Rhöner Nebel

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Rhöner Nebel
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Friederike Schmöe

Rhöner Nebel

Kriminalroman


Zum Buch

Es ist nie vorbei Anja Riedeisen bittet Privatdetektivin Katinka Palfy um Hilfe: Sie ist zu einer Feier in dem Internat in der Rhön eingeladen, wo sie vor 30 Jahren ein freiwilliges soziales Jahr ableistete. Eine der Nonnen, die damals auch dort Dienst taten, feiert ihren 80. Geburtstag. Aber aus unerklärlichen Gründen fürchtet sich Anja vor der Begegnung mit ehemaligen Kollegen, Schülern und ihrer ersten großen Liebe. Katinka soll sie als Beschützerin – offiziell „als Freundin“ – begleiten.

Vor Ort überwältigen Anja die alten Erinnerungen an den Suizid ihrer Freundin Kirsten. Erst jetzt kann Anja sich eingestehen, dass sie nie an Selbstmord glaubte. Katinka Palfy beginnt zu ermitteln. Was haben der frühere Zivildienstleistende Tobias, der Kirstens Freund war, und die anderen ehemaligen Angestellten zu verbergen?

Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. In ihrer Schreibwerkstatt in der Weltkulturerbestadt Bamberg verfasst sie seit 2000 Kriminalromane und Kurzgeschichten, gibt Kreativitätskurse für Kinder und Erwachsene und veranstaltet Literaturevents, auf denen sie in Begleitung von Musikern aus ihren Werken liest. Ihr literarisches Universum umfasst u. a. die Krimireihen um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde.

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Matthias / stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6300-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

ein Albertus-Magnus-Internat hat es meines Wissens in der Rhön nie gegeben. Falls doch, dann ist die in diesem Buch erwähnte pädagogische Anstalt eine gänzlich andere. Alle Figuren, Klarnamen, Decknamen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten Sie Ähnlichkeiten mit realen Personen feststellen, selbst wenn diese auffällige Autos fahren, spielt Ihnen vermutlich gerade Ihr eigener Kopf einen Streich. Die hier geschilderte Zeitgeschichte allerdings spiegelt die »echten« späten 1980er-Jahre in der oberfränkischen Provinz wider, ihr Lebensgefühl, ihre Nischen und die sich Stück für Stück herbeischleichende Aufbruchsstimmung. Und natürlich reflektiert die Handlung auch das, was mehr als 30 Jahre später aus der Region geworden ist.

Friederike Schmöe

*

9.1.1988

1.

Die Provinzoberin ließ Schwester Gertrudis warten.

Gertrudis ging im Flur auf und ab, weniger aus Nervosität als wegen der Kälte, die ihr die Beine hochkroch. Unter dem Rock trug sie dicke Strumpfhosen; ihre Stiefel waren mit Fell gefüttert und die Strickjacke, ein Weihnachtsgeschenk von Romana, wärmte zusätzlich. Trotzdem fröstelte sie. Das Mutterhaus in Würzburg war ein alter Kasten, renovierungsbedürftig. Schaudernd dachte sie an die Zeit, die sie hier verbracht hatte, bevor sie vor fünf Jahren ins Internat in die Rhön versetzt worden war.

Vor dem Neuanfang dort oben hatte sie sich gefürchtet. Doch die Rhön mochte rau sein und eisig, stets vom Wind umtost und auf den ersten Blick wenig anheimelnd, Gertrudis hatte sich schnell eingewöhnt. Zudem waren die Fenster gerade erst ausgetauscht worden, sie selbst als Direktorin des Internats und Hausoberin hatte das veranlasst, und sogar in einem harten Winter wie diesem hatten sie und ihre Mitschwestern es warm und gemütlich. Es zog nicht, und aus dem Wasserhahn kam heißes Wasser, das hatte sie für das ganze Internat durchgesetzt. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, doch im Mutterhaus konnte man davon nur träumen. Der Provinzleitung waren die Hände gebunden, selbst wenn eine von außen auferlegte Askese niemandem mehr zeitgemäß vorkam. Nein, Gertrudis kannte das Problem, das hinter der zunehmenden Verwahrlosung steckte: Geldmangel. Eine neue Heizung für das riesige Gebäude? Unerschwinglich. Moderne Fenster? Nicht dran zu denken.

