu lassen.

Aber allein der kurze Blick aus den eisblauen Augen des Seewolfs genügte, um jeden Protest zu ersticken, denn der Blick war noch schlimmer als das Holzbein des alten O’Flynn. Nach dem Blick tat sich meist die Hölle persönlich auf und verschlang unbarmherzig ihre zwei kleinen Teufelchen.

„Je mehr ihr die Schrift enträtselt und herausfindet, desto leichter und schneller muß es doch zu finden sein“, sagte Shane. „Es liegt also auch bei euch, die Suche abzukürzen. Und das werden wir innerhalb von drei Tagen doch wohl schaffen, oder es müßte mit dem Teufel persönlich zugehen.“

„Außerdem“, sagte Ben Brighton in die entstandene Stille hinein, „gehört der Schatz Mister Brad, denn von ihm stammt die Karte, und er allein bestimmt darüber, was mit den Sachen geschieht.“

„Selbstverständlich, Mister Brighton“, versicherte Philip. „Die Suche ist ja viel spannender als das Gold, oder was wir da finden werden.“

Hasard versuchte, Zusammenhänge zu finden. Diese Seekarte war bestimmt nicht von einem an den anderen verkauft worden, um damit Geschäfte zu machen, sie mußte jemandem gehört haben, der sie vielleicht nur für sich persönlich haben wollte und der aus diesem Grund alles umschrieb, damit kein anderer das Geheimnis herausfand.

Auch das war natürlich nur eine Theorie, aber Hasard hätte anstelle des Unbekannten ähnlich gehandelt, um den Ort in der Erinnerung zu behalten.

Wer weiß, durch wieviel Hände diese Karte im Laufe der Zeit gegangen war, ehe sie bei Brad landete, der sie dann sorgfältig aufhob und der auch keine Gelegenheit hatte, den Schatz selbst zu heben.

Er blickte zu Jonny hinüber. Der alte Seemann, auf den die Iren in der Hafenspelunke Spottlieder gesungen hatten, lag regungslos an Deck. Seine Augen waren geschlossen, und dem Seewolf fiel auf, daß er sich schon seit einer Weile nicht mehr gerührt hatte.

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