Seewölfe - Piraten der Weltmeere 90

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 90
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-414-2

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

1.

Die „Isabella VIII.“ segelte mit Backbordhalsen auf Steuerbordbug liegend ihrem fernen Ziel entgegen, einem Ziel das vorerst nur ein unerfüllter Traum war, fern und geheimnisvoll.

Dieses ferne Ziel war die Überquerung des Pazifiks bis hin ins Reich des großen Chan, einem Land das noch kein Seewolf gesehen hatte und das sie alle nur vom Hörensagen kannten.

Bis dieses Ziel erreicht war, konnten allerdings noch Monate, vielleicht auch Jahre vergehen, das kam ganz auf die jeweiligen Umstände an.

Bisher hatte es jedoch immer wieder Zwischenfälle und unliebsame Aufenthalte gegeben.

Auf dem Achterkastell der „Isabella“ waren Ben Brighton, Big Old Shane, der alte O’Flynn, Ed Carberry und Luke Morgan um den Seewolf versammelt, der mit dem hölzernen Jakobsstab hantierte und den Männern beibrachte, wie das Gerät zu handhaben war. Bisher hatten es nur wenige begriffen, die Navigation war für die meisten ein Buch mit sieben Siegeln.

„Ich sehe immer nur grelle Sonnenstrahlen“, behauptete Luke Morgan, „und die blenden mich so, daß ich anschließend gar nichts mehr sehen kann.“

„Eine reine, Gewohnheit, Luke“, entgegnete Hasard. „Man kann sich natürlich auch mit dem Rücken zur Sonne stellen.“

Hasard hatte zwei Seekarten ausgebreitet, die er jetzt gelegentlich betrachtete. Mit einem Stift zeichnete er den gefahrenen Kurs ein, verglich die ungefähre Zeit und beschäftigte sich weiter mit der ungenauen Seekarte.

Der Schiffsjunge Bill hatte sich unbemerkt zu den Männern gesellt und blickte aus großen Augen auf das, was für ihn ganz einfach unbegreiflich war.

Zum Teufel, er war jetzt schon eine ganze Weile an Bord, auch zusammen mit seinem verstorbenen Vater war er zur See gefahren, aber bis heute ging es nicht in seinen Schädel hinein, wie der ganze Kram funktionierte. Wenn man Land gesehen hätte, ho, dann war das etwas anderes. Aber es war nirgendwo Land zu sehen, weder vorn noch achtern, weder an Steuerbord noch an Backbord. Da dehnte sich nur eine riesige Wasserwüste nach allen Seiten, die an der Kimm in einen Himmel überging, der sich strahlend blau wie eine Kuppel über allem wölbte.

Deshalb schüttelte er nur stumm den Kopf, als der Seewolf sich umdrehte und sagte, als wüßte er es mit absoluter Sicherheit: „Wir befinden uns jetzt etwa auf der Höhe von La Paloma, es können zehn Meilen mehr oder weniger sein. Wir laufen annähernd zehn Knoten, demnach werden wir – falls der günstige Wind anhält – in etwa sechs Stunden die Mündung des Rio de la Plata erreichen. Das wäre dann kurz nach Mittag.“

„Und sie glauben, das stimmt, Sir?“ fragte der Bengel Bill und reckte seine magere Brust heraus.

„Ganz sicher“, erwiderte der Seewolf lachend, so daß man seine weißen Zähne blitzen sah. „Wenn du es nicht glaubst, kannst du es ja nachrechnen.“

„Das lerne ich nie, Sir, auch wenn ich ein alter Mann geworden bin“, erklärte Bill im Brustton der Überzeugung. „Das hat schon fast etwas mit Zauberei zu tun.“

„Es ist nur eine etwas komplizierte Rechenaufgabe, mein Junge, mehr steckt nicht dahinter. Es kommt hauptsächlich auf gute Karten an. Je besser die sind, desto genauer kann man das Besteck nehmen und die Position bestimmen.“

„Und man darf nicht vergessen, die Sanduhr immer zur rechten Zeit umzudrehen“, fügte Ben Brighton lachend hinzu.

