Loe raamatut: «Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer», lehekülg 10

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Liebe vor Gericht

Mon­tag­mor­gen halb acht Uhr im Büro des Land­jä­ger­kor­po­rals Mur­mann.

Stu­der saß am Fens­ter und blick­te in den Gar­ten, über den ein fei­ner Re­gen nie­der­ging. Es war kühl. Der hei­ße Sonn­tag war eine Täu­schung ge­we­sen.

Der Wacht­meis­ter war al­lein. Er sah müde aus. Zu­sam­men­ge­sun­ken hock­te er auf dem be­que­men Arm­stuhl in sei­ner Lieb­lings­stel­lung: Un­ter­ar­me auf den Schen­keln, Hän­de ge­fal­tet. Die Haut ei­nes Ge­sich­tes ließ an ver­reg­ne­tes Pa­pier den­ken. Er seufz­te von Zeit zu Zeit.

In der Hand hielt er einen Brief, drei eng­be­schrie­be­ne Bo­gen. Er las dar­in, ließ die Blät­ter wie­der sin­ken, nahm sie wie­der auf, schüt­tel­te den Kopf. Es war ein Brief sei­nes Part­ners im Bil­lard­spiel. Münch, der No­tar, schrieb merk­wür­di­ge Din­ge, Din­ge, die viel­leicht… viel­leicht die Lö­sung ge­ben konn­ten – die Lö­sung des ver­ka­chel­ten Fal­les Wit­schi. ›Streng ver­trau­lich‹ stand auf dem Brief­kopf. Wie stell­te sich der Münch ei­gent­lich die Sa­che vor? Er­zähl­te in­ter­essan­te Tat­sa­chen, und man durf­te sie nicht ver­wer­ten.

Der Brief han­del­te von Ak­zep­ten. Von Ak­zep­ten, die zu­sam­men eine be­trächt­li­che Sum­me aus­mach­ten. Wech­sel also, die von ei­nem Ger­zen­stei­ner Bür­ger ak­zep­tiert wor­den wa­ren und nun der Ein­lö­sung harr­ten. Der Ger­zen­stei­ner, um den es sich han­del­te, hat­te mit der Kan­to­nal­bank vor ei­ner Wo­che ein Ab­kom­men ge­trof­fen. Die Wech­sel wa­ren heu­te fäl­lig ge­we­sen, die Bank hat­te sie vor ei­ner Wo­che mit Ach und Krach auf acht Tage ver­län­gert (pro­lon­giert schrieb der No­tar). Also heu­te in acht Ta­gen muss­ten sie be­zahlt wer­den. Zehn­tau­send Fran­ken. Ein or­dent­li­cher ›Schü­bel‹ Geld. Münch nann­te den Na­men des Ak­zep­tan­ten nicht, er war nicht schwer zu er­ra­ten… Und ein­kas­siert hat­te der Wit­schi das Geld. Vor sechs Mo­na­ten…

Die­ser Wit­schi muss­te es faust­dick hin­ter den Ohren ge­habt ha­ben, er muss­te or­dent­lich Geld ver­putzt ha­ben. Wo­hin war das Geld ge­kom­men? Spe­ku­la­tio­nen? Vi­el­leicht. Münch schrieb, Wit­schi sei knapp vor dem Kon­kurs ge­stan­den (und merk­wür­di­ger­wei­se stand auch der Ger­zen­stei­ner Bür­ger knapp vor dem Kon­kur­s… ) Der No­tar er­zähl­te eine merk­wür­di­ge Ge­schich­te. Er schrieb:

»Au­ßer­dem muss ich Dir, lie­ber Wacht­meis­ter, noch eine son­der­ba­re Ge­schich­te er­zäh­len. Du er­in­nerst Dich doch noch, dass ich Dir da­mals, beim Bil­lard­spie­len, als wir den al­ten El­len­ber­ger sa­hen, er­zähl­te, El­len­ber­ger sei bei mir ge­we­sen, um eine zwei­te Hy­po­thek, die er auf dem Hau­se des Wen­de­lin Wit­schi habe, zu kün­di­gen. Nun stimmt das nicht ganz. El­len­ber­ger war schon ein­mal bei mir ge­we­sen, eine Wo­che vor­her und hat­te mir eine Schuld­ver­schrei­bung in der Höhe von fünf­zehn­tau­send Fran­ken ge­bracht, die Wit­schi ihm aus­ge­stellt hat­te. Als Pfand hat­te er eine Le­bens­ver­si­che­rung hin­ter­legt, die auf zwan­zig­tau­send Fran­ken lau­te­te. El­len­ber­ger hat­te es über­nom­men, die Prä­mie zu zah­len. Nun weiß ich nicht, was ihn be­wo­gen hat, aber El­len­ber­ger woll­te zu­rück­tre­ten. Er ver­lang­te die Rück­zah­lung der be­tref­fen­den Sum­me so­wie die Ver­gü­tung der ge­zahl­ten Prä­mi­en und for­der­te mich auf, dies Wit­schi mit­zu­tei­len. Ich te­le­fo­nier­te Mon­tag nach­mit­tag (also am 1. Mai) dem Wit­schi nach Ger­zen­stein, er möge mich in mei­nem Büro auf­su­chen. Er kam ge­gen sieb­zehn Uhr zu mir. Ich teil­te ihm den Ent­schluss sei­nes Gläu­bi­gers mit. Wit­schi reg­te sich sehr auf, sag­te, er sei ein rui­nier­ter Mann, es blei­be ihm nichts an­de­res üb­rig, als sich das Le­ben zu neh­men. Ich mach­te ihn dar­auf auf­merk­sam, dass dies die Sa­che nicht än­dern wer­de, sie wer­de da­durch nur schlim­mer, denn die Ver­si­che­rung wür­de sich als­dann wei­gern, die Sum­me aus­zu­zah­len…«

Es ka­men ei­ni­ge tech­ni­sche Aus­füh­run­gen und dann fuhr der No­tar Münch fort:

»Wit­schi be­gann zu jam­mern, er schimpf­te auf sei­ne Frau und auf sei­nen Sohn, die ihm das Le­ben zur Höl­le mach­ten, wie er sich aus­drück­te. Ich ver­such­te ihn zu be­ru­hi­gen. Aber er reg­te sich im­mer mehr auf, plötz­lich zog er einen Re­vol­ver aus der Ta­sche und droh­te mir, er wer­de sich in mei­nem Büro er­schie­ßen, wenn ich ihm nicht zu Hil­fe käme. Der Mann be­gann mir auf die Ner­ven zu fal­len, ich woll­te ihn los sein, er klag­te und jam­mer­te wei­ter: der Ge­mein­de­prä­si­dent wol­le ihn in­ter­nie­ren las­sen… Ich schnitt ihm das Wort ab: Das gehe mich gar nichts an, er sol­le ma­chen, dass er aus mei­nem Büro kom­me, ich kön­ne sol­chen Lärm nicht brau­chen. Da be­gann er wie­der zu wei­nen, nein, er wol­le nicht ge­hen, bis er nicht einen Rat er­hal­ten habe. Ich konn­te ihm aber kei­nen Rat ge­ben und sag­te ihm dies. Jetzt wer­de er sich also er­schie­ßen, sag­te Wit­schi. Ich dar­auf: Aber nicht in mei­nem Büro. Da habe er nicht die rech­te Ruhe dazu, aber ich hät­te eine leer­ste­hen­de Kam­mer, wenn er sich dort­hin be­mü­hen wol­le, so wer­de er dort die bes­te Ge­le­gen­heit ha­ben, sich aus er Welt zu schaf­fen. Du wirst na­tür­lich den­ken, lie­ber Wacht­meis­ter, dass ich ein herz­lo­ser Mensch bin. Aber das bin ich gar nicht. Nur musst du be­den­ken, dass ich in mei­ner Pra­xis schon vie­le der­ar­ti­ge Fäl­le ge­habt habe; Selbst­mord­dro­hun­gen sind be­que­me Er­pres­sungs­ver­su­che. Die Leu­te wol­len sich gar nicht um­brin­gen, sie wol­len nur Ein­druck ma­chen und ver­su­chen, et­was her­aus­zu­schin­den. Ich sage dir das ver­trau­lich und du wirst mich ver­ste­hen.«

Stu­der schüt­tel­te den Kopf. War es bei Wit­schi nicht doch viel­leicht eine ech­te Verzweif­lung ge­we­sen? Er sah den Wen­de­lin vor sich, wie er auf dem Schra­gen lag im hel­len, all­zu wei­ßen Raum des Ge­richts­me­di­zi­ni­schen… Der ru­hi­ge, schier er­lös­te Aus­druck auf sei­nem Ge­sicht… Münch schrieb wei­ter, und was er schrieb, schi­en ei­gent­lich dem No­tar recht zu ge­ben:

»Ich führ­te den Wen­de­lin in eine ab­ge­le­ge­ne Kam­mer und sag­te zu ihm: ›Bit­te!‹ Dann schloss ich die Türe. Ich war noch nicht fünf Schrit­te weit ge­gan­gen, als ich einen Schuss hör­te. Nun wur­de mir doch un­ge­müt­lich zu­mu­te. Ich kehr­te zu­rück, öff­ne­te die Türe: Wit­schi stand in der Mit­te des Zim­mers. Ein al­ter Spie­gel, der an der Wand hing, hat­te dar­an glau­ben müs­sen… Aber Wit­schi hat­te sich ge­schont. Merk­wür­dig scheint mir nur, dass er dann zwei Tage spä­ter im Wal­de er­schos­sen auf­ge­fun­den wor­den ist. Ich kann da kei­ne Mei­nung äu­ßern…«

Die Tür ging auf. Zwei Frau­en tra­ten ein. Frau Mur­mann, groß, müt­ter­lich, schüt­zend, führ­te Son­ja ins Zim­mer.

Stu­der sah die bei­den Frau­en an. Er nick­te.

»Dan­ke, Frau Mur­mann«, sag­te er. »Ist’s ohne Auf­se­hen ge­gan­gen?«

»Wohl, wohl«, ant­wor­te­te die Frau. »Ich hab’ sie vor dem Bahn­hof er­war­tet, und sie ist ganz wil­lig mit­ge­kom­men.«

»Wir fah­ren zu­sam­men nach Thun, Meit­schi, wir ge­hen den Schlumpf be­su­chen. Ist’s dir so recht? Ich hab’ nur nicht wol­len, dass die Mut­ter et­was da­von er­fährt, drum hab’ ich die Frau vom Land­jä­ger ge­schickt, da­mit sie dir’s sagt. Ver­stehst? Es ist wei­ter nicht ge­fähr­lich…«

»Ja­wohl, Herr Wacht­meis­ter.« Son­ja nick­te eif­rig.

»Aber die Leu­te hier brau­chen uns nicht zu se­hen«, fuhr Stu­der fort. »Mur­mann leiht mir sein Mo­tor­rad, er wird vor­aus­fah­ren und auf uns war­ten. Du kannst auf dem So­zi­us­sitz hocken, um neun Uhr sind wir in Thun. Vor­her hat’s kei­nen Zweck. Geh’ jetzt mit der Frau Mur­mann. Ich muss noch ar­bei­ten. Ich sag’ dir dann, wann wir ge­hen. Du gehst vor­aus, und wir tref­fen uns. Ver­stehst?«

Son­ja nick­te schwei­gend.

»Komm, Meit­schi«, sag­te Frau Mur­mann.

Aber Son­ja zö­ger­te noch. End­lich stot­ter­te sie (und Stu­der merk­te, dass ihr das Schluch­zen zu­oberst in der Keh­le saß):

Ob der Wacht­meis­ter nicht wis­se, wo der Ar­min hin sei?

»So? Ist er nicht da­heim?«

– Nein, er sei ver­schwun­den, seit… ja seit er da­mals vom Tisch auf­ge­stan­den sei; aber die Mut­ter habe gar kei­ne Sor­ge ge­zeigt, sie sei heut’ mor­gen wie­der zum Kio­s­k… Was der Wacht­meis­ter mei­ne?

Der Wacht­meis­ter schi­en gar nichts zu mei­nen, denn er schwieg. Er hat­te et­was Der­ar­ti­ges er­war­tet. Die gan­ze Nacht hat­te er in Wit­schis Gar­ten ver­bracht, ver­steckt hin­ter ei­nem großen Ha­sel­busch und hat­te den Schup­pen nicht aus den Au­gen ge­las­sen. Be­vor er die Wa­che an­ge­tre­ten hat­te, war er noch in den Schup­pen ge­gan­gen. Die Tür mit den Spu­ren von Wit­schis Schieß­ver­su­chen (ei­gent­lich, hat­te er ge­dacht, ist es noch gar nicht be­wie­sen, dass Wit­schi sich ge­übt hat) stand noch an der glei­chen Stel­le, und wäh­rend der gan­zen Nacht hat­te nie­mand ver­sucht, sie zu ho­len. Wit­schis Haus blieb still und dun­kel, die alte Frau Ana­sta­sia war um zehn Uhr heim­ge­kom­men. Eine Stun­de lang hat­te Licht in der Kü­che ge­brannt. Dann war das Haus dun­kel ge­blie­ben bis zum Mor­gen. Stu­der war si­cher, dass Frau Wit­schi wuss­te, wo­hin ihr Sohn ge­gan­gen war. Er tauch­te si­cher auf, wenn die Luft wie­der rein war.