Auch im Internat brauchte sie eine Strategie. Die Bäder für die Schüler waren vorsintflutlich. Bei der Besichtigung zum Ende des Schuljahres, wenn noch unentschlossene Eltern in die Eingeweide ihrer katholischen Erziehungsanstalt blickten, schämte Gertrudis sich jedes Mal für die grau gekachelten Badezimmer.

Die Tür öffnete sich.

»Gertrudis, entschuldige, dass du warten musstest. Ich wurde am Telefon aufgehalten!« Die Provinzoberin zog Gertrudis an sich und deutete einen Wangenkuss an. Sie war eine grobknochige, kräftig gebaute Frau. Eine Bohnenstange wie Gertrudis ertrank fast in dieser Umarmung.

»Nicht der Rede wert.«

»Wir müssen über so vieles sprechen. Tee?«

»Gern.« Gertrudis wurde ins Zimmer geschoben. Ihr stand der Sinn nicht nach Tee, im Mutterhaus wurde entweder Hagebutte oder die Hauskräutermischung gereicht, beides hatte sie so gut wie ein Leben lang schlucken müssen. Sie verbiss sich ein Lächeln, das Wortspiel sagte so viel aus. Aber Gertrudis würde sich hüten, die Provinzoberin durch eine Ablehnung zu reizen. Schließlich ging es um etwas. Irgendwo im Stock über ihnen klingelte ein Telefon.

»Hausmischung?«

»Ja, natürlich!«

Die Provinzoberin lächelte breit. Sie war frisch gewählt und stürzte sich voller Energie in jede noch so kleine Einzelheit ihrer Leitungsfunktion. Selbst wenn es nur darum ging, Tee einzugießen, wirkte sie dabei, als unternähme sie einen ausgeklügelten diplomatischen Schachzug. Nun wurde Gertrudis doch nervös.

Die Oberin ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder. Ein hölzernes Ungetüm, ein Erbstück, wie so viele Möbel hier. Jemand hatte sein Erbe dem Orden gespendet. Wohin mit all den alten Dingen?

»Berichte. Wie geht es euch da oben im Gebirge?«

Gertrudis hatte sich alles zurechtgelegt. Mit Zahlen konnte sie. Das Internat trug sich, noch, wurde großzügig vom bayerischen Staat unterstützt. Schließlich bot es Jugendlichen in einer strukturschwachen Region die Möglichkeit, eine weiterführende Schule zu besuchen, mit zusätzlicher Betreuung sowie Sportangeboten, und darüber hinaus hatten sie ja seit zwei Jahren diesen Sonderzweig. Der kostete extra, wobei die Eltern der dort lernenden Schüler mehr als bereit waren, für die zusätzlichen Dienstleistungen zu zahlen.

»Wie geht es euren Versagern?«, kam die Provinzoberin zum Punkt.

»Den Begriff mag ich nicht so sehr«, konterte Gertrudis.

»Ich verstehe. Es handelt sich um Jugendliche, die einfach Pech hatten.«

»Nicht unbedingt Pech. Manchmal ist es eine Verkettung vieler ungünstiger Umstände, die dazu führen, dass sie ihre Schulkarriere abbrechen, in die Sucht rutschen, von zu Hause weglaufen.« Gertrudis nippte an ihrer Tasse. Der gleiche, grasige Geschmack, den sie seit ihrem Noviziat vor beinahe 40 Jahren kannte. Ihr Magen krampfte sich empört zusammen. Sie ignorierte ihn, genauso wie den leidenden Blick des Gekreuzigten an der Wand hinter dem Schreibtisch.

»Ich bekomme ab und zu Anfragen von Reportern. Alles Mögliche wollen sie über euch wissen. Die entsprechenden Zeitungsausschnitte habe ich dir zugeschickt.« Die Provinzoberin lehnte sich zurück, strahlend vor Stolz.