„Und eine Abdrift gibt es auch noch“, sagte Carberry und runzelte die Stirn, „die muß man natürlich mitrechnen.“

Das verwirrte Bill derart, daß er kopfschüttelnd in die Kuhl zurückmarschierte, um dem alten Will Thorne beim Segelnähen zu helfen, denn der hockte schon seit Tagen über dieser Arbeit. Er nähte schwere Sturmsegel, so grobes Tuch, daß einem die Fingernägel brachen, wenn man hart zupackte. Diese schweren Segel, so hatte der Segelmacher Bill erklärt, würden sie brauchen, wenn sie Kap Hoorn rundeten, das Kap der fürchterlichen Stürme, der hohen Wellen und der Kälte. Das Kap, an dem schon so viele Schiffe gescheitert waren, das Kap ohne Wiederkehr, wie die Abergläubischen es auch gern nannten.

„Aber wir haben doch noch genügend Sturmsegel“, meinte Bill.

„Am Kap kann man nie genug haben, Junge. Da reißt der Wind alles in Fetzen, da putzt der Meergott sich die Nase mit den schweren Segeln. Und weil er da unten dauernd erkältet ist, braucht er bannig viel Tuch. Richtiges Tuch muß es sein, stark, hart, das dem Wind trotzt.“

Er zeigte Bill, wie man die Segelnadel führte. Es ging verdammt schnell bei dem alten Will Thorne, aber das war kein Wunder, denn er hatte sein ganzes Leben lang Segel genäht, geflickt und ausgebessert. Niemand an Bord konnte mit Kabelgarn, Nadeln und Tuch so gut und sicher umgehen wie der Alte.

Und eine Hose aus Segeltuch herstellen? Pah, das war für ihn kein Kunststück, und eine aus Leinen erst recht nicht. Er konnte alles, dieser grauhaarige ruhige Mann, und er war immer geduldig, schimpfte nie, fluchte nur ganz selten, und erklärte alles hundertmal, wenn Bill es nicht gleich begriff. Und deshalb mochte der Junge den Alten, weil der ihn vom Aussehen her außerdem noch ein wenig an seinen Vater erinnerte, der auf Jamaica begraben war.

In seine Überlegungen donnerte eine Stimme, die von hoch oben aus dem Großmars ertönte, wo Dan O’Flynn hinter der Segeltuchverkleidung hockte. Diesmal war der Schimpanse Arwenack allerdings nicht wie sonst bei ihm, der tobte gerade hinter dem Aracanga-Papagei Sir John her, kriegte ihn aber nicht zu fassen, weil der karmesinrote Ara den Affen immer dicht heran ließ und erst im allerletzten Moment losflatterte.

Dann ließ er sich auf der nächsten Rah nieder, wo er zu Bills Belustigung immer „Ha, ihr Kakerlaken, Affenärsche und Hurensöhne“ schrie, bis der Affe böse wurde.

„Deck, ho! Zwei Strich Backbord voraus treibt etwas in der See! Sieht nach einem Menschen aus!“

Dan O’Flynn hatte die Hände trichterförmig an den Mund gelegt, damit man ihn aus der luftigen Höhe besser verstand.

Köpfe drehten sich in die angegebene Richtung, aber niemand sah etwas. Dan hatte die bessere Position und schärfere Augen als alle anderen.

Der Seewolf zog das Spektiv auseinander und suchte die See ab. Es dauerte lange, bis er den kleinen tanzenden Punkt in der schwachen Dünung entdeckte. Ja, es konnte ein Mensch sein, überlegte er. Allerdings verriet keine Bewegung, daß noch Leben in ihm war. Er schwabbelte wie ein langes Stück Holz in den langgestreckten Wellen, die ihn sanft hoben und ebenso sanft wieder in eins ihrer Täler gleiten ließen.

„Eine Uniform“, sagte der Seewolf leise. „Es könnte fast ein Spanier sein, der dort treibt. Aber es sieht so aus, als wäre kein Leben mehr in ihm.“

Ben Brighton, Hasards Stellvertreter, blickte ebenfalls durch das Spektiv und nickte dann zustimmend.