Aber was hat­te ihn ver­trie­ben, den Ar­min Wit­schi, den Maque­reau? Etwa Schrei­ers, des Hand­har­fen­spie­lers, laut ge­spro­che­ne Wor­te: »So, so, hat das Schlumpf­li ge­stan­den?«

War etwa das Ge­ständ­nis Schlumpfs nicht im Pro­gramm vor­ge­se­hen ge­we­sen?

Wie leicht hät­te Stu­der den Auf­ent­halts­ort des Ar­min er­fah­ren kön­nen! Aber er woll­te ihn vor­läu­fig gar nicht wis­sen. Heut’ am Mor­gen, beim Früh­stück, hat­te die Ber­t­ha, die Saal­toch­ter, ver­wein­te Au­gen ge­habt. Sie hat­te hin und wie­der tro­cken auf­ge­schnupft und Stu­der hat­te sich treu­her­zig er­kun­digt, was denn los sei?

– Gar nüd sei los, hat­te die Ber­t­ha ge­meint.

Da hat­te Stu­der sich nicht be­herr­schen kön­nen und im glei­chen treu­her­zi­gen Ton wei­ter­ge­fragt:

– Wie viel Geld sie denn dem Ar­min habe ge­ben müs­sen?

– Fünf­hun­dert Fran­ken, ihr gan­zes Er­spar­tes! Aber der Wacht­meis­ter müs­se das für sich be­hal­ten, ja nicht wei­ter sa­gen! So­bald die Ver­si­che­run­gen aus­be­zahlt sei­en, wer­de der Ar­min sie hei­ra­ten, das habe er ihr ver­spro­chen, ja, ge­schwo­ren habe er es ihr. Sie wis­se nicht, warum sie das jetzt dem Wacht­meis­ter er­zählt habe, sie hät­te nichts sa­gen sol­len, der Ar­min habe ihr das Ver­spre­chen ab­ge­nom­men… und wei­ter in dem Ton. Stu­der hat­te dem Mäd­chen be­ru­hi­gend die Hand ge­tät­schelt. Die­se Saal­toch­ter! Sie war nicht mehr jung, im­mer muss­te sie freund­lich sein mit den Gäs­ten, muss­te klo­bi­ge Wit­ze an­hö­ren, sich hand­greif­li­che Zärt­lich­kei­ten ge­fal­len las­sen… Und dann kam ei­ner, wie der Ar­min Wit­schi… Er war freund­lich, rück­sichts­voll, un­glück­lich, er war ein Stu­dier­ter… Was Wun­der, dass das Mäd­chen sich in ihn ver­lieb­te? Vi­el­leicht war der Ar­min gar kein schlech­ter Kerl. Man müss­te mit dem Bur­schen ein­mal re­den, hat­te Stu­der ge­dacht und in sich hin­ein­ge­lä­chelt: Wacht­meis­ter Stu­der als Hei­rats­ver­mitt­ler!…

Son­ja war­te­te auf eine Ant­wort. Sie blick­te er­war­tungs­voll auf Stu­der.

»Der Ar­min wird schon wie­der kom­men«, sag­te er. »Geh’ jetzt mit der Frau Mur­mann. In ei­ner Stun­de fah­ren wir.«

Und Son­ja ging.

Stu­der setz­te sich an den Schreib­tisch. Er nahm ein Fo­lio­blatt, leg­te es vor sich hin und schrieb ganz oben, in die Mit­te des Bo­gens, das Wort:

BILANZ

Dann be­gann er nach­zu­den­ken. Aber auch hier soll­te er nicht wei­ter­kom­men. Eine der Haup­tei­gen­schaf­ten des Fal­les Wit­schi schi­en die zu sein, dass es un­mög­lich war, ir­gend­ei­nen Teil zu ei­nem Ab­schluss zu brin­gen. Hat­te er nicht zum Bei­spiel ges­tern das Ver­hal­ten El­len­ber­gers und des Ge­mein­de­prä­si­den­ten beim ›Zu­ger‹ be­ob­ach­ten wol­len? Was war da­zwi­schen ge­kom­men? Na­tür­lich ein Te­le­fon, dann die Ent­de­ckung Schrei­er­s…

Und jetzt mel­de­te sich selbst­ver­ständ­lich das Schril­len der Te­le­fon­klin­gel. Stu­der hob den Hö­rer ab, sag­te, wie er es in sei­nem Büro in Bern ge­wohnt war:

»Ja?«

»Bist du’s, Stu­der?« frag­te eine Stim­me. Es war der Po­li­zei­haupt­mann.