»Die positive Resonanz freut uns. Das Konzept funktioniert. Die allermeisten Jugendlichen begreifen unser Internat und die Sonderförderung als ihre letzte Chance. Sie arbeiten mit. Das ist die Grundvoraussetzung.«

»Wohl wahr. Und die Bilanz?«

Gertrudis überlegte blitzschnell. Zum Ende des vergangenen Schuljahres war das Geld knapp geworden.

»Romana hat mir erzählt, dass die Spendensituation sich gebessert hat«, fügte die Provinzoberin hinzu.

Gertrudis wurde blass. Ihre Mitschwester Romana fungierte als ihre Stellvertreterin. Die Chemie zwischen ihnen stimmte nicht. Zudem war Romana knapp zehn Jahre jünger, energiegeladen, robust und ehrgeizig. Sie würde liebend gern die Internatsleitung übernehmen. Probleme, die Gertrudis nicht schlafen ließen, stachelten Romana nur an, unkonventionelle Lösungen zu erarbeiten.

»Wir haben einen Vater, dessen Sohn Schulprobleme hatte und der von der Extrabetreuung profitiert. Ein Industrieller. Er spendet großzügig.«

 

Die Provinzoberin legte die Fingerspitzen aneinander. »Meine Liebe. Spenden sind gut. Leider sind sie nicht vorauszusehen. Ich brauche die Gewissheit, dass wir es mit den regulären Einnahmen schaffen.«

Wenn die Provinzoberin von Romana geimpft worden war, und ihr Hinweis auf die Spenden ließ keine anderen Rückschlüsse zu, war sie vielleicht mit den Zahlen besser vertraut, als sie durchblicken ließ. Gertrudis entschied sich, ehrlich zu sein.

»Selbstverständlich kosten die zusätzlichen Pädagogen Geld. Anders können wir jedoch die spezielle Förderung der Jugendlichen, die Schulprobleme haben, nicht leisten. Des Weiteren behelfen wir uns mit Referendaren, die keine Stelle im regulären Schuldienst bekommen haben. Sie übernehmen Stunden bei uns.«

Wieder das Telefon. Irgendwo über ihr.

»Nachhilfe.«

»Man kann es so nennen. Im Kern geht es um die individuellen Lerndefizite der Schüler. Die müssen aufgefangen werden. Außerdem helfen uns die Mädchen, die bei uns ihr freiwilliges soziales Jahr ableisten.« Gertrudis räusperte sich. »Womöglich können wir in dem Rahmen eine weitere Stelle einrichten. Dieser Förderzweig ist unsere einzige Chance, wenn wir auf lange Sicht bestehen wollen.«

Es war heraus. Gertrudis würde die Worte nie zurücknehmen können.

Ein Windstoß fuhr gegen das Fenster. Grau hockte der Himmel auf den Dächern Würzburgs. In der Rhön würde es weiterschneien. Zeit, an den Aufbruch zu denken, wenn sie nicht im Dunkeln zu Hause ankommen wollte.

»Könnt ihr die Kosten drücken?«

»Da wäre auch noch unser Zivi …«

»Versteh mich nicht falsch. Ich möchte bei diesem Förderprojekt bleiben. Ich halte es für zukunftsfähig, wirklich! Wann immer ich kann, weise ich auf das Albertus-Magnus-Internat hin. Demnächst geht ein Informationsbrief an die Schulbehörden in Bayern und Hessen raus. Werbung ist alles. Nicht kleckern, klotzen. Eventuell können wir bei den Ministerien auf höhere Zuschüsse pochen.« Sie lachte laut und herzlich, während in ihrem Rücken das Fenster im Wind klapperte. »Du machst gute Arbeit, Gertrudis. Denk bitte daran: Spenden helfen, wenn es mal knapp wird. Doch hauptsächlich müssen die Einnahmen von den Beiträgen der Eltern und den staatlichen Mitteln kommen. Ich möchte nicht von einer Person abhängig werden. Das verstehst du sicher?«

Gertrudis nickte und murmelte ein paar Floskeln. Dieses Gespräch lief trotz allem nicht auf ein Desaster zu, wie sie zuvor gefürchtet hatte.