„Scheint tot zu sein, er hängt fast die ganze Zeit mit dem Gesicht im Wasser.“

Hasard kniff die Augen zusammen und drehte sich nach Gary Andrews um, der eben Pete Ballie am Ruder abgelöst hatte.

„Zwei Strich Backbord, Gary!“

„Zwei Strich Backbord, Sir!“ wiederholte Gary Andrews.

„Laß ihn auffischen, Ben, vielleicht ist er nur bewußtlos, und laß das Großsegel aufgeien!“

Brighton gab den Befehl weiter an den Profos, der mit vorgerecktem Amboßkinn in die See starrte und den kleinen Punkt fixierte.

„Ein Spanier“, murmelte er, „ein kleiner lausiger Don, der zu weit ’rausgeschwommen ist. Na, dem werden wir das Wasser schon aus dem Wanst klopfen, bis er Kastanien kotzt.“

Als er sich umdrehte, klang seine Stimme wie üblich: Grollend, donnernd und mit saftigen Ausdrücken gewürzt.

„Habt ihr nicht gehört, ihr lausigen Sägefische!“ brüllte er. „Geit auf das Großsegel, hopp, hopp! Und glotzt nicht so triefäugig. So was wie den kleinen Lappen hab ich als Moses mit links aufgegeit, mit dem kleinen Finger!“

Die Männer grinsten wie üblich, wenn Edwin Carberry loslegte, denn er meinte es nicht so. Obwohl jeder Handgriff exakt saß, vermochte der Profos nicht über seinen Schatten zu springen. Er mußte brüllen und fluchen, denn was war ein Schiff ohne einen fluchenden Zuchtmeister? Schließlich war er ja nicht als Seelsorger an Bord!

Die „Isabella“ rückte dem Punkt rasch näher, obwohl sich ihre Fahrt durch das Aufgeien des Großsegels merklich verringert hatte.

„Klar zum Auffischen!“ rief der Profos. „Nehmt die hölzernen Haken, aber durchlöchert den Kerl nicht, vielleicht lebt er doch noch!“

 

Die Wellen täuschten Leben in der Gestalt vor, als er dicht an der Bordwand entlangschurrte. Das Gesicht des Mannes hing im Wasser, seine Arme waren ausgebreitet und deuteten in die Tiefe unter ihm, als wolle er auf etwas zeigen.

„Wenn der noch lebt, laß ich mir vom Kutscher sämtliche Kakerlaken braten“, sagte der Profos. „Hiev auf! Los, Smoky, pack an!“

Vier hölzerne Haken, an den Enden rund gebogen, hievten den Uniformierten mit einem Ruck aus dem Wasser. Fäuste griffen zu, und dann lag der Spanier triefend auf den Decksplanken, immer noch mit dem Gesicht nach unten.

Hasard war in der Kuhl erschienen. Sehr nachdenklich ruhte sein Blick auf der schlaffen, leblosen Gestalt, von deren Kleidung das Wasser troff, deren schwarze Haare sich auf den Planken ausbreiteten.

Neben dem Seewolf stand der Kutscher. Er hatte Tücher in heißes Pfefferminzöl gelegt und bückte sich nach dem Mann.

Er ergriff ihn unter dem Brustkorb, hob ihn an und drehte ihn halb zur Seite.

„Verdammt“, murmelte er betroffen und starrte erschreckt in das Gesicht des Mannes.

Auch die anderen wichen unwillkürlich etwas zurück.

Dieses Gesicht! Es sah furchtbar aus. Vom Hals aufwärts bis zu den Augen war es ein einziger roter Klumpen, furchtbar entstellt, die Haut zerrissen und zerfetzt.

„Tot“, sagte der Kutscher, „da gibt es keine Hilfe.“

„Scheint so, als. hätte ein Hai ihn angegriffen, aber dann von ihm wieder abgelassen“, sagte Big Old Shane, der mit verschränkten Armen in der Kuhl stand.