»Ja«, sag­te Stu­der. »Was ist los?«

»Also pass auf. Der Rein­hardt hat heut’ mor­gen die Waf­fen­ge­schäf­te ab­ge­klopft. Gleich beim ers­ten hat er Glück ge­habt. Der Be­sit­zer war schon im La­den, und er hat sich gut er­in­nert, dass er vor vier­zehn Ta­gen einen Brow­ning ver­kauft hat. Mar­ke stimmt, Num­mer stimmt. Er er­in­nert sich auch an den Mann, der ihn ge­kauft hat…«

»Und?« frag­te Stu­der, da der Haupt­mann schwieg.

»Bist un­ge­dul­dig? Kei­ne Auf­re­gung, Stu­der. Du bla­mierst dich ja doch wie­der… Hä?… Du bist so still, Stu­der. Also, der Rein­hardt hat mir er­zählt, der Waf­fen­händ­ler er­in­ne­re sich noch gut an den Käu­fer. Es war ein al­ter Mann, dem alle Zäh­ne ge­fehlt ha­ben, er hat ein halb­lei­ni­ges Kleid ge­tra­gen. Dem Ver­käu­fer ist noch auf­ge­fal­len, dass der Mann brau­ne mo­der­ne Halb­schu­he ge­tra­gen hat und schwar­ze sei­de­ne So­cken. Er hat kei­nen Na­men an­ge­ge­ben…«

»Das ist auch nicht nö­tig ge­we­sen.« Stu­der sprach sto­ckend. Es war ei­ner­seits schwie­rig, die­se Neu­ig­keit zu ver­dau­en, an­de­rer­seits hat­te man et­was Ähn­li­ches er­war­tet…

»Du, pass gut auf«, sag­te Stu­der. »Ich schick’ dir einen Brow­ning, ich geb’ ihn ex­press auf, und dann wird dir das Ge­richts­me­di­zi­ni­sche die Ku­gel schi­cken, die im Schä­del vom Wit­schi ste­cken­ge­blie­ben ist. Hast du einen Sach­ver­stän­di­gen bei der Hand? Ja? Gut. Du über­gibst ihm bei­des und lässt dir ein Gut­ach­ten ma­chen, ob die im Kop­fe des Wit­schi ge­fun­de­ne Ku­gel aus dem Brow­ning stammt, den ich dir schi­cke. Und der Rein­hardt soll noch die an­de­ren Ge­schäf­te ab­klop­fen. Vi­el­leicht ist eine zwei­te Waf­fe von der glei­chen Mar­ke ver­kauft wor­den. Ver­stan­den? – Und das Gut­ach­ten brauch’ ich heut’ abend. Spä­tes­tens um fünf. Auf Wie­der­se­hen…«

Stu­der hing den Hö­rer ganz vor­sich­tig an die Ga­bel, stütz­te die Wan­ge auf sei­ne Faust. Da­bei fiel sein Blick auf das Wort ›BILANZ‹, das er sorg­fäl­tig an den Kopf ei­nes wei­ßen Fo­lio­blat­tes ge­setzt hat­te. »Das hat Zeit«, dach­te er, strich das Wort durch, fal­te­te das Blatt vor­sich­tig zu­sam­men und steck­te es in die Rock­ta­sche.

Nas­se So­cken sind un­an­ge­nehm. Be­son­ders wenn man fühlt, dass der Schnup­fen, der sich vor zwei Ta­gen ge­mel­det hat, im Be­grif­fe ist, sich in einen schwe­ren Ka­tarrh zu ver­wan­deln. Schließ­lich, in ei­nem ge­wis­sen Al­ter, wird man emp­find­li­cher, man hängt mehr am Le­ben, man fürch­tet sich vor ei­ner Lun­gen­ent­zün­dung, man möch­te tro­ckene Wä­sche an­zie­hen, um die­ser Ge­fahr zu ent­ge­hen. Aber wenn dies nicht mög­lich ist (man kann doch einen hoch­e­le­gan­ten Un­ter­su­chungs­rich­ter mit sei­de­nem Hemd nicht ein­fach bit­ten: »Kön­nen Sie mir viel­leicht ein Paar tro­ckene So­cken lei­hen?…«), so beißt man die Zäh­ne zu­sam­men, auch wenn die Zäh­ne den un­dis­zi­pli­nier­ten Vor­satz ge­fasst ha­ben, ein klap­pern­des Geräusch zu er­zeu­gen…

Das kam da­von, wenn man sich wie ein Zwan­zig­jäh­ri­ger auf ein Töff setz­te und im strö­men­den Re­gen fünf­und­zwan­zig Ki­lo­me­ter fuhr. Und es war ei­gent­lich gar kein Trost, dass Son­jas St­rümp­fe auch nass wa­ren.