»Damit du dich vollständig auf das Internat konzentrieren kannst, möchte ich dir eine Belastung abnehmen. Ab Februar übernimmt Schwester Romana das Administrative. Du legst all dein Gewicht in die pädagogische Arbeit.«

Darauf lief es hinaus! Ein Schauder rann Gertrudis über den Rücken. Unwillkürlich kreuzte sie die Arme vor der Brust, als müsse sie sich vor einem Faustschlag schützen. Um Pädagogik ging es in ihrem Amt gerade nicht! Eher um Betriebswirtschaft.

»Ich …«

»Keine Widerrede. In unserem Alter müssen wir mit unseren Kräften haushalten. Leider sieht die Nachwuchssituation unseres Ordens, du entschuldigst die Wortwahl, hundsmiserabel aus. Wenn der Herr keine Wunder geschehen lässt, bleiben irgendwann nur wir Alten übrig. Noch Tee?«

Sie sondert mich aus, dachte Gertrudis, während sie mechanisch ihre Tasse hochhielt und sich die grasige Brühe einschenken ließ. Langsam, aber sicher. Und Romana rückt immer näher. Bis sie mich ausgestochen hat. Bloß wegen ihres Förderers mit den Goldhosen. Unversehens brach ihr der Schweiß aus.

Sie musste aufpassen.

*

18.5.2018

2.

Privatdetektivin Katinka Palfy hatte kein Problem mit mysteriösen Persönlichkeiten. Im Prinzip fand sie undurchschaubare Menschen sogar interessanter als jene, in denen sie lesen konnte wie in einem offenen Buch. Dass allerdings ihre neue Klientin Anja Riedeisen, 51, sich davor fürchtete, bei einer Geburtstagsfeier ihre einstige Jugendliebe wiederzutreffen, und deshalb eine Personenschützerin dabeihaben wollte, hielt sie für unverhältnismäßig. Natürlich ging es bei diesem neuen Auftrag um etwas anderes als 30 Jahre alte romantische Gefühle. Wenngleich Anja Riedeisen dazu noch nicht viel gesagt hatte.

Katinka steuerte ihren italienischen Kleinwagen, gutmütig »der Italiener« genannt, die Höhenzüge der Rhön hinauf. Von Bamberg, wo sie lebte und üblicherweise auch arbeitete, keine weite Reise.

»Damals ging hier eine der am schärfsten bewachten Grenzen der Welt durch«, ließ sich Anja vernehmen.

»Damals.«

»Sie müssen verstehen. Diese Fahrt ist der reinste Flashback für mich! Seinerzeit«, sie lachte verlegen, »lag dort rechts Thüringen und dort links Bayern. Unser Internat befand sich ganze fünf Kilometer von der sogenannten Ostzone entfernt. Zu Beginn des Schuljahres bekamen wir Ermahnungen, uns nicht zu nah an die Grenze zu bewegen.«

»Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, Ihr freiwilliges soziales Jahr an so einem abgelegenen Ort zu machen?«, fragte Katinka aus echter Neugier. Das Kürzel FSJ war ihr nicht gänzlich unvertraut. Doch so etwas wie eine Grenze gab es nicht mehr. 30 Jahre waren eine lange Zeit, fand Katinka. Die Welt hatte sich in der Zwischenzeit Pi mal Daumen 262.800 Mal um die eigene Achse gedreht.

Der Landschaft der Rhön hatte die Zeit bislang nichts anhaben können. Stoisch, schroff, abwartend wirkten die geduckten Sträucher am Feldrand. Ab und zu drückte eine Windbö den Wagen zur Seite.