Der Kutscher schüttelte den Kopf, legte ihn auf die linke Schulter und musterte den Toten noch einmal, diesmal etwas gründlicher.

„Diese Verletzung stammt von keinem Hai“, sagte er laut. „Es muß etwas anderes gewesen sein.“

„Piranhas?“ fragte Hasard leise. „Ein Fluß kann ihn in den Atlantik geschwemmt haben, bevor die Biester ihr Werk vollenden konnten.“

Wieder schüttelte der Kutscher den Kopf.

„Das waren auch keine Piranhas“, entschied er. „Sein Tod gibt mir Rätsel auf, ich möchte mich zu der Behauptung versteigen …“

„Er möchte sich versteigen“, murmelte Ferris Tucker spöttisch. „Kannst du nicht Englisch sprechen, Mann? Versteigen kann man sich höchstens in den Wanten.“

Den Kutscher ließ dieser Einwand unberührt. Damals, bei Sir Freemont, hatte er seine Worte immer mit Bedacht gewählt und von dem berühmten Arzt auch viel gelernt. Aber zu seinem Bedauern hatte sich sein Umgangston bereits ganz beträchtlich dem der rauhen Gesellen angepaßt, was nicht hieß, daß nicht ab und zu doch mal etwas von der vornehmen Blasiertheit bei ihm durchbrach.

„Es sieht nach schweren Verbrennungen aus“, sagte er schließlich. Die anderen starrten ihn verständnislos an.

Selbst der Seewolf war perplex.

„Schwere Verbrennungen?“ fragte er ungläubig. „Ist das nicht etwas weit hergeholt, Kutscher?“

„Keineswegs, Sir! Um es ganz kraß auszudrücken – dieser Mann ist mit dem Schädel in ein Faß siedendes Öl gefallen.“

Carberry tippte sich bezeichnend an die Stirn und sah dabei den Kutscher an.

„Glaubst du etwa, der wollte die Fettaugen zählen? Mann, wer fällt schon mit dem Schädel in siedendes Öl?“

„Er hat es offenbar nur mit dem Gesicht berührt“, sagte der Kutscher hilflos und zuckte mit den Schultern.

Der tote Spanier, der Uniform nach war es ein Teniente, gab den Seewölfen Rätsel über Rätsel auf.

Hasards Blick war nachdenklich auf die See gerichtet. Dann kehrte er zurück und blieb auf dem Spanier haften.

„Laß das Segel wieder setzen, Ed“, sagte er nebenbei und griff in das Wams des Spaniers. Er fand keine Papiere, nichts was Aufschluß über den Toten gegeben hätte. Nicht einmal sein Alter ließ sich schätzen, und von der Statur her war er normaler Durchschnitt.

Lange betrachtete Hasard den Toten. Er wurde nicht schlau daraus. Keine Papiere, ein verbranntes Gesicht, weit weg vom Land – wie paßte das alles zusammen?

Er sah, wie das Segel sich bauschte, spürte, wie die „Isabella“ mehr Fahrt aufnahm und blickte dann zur Kimm hinüber, hinter der südamerikanisches Land lag. Er beschloß in diesem Augenblick, dichter an Land zu segeln, ein paar Meilen wenigstens, so daß man den Küstenstrich gerade noch sah.

„Übergebt ihn der See“, sagte er leise, „aber beschwert ihn vorher mit einer Eisenkugel oder etwas anderem.“

Carberry nickte. Sein Gesicht, narbig mit vorgeschobenem Kinn, wirkte ausdruckslos. Der Profos schien in sich hineinzuhorchen, dann drehte er sich um und gab Smoky und Bob Grey einen Wink.

„Über Bord mit ihm!“ befahl er knapp. „Und vergeßt nicht, ihm eine Kugel ans Bein zu hängen!“

Tucker schnitt ein kurzes Stück Tau ab, schlang es kunstvoll um die Kugel und verband das andere Ende mit dem Bein des toten Spaniers. Zu dritt hoben sie ihn über Bord.

Das verbrannte Gesicht des Spaniers war das letzte, was sie von ihm sahen, als er senkrecht auf Tiefe ging. Dann hatte die See ihn verschlungen.