Be­sag­te Son­ja war­te­te drau­ßen im Gang. Sie saß klein und zu­sam­men­ge­kau­ert auf ei­ner Holz­bank, und ein Po­li­zist pa­trouil­lier­te vor ihr auf und ab.

Stu­der saß wie­der auf dem all­zu klei­nen Stuhl, der si­cher für die An­ge­klag­ten be­stimmt war, saß dem Un­ter­su­chungs­rich­ter ge­gen­über, der an sei­nem mit ei­nem Wap­pen ge­schmück­ten Sie­gel­ring dreh­te und sag­te:

»Ich be­grei­fe Sie nicht, Herr Stu­der. Die Sa­che ist doch er­le­digt. Wir ha­ben das Ge­ständ­nis des Bur­schen, es ist voll­stän­dig, er gibt an… er gibt an…« Der Un­ter­su­chungs­rich­ter ließ den Ring sein und such­te ner­vös auf dem Tisch. End­lich kam der blaue Papp­de­cke­lum­schlag zum Vor­schein, des­sen Eti­ket­te die Wor­te trug: ERWIN SCHLUMPF MORD.

»Er gibt an…« sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter zum drit­ten Mal und kämpf­te mit den auf­säs­si­gen Sei­ten, »ah… hier: Ich habe dem Herrn Wit­schi ab­ge­passt, habe ihn mit vor­ge­hal­te­nem Re­vol­ver ge­zwun­gen ab­zu­stei­gen. Er ist mir in den Wald ge­folgt, all­wo ich ihn ge­zwun­gen habe, mir sei­ne Brief­ta­sche aus­zu­lie­fern, so­wie sei­ne Uhr und sein Por­te­mon­naie. Ich weiß nicht, was mich dazu be­stimmt hat, ihn nach­her mit ei­nem Schus­se nie­der­zu­stre­cken, aber ich den­ke, ich habe Angst ge­habt, dass er mich er­kannt hät­te, ob­wohl ich ein schwar­zes Tuch über die un­te­re Hälf­te mei­nes Ge­sich­tes ge­bun­den hat­te… (Auf Be­fra­gen) Ich brauch­te not­wen­dig Geld, um mir ein Fahr­rad zu kau­fen.«–

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter stock­te. Stu­der schneuz­te sich und blies Trom­pe­ten­si­gna­le, un­ter­brach sie, nies­te, aber das Nie­sen ge­mahn­te an ein un­ter­drück­tes Ki­chern. Schließ­lich be­ru­hig­te er sich und frag­te mit trä­nen­den Au­gen:

»Hat das Schlumpf­li wort­wört­lich so ge­spro­chen? Ich mei­ne, Sät­ze wie: ›all­wo ich ihn ge­zwun­gen habe, mir sei­ne Brief­ta­sche aus­zu­lie­fern…‹ und: ›… was mich dazu be­stimmt hat, ihn nach­her mit ei­nem Schus­se nie­der­zu­stre­cken…‹ Hat er das wirk­lich so ge­sagt?«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war be­lei­digt.

»Sie wis­sen doch, Wacht­meis­ter«, sag­te er streng, »dass es uns ob­liegt, die Aus­sa­gen zu for­mu­lie­ren. Wir kön­nen doch nicht das gan­ze Ge­re­de ei­nes An­ge­klag­ten ste­no­gra­fie­ren. Die Ak­ten wür­den zu Bän­den an­wach­sen…«

»Ja, se­hen Sie, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter, das scheint mir im­mer ein großer Feh­ler. Ich wür­de die Wor­te der An­ge­klag­ten so­wohl, als auch der Zeu­gen, nicht nur ste­no­gra­fie­ren, son­dern die Wor­te auf Plat­ten auf­neh­men las­sen. Man be­käme dann je­den Ton­fall her­aus…«

Schwei­gen. Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war an­schei­nend be­lei­digt. Stu­der be­schloss, ihn zu ver­söh­nen. Er stand auf, ging zum of­fe­nen Ka­min, der in ei­ner Ecke des Rau­mes stand – und ein Holz­feu­er fla­cker­te dar­in, im Mai! – stell­te sich mit dem Rücken da­ge­gen und wärm­te sich die Schuh­soh­len.