»Ich bin in Fulda aufgewachsen. Katholisch konservativ. Wollte Lehrerin werden, auf keinen Fall Wirtschaft studieren, sonst hätte mein Vater mich vollkommen vereinnahmt.«

»Warum?«

»Er besitzt eine Papierfabrik. Alles stellt er her, von Geschenkpapier über Fotopapier bis Grußkarten. Wäre ich ein Sohn gewesen, hätte er mich vermutlich gezwungen, in die Firma einzusteigen. Als ich mit meinem Studienwunsch rausrückte, kriegte er zu viel. Ich ließ mich von seinen Wutanfällen und Bestechungsversuchen nicht davon abhalten, hatte Informationen von verschiedenen Universitäten angefordert. Am liebsten wollte ich nach Passau, weit weg von den Eltern. Als er mitbekam, wie ernst es mir war, gab er sich kompromissbereit. Ich sollte ruhig erst mal ein Praktikum machen, ich würde schon sehen, dass Lehramt nichts für mich ist.«

»Da hat er sich wohl getäuscht!«

»Richtig. Ich bin doch Lehrerin geworden. Das freiwillige Jahr im Internat hat mir sehr gut gefallen. Danach bekam ich einen Studienplatz und später eine Anstellung im Gymnasium in Bamberg. Meine Wunschstadt übrigens! Was will man mehr.«

Katinka setzte den Blinker, folgte den Wegweisern. Rund um die schmalen Straßen ragten die dunklen Gipfel der Rhön auf. In der Ferne konnte man die Wasserkuppe ahnen mit der markanten Radarkuppel. Ein paar Wolken zogen sich dort zusammen. Ansonsten war der Himmel blitzblau. Mai eben.

»Aber warum hier oben?«

»Wegen der ganzen Zankerei mit den Eltern hatte ich mich recht spät beworben. Eigentlich wäre ich lieber weiter weggegangen, so wurde es die Rhön. Sehr viel mehr Stellen waren nicht mehr frei.«

»Ein Pflaster für Eisenbereifte.«

»So schlimm ist es nicht«, lachte Anja Riedeisen. »Alles war ja neu für mich. Ich hatte eine Menge Ablenkung und kam kaum zum Grübeln. Die Tage vergingen wie im Flug. Das Albertus-Magnus-Internat hatte zwei Jahre zuvor einen zusätzlichen Zweig eingerichtet. Extraförderung für Schulabbrecher, die es noch einmal probieren wollten.«

»Und da haben Sie sich verliebt?«

»In Martin Süderbeck. Kindisch, dennoch eine prägende Beziehung. Er hatte zwei Schlamperjahre hinter sich und wurde erst im Alter von 18 einsichtig. Plötzlich wollte er doch das Abitur machen. Er war schon älter als ich. Meine Schulkarriere hingegen war eine Brave-Mädchen-Chronik: schnurstracks zum Ziel.«

Katinka grinste. »Was nichts heißt.« Sie ließ den Blick schweifen. Außer dem einen oder anderen Motorrad, dessen Fahrer das Frühlingswetter genoss, waren sie allein auf der Straße. »Wie verhielt sich eigentlich Ihre Mutter zu Ihrer Idee, ein Jahr in der Rhön pädagogisch tätig zu sein?«

»Sie stand immer auf der Seite meines Vaters.« Anja seufzte. »Heißt so viel wie: Sie war dagegen. Was soll ich sagen: Ich habe mich durchgesetzt. Die Zeit hier oben tat mir gut. Endlich weg von der Enge der Familie konnte ich herausfinden, was sonst außer Gehorsam und stillem Groll in mir steckte. Ich war glücklich hier auf den windumwehten Höhenzügen, mit dem Ballast der deutschen Nachkriegsgeschichte im Rücken. Irgendwie nahm man das alles sowieso einfach hin. Die Grenze wurde schnell zur Normalität. Wir arrangierten uns damit, dass Thüringen, in das wir von der nächstgelegenen Anhöhe rüberschauen konnten, unerreichbar blieb. Wir riefen Freunde in den USA an, aber niemanden ein paar Kilometer weiter. Wir kannten da keinen. Seltsam. Einem Jugendlichen von heute kann man das nicht mehr nahebringen.«

»Es gab keine Handys. Telefonieren war teuer.«

»Und das Telefon stand an der zugigsten Stelle im Haus! Damit man sich kurzfasste.«

Ein Trupp Radfahrer in aerodynamischem Outfit rauschte ihnen entgegen, sich gegen den Wind stemmend.