Auf dem Achterkastell lehnte Hasard an der Five Rail und sah zu, wie der Rudergänger in die Speichen griff, um die „Isabella“ näher an die Küste heranzubringen.

„Was hältst du davon, Ben?“ fragte der Seewolf.

„Tut mir leid, Hasard, ich habe nicht die geringste Erklärung dafür. Ich vermute, daß sie ihn auf irgendeine grausame Art und Weise gefoltert haben.“

„Die Dons? Dann hätten sie ihm wahrscheinlich vorher die Uniform ausgezogen.“

„Es war nur eine Vermutung“, sagte Ben.

„Natürlich. Vergessen wir den Vorfall. Sag Ferris, er soll nachher noch einmal den Kettenbolzen der Ruderanlage überprüfen, ich möchte keine unangenehmen Überraschungen erleben.“

Tucker war schon ein paar Minuten später an der Arbeit. Ja, der Kettenbolzen hatte es immer noch in sich, dachte er. Schon dreimal war er gebrochen und hatte Schiff und Mannschaft in bedrohliche Situationen gebracht. So schön und bequem die Ruderanlage anstelle eines Kolderstocks auch war, aber sie hatte das, was man als Kinderkrankheit bezeichnete. Von Zeit zu Zeit mußte der Bolzen ausgewechselt werden, er scheuerte durch und brach meist dann, wenn man sich in einer schwierigen Situation befand.

Diesmal war er in Ordnung, wie der Schiffszimmermann feststellte. Er würde eine ganze Weile halten.

Die „Isabella“ segelte weiter mit Backbordhalsen, bis sie zu der Zeit, die Hasard vorausgesagt hatte, das Mündungsdelta des Rio de la Plate erreichte.

Es war kurz nach Mittag. Die Hitze war erträglich, abgemildert durch die frische Atlantikbrise ließ sie sich angenehm ertragen.

Auf Steuerbord dehnte sich hügeliges Land aus, soweit das Auge sah. Nur dem Schiffsjungen Bill schien es, als beschriebe der Atlantik hier einen gewaltigen Knick. Die Wassermassen schienen seiner Ansicht nach rechts abzubiegen, und er fragte sich insgeheim immer wieder, ob man nicht doch mehr nach Steuerbord segeln müßte, wenn man auf dem richtigen Kurs bleiben wollte.

Er enterte zu Dan in den Großmars auf, doch auf halber Höhe blieb er reglos in den Webleinen der Wanten hängen. Sein schmächtiger Körper versteifte sich.

„Auslegerboote!“ rief Dan aus seiner luftigen Höhe an Deck. „Sie halten auf die gegenüberliegende Küste zu. Mindestens fünfzig Boote sind es!“

2.

Es war ein riesiger Pulk, der sich von der Küste löste und mit stark geblähten kleinen Segeln eilig einer anderen Küstenregion zustrebte.

Hasard konnte den Pulk bereits ohne Spektiv deutlich sehen. Auf dem Wasser spiegelten sich die Sonnenstrahlen. Er kniff die Augen zusammen und legte die Hand an die Stirn, an jene Stelle, von der eine langgezogene dünne Narbe bis zur Wange verlief. Merkwürdig, aber er glaubte, die Narbe schmerze heute etwas, doch das war vielleicht nur Einbildung.

„Fünfzig?“ sagte er leise. „Das werden ja immer mehr. Dort scheint ein ganzer Indianerstamm zu flüchten. Aber was veranlaßt sie zu dieser überstürzten Flucht?“

Die Indianer erweckten ganz den Eindruck, als wären sie tatsächlich auf der Flucht. In den Auslegerbooten hockten Männer, Frauen und kleine Kinder.

Bei ihrem hastigen Aufbruch hatten sie der offenen See nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Doch jetzt entdeckten sie die Galeone, und wie auf ein Zauberwort drehten die Boote ab, diesmal noch eiliger als zuvor.

Hasard griff nun doch nach dem Spektiv und sah hindurch. In den Booten standen Männer, schwarzhaarige Burschen, die nur Lendenschurze trugen und auch nicht tätowiert oder gezeichnet waren.

Immer wieder deuteten sie auf die „Isabella“, brüllten sich etwas zu und zogen Hals über Kopf davon.

Ein sinnender Ausdruck trat in Hasards Augen. Er ließ den Kurs noch ein wenig weiter nach Steuerbord ändern, bis die „Isabella“, näher zur Küste auflief.

Das kleine Manöver bewirkte weiter drüben fast panikartige Zustände. Die Auslegerboote luvten hart an, gingen dann auf Kollisionskurs zur „Isabella“ und fielen ganz überraschend wieder ab.

„Was, zum Teufel, ist denn in diese Burschen gefahren?“ fragte Ben Brighton entgeistert. „Die benehmen sich ja geradezu, als wollten wir ihnen die Hälse durchschneiden.“

Das war das Stichwort für den Seewolf.

„Offensichtlich halten sie uns für Spanier“, sagte er. „Und höchstwahrscheinlich sind sie vor den Dons gerade auf der Flucht. Jetzt benehmen sie sich, als hätten wir sie eingekreist. Sie wissen nicht mehr, wohin sie segeln sollen.“

Das, was für wenige Augenblicke fast wie ein Angriff von seiten der Indianer ausgesehen hatte, erwies sich als nichts anderes als ein Täuschungsmanöver, durch das die Eingeborenen ihren vermeintlichen Häschern zu entwischen gedachten.

Nein, sie waren auf der Flucht, entschied Hasard. Alles deutete darauf hin, ihr ganzes Verhalten, ihre Panik, die Angst, Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen.

Hier, am Rio de la Plata, wimmelte es von Dons, hier hatten sie ihre Nester, Kaffs, Stützpunkte und Siedlungen. Hier raubten sie, plünderten, sammelten Schätze für die spanische Krone und zwangen den Eingeborenen das Christentum auf, das sie gar nicht wollten. In dieser Ecke hatten sich die Spanier wie hartnäckige Zecken eingenistet, und die meisten Ansiedlungen trugen spanische Namen.

Hasard rang sich zu einem Entschluß durch. Er kämpfte lange mit sich selbst und befand sich in einem Zwiespalt der Gefühle.

Einerseits war da die lange Reise, die vor ihnen lag, und die nun schon sooft unterbrochen worden war. Er wollte in den Pazifik segeln, jenem geheimnisvollen Land entgegen aus dem Siri-Tong stammte, dem fernen Land, das ihn immer stärker faszinierte und in seinen Bann zog.

Andererseits gab es hier einen ganzen Stamm verängstigter Eingeborener, die sich auf der Flucht befanden und für die die Spanier eine tödliche Gefahr darstellten.

Sollte er sich überhaupt nicht um sie kümmern und sie ihrem ungewissen Schicksal überlassen?

Der Seewolf dachte in weiten Räumen und malte sich in Gedanken die Zukunft derer aus, die unter dem spanischen Terror zwangsläufig zugrunde gehen würden, die langsam, aber sicher durch die goldhungrigen Dons ihren Lebensraum verloren, und die es eines fernen Tages nicht mehr geben würde.

Sein Gesicht sah merkwürdig hart und verschlossen aus, als er sich dem Rudergänger zuwandte.

Gary Andrews sah den Blick und zuckte unwillkürlich zusammen. Er hat Eis in den Augen, dachte er. Blaues Eis wie jenes, das es weiter südlich als große blaue Berge gab, Kälte, die einen unwillkürlich frösteln ließ.

„Sir?“ fragte er schluckend, obwohl Hasard noch kein einziges Wort gesagt hatte.

Der Wind hatte leicht gedreht. Nur um ein paar Grad war er umgesprungen, aber Hasard wußte, daß er noch weiter drehen würde. Hier, an der Mündung des Silberstromes, geschah das häufig.