»Kirsten und ich sind auch immer mit dem Rad unterwegs gewesen.« Anja deutete auf die Sportler. »Bei Wind und Wetter. Sogar im Winter.«

»Kirsten?«

Es blieb eine Weile still. »Meine Freundin. Die zweite FSJ-lerin im Internat. Wir verstanden uns super. Von Anfang an.«

Irgendetwas schwang da noch mit, fand Katinka. Trotzdem unterließ sie es nachzuhaken. Ihr Auftrag bestand darin, bei der bevorstehenden Geburtstagsfeier einer der Ordensschwestern, die vor 30 Jahren das Haus geführt hatten, Anja als vermeintliche »Freundin« zu begleiten. Anja war geschieden, ein anderer Mann als Begleitperson nicht in Sicht. Alleine zu fahren, kam ihr ebenso wenig angemessen vor. Es ging um Samstag und Sonntag in der Rhön. Das war alles. Für Katinka eine willkommene Abwechslung zu diversen anderen Aufträgen.

»Erzählen Sie mir mehr über die Nonnen«, bat Katinka. Besser, sie besann sich auf das Naheliegende. Zumal sich in ihrer Beziehung zu Hardo in der letzten Zeit ein Misston eingeschlichen hatte. Was Katinka auf eine vermurkste Ermittlung zurückführte, die bei der Bamberger Polizei für handfesten Ärger gesorgt hatte. Jemand hatte seine Kompetenzen überschritten, und ihr Lebensgefährte Harduin Uttenreuther musste den Schlamassel ausbaden. Ihr ging allmählich die Geduld aus, um seine Launen und sein rüffeliges Gehabe zu ertragen.

»Schwester Romana war stellvertretende Leiterin. Eine temperamentvolle Person voller Tatendrang. Mit ihr führte ich mein Bewerbungsgespräch. Himmel, war ich nervös! Trotz katholischer Sozialisation hatte ich zum ersten Mal mit Nonnen zu tun. Dann war da Schwester Gertrudis, die Direktorin, verantwortlich für das pädagogische Konzept. Äußerlich war sie das ganze Gegenteil von Romana. Außerdem gehörten eine Küchenschwester und eine Erzieherin dazu. Außer Kirsten, mir und den Hauptamtlichen gab es noch einen Zivi. Tobias. Ob er auch kommt?«, murmelte sie, mehr zu sich selbst.

Katinka nahm Tempo weg. Rechts am Weg stemmte sich eine Kapelle aus Sandstein gegen den Himmel, wuchtig, wehrhaft. Dahinter blühte ein Holunderstrauch, silbern glänzend vor dem stahlblauen Himmel. Die harsche Landschaft machte es einem bei diesem traumhaften Frühlingswetter leicht, in Bewunderung auszubrechen.

Den Wagen, der über die Hügelkuppe auf sie zuschoss, sah sie beinahe zu spät. Sie wandte ihren Blick erst wieder der Straße zu, als sie Anjas lautes Schreien hörte. Riss das Steuer herum. Gab Lichthupe.

»Verdammt, ist der meschugge?« Sie lenkte den Italiener ganz nach rechts, spürte groben Untergrund unter den Reifen. Das Steuerrad umklammernd hielt sie die Spur.

Der Sportwagen, ein superflaches, schwarzes Modell, röhrte vorbei. Sie erhaschte gerade noch einen Blick auf das höhnische Grinsen des Fahrers.

»Honk!« Katinka schaltete die Warnblinkanlage an und hielt. »Frau Riedeisen?« Vorsichtig berührte sie ihre Klientin an der Schulter. Die zuckte zurück, hob sogar den Arm, als müsste sie sich verteidigen. »Es ist nichts passiert! Wir sind nicht im Graben gelandet.«

Anja presste die Hände vors Gesicht. Ihr Schreien war in ein dünnes Wimmern übergegangen.

Katinka wartete. Diese Frau brauchte ein wenig Zeit. Und sie hatte vor etwas Angst. Jedoch nicht unbedingt vor dem Zusammentreffen mit ihrer ersten Liebe vor 30 Jahren.

 

*