„Wir gehen auf den anderen Bug“, entschied der Seewolf. „Halte dich zum Wenden bereit, Gary.“

„Aye, aye, Sir!“

Auf dem Vordeck stand der Profos. Sein gewaltiges Rammkinn war vorgeschoben, die Hände hatte er in die Hüften gestemmt, und so stand er breitbeinig da, lauernd, weil er wußte, daß sich gleich etwas ändern würde. Carberry hatte dafür einen Riecher, er roch es an der Sonne, am Wind und dem salzigen Wasser, lange bevor sich etwas tat.

Auch die anderen spürten es. Seit der Wind leicht gedreht hatte, war noch kein Kommando erklungen, das die Männer an die Schoten und Brassen gescheucht hätte. Und weil der Wind noch weiter drehen würde, war dieses Kommando unausweichlich.

 

In dem Gesicht Big Old Shanes wetterleuchtete es. Der graubärtige Schmied von Arwenack wußte, was der Seewolf plante, er hätte es genauso getan.

Die Erwartung, die plötzlich in den Gesichtern der Seewölfe stand, wurde erfüllt.

„Klar zum Wenden auf den anderen Bug, Profos!“ klang die Stimme des Seewolfs über Deck.

Carberry rieb sich die mächtigen Hände. Er grinste erfreut.

„So, ihr Rübenschweine“, sagte er laut. „Jetzt gibt’s Abwechslung. Ich will eine Wende sehen, die später in die Geschichte eingeht, was, wie? Ihr seid schon viel zu lange auf Steuerbordbug gesegelt, da werden die Knochen faul, und der Kalk rieselt durch die Gebeine.“

Und dann ging es los. Carberry war wieder einmal in seinem Element.

„Brassen klar zum Laufen!“ brüllte er mit einer Stimme, die auch dem letzten Mann die Müdigkeit aus den Knochen trieb. „Luv an zum Wenden, Gary! Langsam zwölf Strich durch den Wind abfallen. Batuti, Blacky, Sten! Seid ihr lausigen Sägefische noch immer nicht dabei, den Besan mitschiffs zu holen, was, wie? Wie sollen wir dann achtern mehr Druck kriegen, ihr Läuseknacker!“

Er sah in fröhliche grinsende Gesichter, doch das trieb ihn nur noch mehr an, obwohl er genau wußte, daß jeder Mann jeden einzelnen Handgriff im Schlaf beherrschte.

„Matt und Jeff, ihr Heringe! Hoffentlich fiert ihr die Vorschoten auf der Back endlich. Und was ist mit euch, Sam und Luke? Weshalb kriegen die Fockbrassen so spät Lose, he?“

Die „Isabella“ ging durch den Wind langsam auf den anderen Bug. Die Männer schufteten, nicht nach Carberrys Gebrüll, sondern weil sie es so gelernt hatten. Des Profos’ Geschrei war nur die Begleitmusik zu ihrer Arbeit.

Carberrys Augen waren überall. Er lauerte darauf, einen der Männer bei einem falschen Handgriff zu erwischen, doch zu seinem Bedauern gab es das nicht. Also motzte er weiter, um wenigstens den Anschein zu wahren.

„Ruder in Lee!“ schrie er weiter. „Du fällst viel zu langsam ab, Gary, zwölf Strich sind hundertfünfunddreißig Grad, falls du das vergessen hast! Bist du endlich achtern rund?“

Nach achtern rund schwenkten die Achtertoppen von selbst herum. Die Brassen wurden blitzschnell durchgeholt, der Besan abgefiert.

„Rund vorn!“ schrie Smoky, der Decksälteste, dem Profos zu.

Carberrys Gesicht war grimmig verzogen.

„Wurde auch verdammt Zeit! Die Vorrahen könnten längst gegen den Wind geholt sein!“

Sie wurden schon durch den Wind geholt, wie er feststellen mußte. Und er sah auch, daß die „Isabella“ gehorsam über Steuer ging, als Gary das Ruder immer mehr umlegte. Verdammt, da hatte er ja bald nichts mehr zu sagen.

„Das geht alles viel zu langsam!“ schrie er zu Hasards großer Belustigung. „Bring das Schiff doch endlich auf den neuen Bug, Gary, und glotz nicht so dämlich durch die Gegend!“

„Wir steuern schon längst beim Wind!“ brüllte der Rudergänger zurück. „Der weht dir bereits von der anderen Seite um die Ohren, du Stint! Wir sind rund!“

„Und Nagelbank alles klariert“, sagte der Gambianeger Batuti mit grinsendem Gesicht. „Braucht Profos nicht groß Maul zu haben!“

„Bei euch muß man doch brüllen, ihr Stockfische! Früher hat das Manöver keine zehn Sekunden gedauert, da wußte jeder genau was er zu tun hatte.“

„Früher bist du ja auch auf einem Einbaum gefahren“, sagte Matt Davies, der einen anerkennenden Blick des Seewolfs aufgefangen hatte.

Carberry verzichtete auf eine Antwort. Oh, er war mit diesen Höllenhunden schon zufrieden, die es verstanden, den Segler im Schlaf auf den anderen Bug zu bringen. Aber sollte man den Kerlen das noch erzählen? Die kriegten dann vor lauter Stolz noch größenwahnsinnige Anfälle.

Jetzt segelte die „Isabella“ über Backbordbug. Der Wind fiel von der Steuerbordseite ein, und da wurde auch dem Begriffsstutzigsten unter ihnen klar, daß die „Isabella“ mit Kurs auf den Rio de la Plata segelte.

Hasard sah in Gesichter, die heute zum zweitenmal erwartungsvolle Vorfreude ausdrückten.

„Wir nachsehen, Hasard, warum Männer fortsegeln?“ fragte Batuti erfreut. Sein abgespreizter Daumen wies auf die Auslegerboote, die sich noch weiter entfernt hatten.

„Ja, wir werden nachsehen, Batuti. Es besteht die Möglichkeit, daß wir im Delta auf Spanier stoßen, die sich hier an der Küste breitgemacht haben. Wenn sie es sind, vor denen die Indianer voller Panik flüchten, dann werden wir die Dons ein wenig ärgern.“

Carberry, Ben und ein paar andere, die aus nächster Nähe zugehört hatten, nickten begeistert. Das war wieder mal ganz nach ihrem Geschmack.

„Damit uns keine unliebsamen Überraschungen bevorstehen“, ergänzte der Seewolf, „werden wir das Schiff ab sofort in einwandfreien Gefechtszustand versetzen. Muß ich noch mehr sagen?“

Das war wirklich nicht nötig. Noch bevor der ranke Rahsegler auch nur eine Kabellänge weiter war, begann an Deck eine emsige Tätigkeit zu herrschen.

Die Dons würden die Seewölfe nicht überrumpeln, Hasards Crew lief nicht blindlings einem ungewissen Schicksal entgegen. Da mußte alles stimmen, da war man immer auf der Hut, das hatte die langjährige Erfahrung bitter gelehrt.

Vorsichtshalber wurde Sand auf Deck bereitgestellt. Der Kutscher brachte Messingbecken mit glühender Holzkohle aus der Kombüse, Al Conroy inspizierte die Culverinen, legte Lunten bereit und der Moses Bill schleppte Pulver an Deck.

Am späten Nachmittag war ihnen immer noch kein einziger Don begegnet, doch dafür sahen sie ein paar kleinere Nester, in denen Eingeborene hausten.

Ein weiteres Kaff schien ausgestorben zu sein, und gerade hier erlebte Hasard die größte Überraschung.

Das Kaff bestand nur aus ein paar verlassenen Hütten, niemand ließ sich blicken, alles war still und ruhig.

„Wir gehen hier vor Anker“, entschied der Seewolf. „Ein zweites Mal soll es mir nicht mehr passieren, daß wir auf eine Sandbank laufen, nur weil wir den Fluß und seine Tücken nicht genau kennen.“

Dabei dachte er an die Fahrt im Amazonas, wo tückische Sand- und Schlammbänke der „Isabella“ beinahe zum Verhängnis geworden wären.

In einer ruhigen kleinen Bucht fiel der Anker. Hier wollten sie die Nacht abwarten, aber es kam ganz anders.

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