»Die Sa­che ist die, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter, dass ich ei­ni­ge Merk­wür­dig­kei­ten an dem Fal­le be­stä­tigt ge­fun­den habe. Da­rum fällt es mir schwer, an die Schuld des Schlumpf zu glau­ben. Ich habe einen Zeu­gen mit­ge­bracht, den ich ger­ne dem Bur­schen ge­gen­über­stel­len möch­te. Er ist drau­ßen im Gang. Nun soll­ten sich die bei­den aber vor­erst nicht se­hen. Ha­ben Sie nicht einen Raum, in dem mein Zeu­ge war­ten könn­te? Ich wer­de ihn ru­fen, wenn es nö­tig sein wird.«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter nick­te. Er drück­te auf einen Knopf und gab dem ein­tre­ten­den Po­li­zis­ten den Be­fehl, die Per­son, die mit dem Wacht­meis­ter ge­kom­men sei, ins Wart­zim­mer zu tun (wie beim Zahn­arzt, dach­te Stu­der) und dann den Schlumpf Er­win vor­zu­füh­ren.–

Schlumpfs ers­te Wor­te wa­ren:

»Aber ich hab’ doch ge­stan­den, was wollt Ihr noch?«

Dann erst sah er den Wacht­meis­ter, nick­te ihm zu, hob kaum die Au­gen und woll­te sich zu dem Stuhl schlei­chen; aber Stu­der ging ihm ent­ge­gen, streck­te ihm die Hand hin:

»Und, Schlumpf­li, wie geht’s seit dem letz­ten Mal?«

»Nicht gut, Wacht­meis­ter«, sag­te Schlumpf und ließ sei­ne Hand be­we­gungs­los in der des an­de­ren lie­gen. Stu­der drück­te die schlaf­fe Hand.

»Du hast dich an­ders be­son­nen, Schlumpf­li, hab’ ich ge­hört?«

»Ja, es hat mich zu arg ge­drückt.«

»A bah«, mach­te Stu­der und lä­chel­te. Schlumpf blick­te er­staunt auf.

»Ja, glaubt Ihr mir nicht, Wacht­meis­ter?«

»Ich glaub’ noch im­mer das, was du mir im Zug er­zählt hast.« Stu­der nies­te.

»G’­sund­heit«, sag­te Schlumpf me­cha­nisch. Er hock­te auf dem An­ge­klag­ten­stuhl, hielt den Kopf ge­senkt, manch­mal schiel­te er nach Stu­der hin, als ob von dort eine Ge­fahr dro­he. Er sah aus wie ein Schul­bub, der das Kom­men ei­ner Ohr­fei­ge wit­tert und nicht den Au­gen­blick ver­pas­sen will, sie mit ge­ho­be­nen El­len­bo­gen zu pa­rie­ren.

»Ich will dir nichts tun, Schlumpf­li«, sag­te Stu­der, »ich will dir nur hel­fen. Hast du den Mann ge­kannt, der ges­tern we­gen Au­to­dieb­stahl ein­ge­lie­fert wor­den ist?«

Es gab Schlumpf einen Ruck. Er riss die Au­gen auf, riss den Mund auf, woll­te spre­chen, aber da sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter:

»Was soll das, Wacht­meis­ter?«

»Nichts, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter. Der Schlumpf hat schon geant­wor­tet.« Dann, nach ei­ner klei­nen Pau­se: »Ich darf doch rau­chen?« und zog ein gel­bes Päck­chen aus der Ta­sche. Grin­send: »Eine Zi­ga­ret­te. Und auch der Schlumpf wird gern eine neh­men. Es rei­nigt die At­mo­sphä­re.«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter muss­te wi­der Wil­len lä­cheln. Ein ko­mi­scher Kauz, die­ser Stu­der… In ei­ner Ecke stand ein ein­sa­mer Stuhl. Stu­der pack­te ihn an der Leh­ne, schwang ihn ins Zim­mer, setz­te sich ritt­lings dar­auf, stütz­te die Un­ter­ar­me auf die Leh­ne, blick­te Schlumpf fest an und sag­te:

»Wa­rum schwin­delst du den Herrn Un­ter­su­chungs­rich­ter an? Das ist doch Cha­bis, du hast doch den Wit­schi ganz an­ders um­ge­bracht. Du hast ihn auf­ge­hal­ten, das kann viel­leicht stim­men, hast ihm ge­sagt, es wol­le ihn je­mand spre­chen, und wie er dann vor dir her­ge­gan­gen ist, hast du ihn er­schos­sen. Dann hast du die Lei­che um­ge­dreht, die Brief­ta­sche ge­nom­men – stimm­t’s? Wie du die Lei­che ver­las­sen hast, ist sie auf dem Rücken ge­le­gen, nicht wahr? Sag’ jetzt die Wahr­heit. Lü­gen nützt nichts. Ich weiß es.«

»Ja, Herr Wacht­meis­ter. Auf dem Rücken ist er ge­le­gen, der Mond hat ge­schie­nen, und der Wit­schi hat mich an­ge­glotz­t… Ich bin ge­lau­fen, ge­lau­fen…«

Stu­der stand auf, er schwenk­te die Hand, wie ein Ar­tist im Zir­kus: »Quod erat de­mons­tran­dum – was zu be­wei­sen war.«

Er war mit zwei Schrit­ten am Tisch, blät­ter­te im Ak­ten­bün­del, riss eine Fo­to­gra­fie her­aus, hielt sie Schlumpf un­ter die Nase:

»So ist er ge­le­gen, der Wit­schi, auf dem Bauch ist er ge­le­gen, du Löli, ver­stehst? Und er hat un­mög­lich auf dem Rücken lie­gen kön­nen, weil kei­ne Tan­nen­na­del auf sei­ner Kut­te sind. Ver­stehst du das?«

Und dann, zum Un­ter­su­chungs­rich­ter ge­wandt:

»Ist nicht noch eine Fo­to­gra­fie da? Auf der nur der Kopf drauf ist?«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war aus der Fas­sung ge­ra­ten. Er stö­ber­te im Ak­ten­bün­del. Doch, es war noch eine Fo­to­gra­fie da, er wuss­te es. Zwei, die den gan­zen Kör­per des Wit­schi zeig­ten, eine, auf der nur der Kopf war, der Kopf mit der Wun­de hin­ter dem rech­ten Ohr und rund­her­um der Wald­bo­den, mit Tan­nen­na­deln be­deckt. Er fand sie end­lich und reich­te sie Stu­der.

»Die Lupe«, sag­te der Wacht­meis­ter. Es klang wie ein Be­fehl.

»Hier, Herr Stu­der.« Der Un­ter­su­chungs­rich­ter wur­de ganz ängst­lich. Wie lan­ge muss­te man sich noch den An­ord­nun­gen die­ses Fahn­ders fü­gen?

Stu­der ging ans Fens­ter. Es war still im Zim­mer. Der Re­gen prit­schel­te ein­tö­nig ge­gen die Schei­ben. Stu­der starr­te durch die Lupe, starr­te, starr­te… End­lich:

»Ich muss die Foto ver­grö­ßern las­sen. Darf ich sie mit­neh­men?«

»Dies wäre ei­gent­lich Sa­che der Un­ter­su­chungs­be­hör­de«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter und ver­such­te sei­ner Stim­me einen ab­wei­send sach­li­chen Ton zu ge­ben.

»Ja, und dann geht es drei Wo­chen. Ich hab’ einen Mann bei der Hand, der es mir bis heut’ abend macht. Also ich kann sie mit­neh­men?« Stu­der er­wi­sch­te ein Ku­vert auf dem Tisch, riss von ei­nem Block einen Zet­tel ab, krit­zel­te ein paar Wor­te drauf, schloss das Ku­vert, drück­te auf den Klin­gel­knopf. Der Po­li­zist öff­ne­te die Tür. Stu­der stand schon vor ihm.

»Nimm dein Velo, fahr auf den Bahn­hof, ex­press. Da ist Geld. Aber rasch!…«

Der Po­li­zist schau­te er­staunt auf den Un­ter­su­chungs­rich­ter. Der nick­te, et­was ver­le­gen, dann sag­te er:

»Aber zu­erst füh­ren Sie die Per­son her­ein, die mit dem Wacht­meis­ter ge­kom­men ist. Das ha­ben Sie wohl ver­ges­sen, Herr Stu­der…«

»Ganz rich­tig«, sag­te Stu­der zer­streut. »Das hab’ ich rich­tig ver­ges­sen.«

Er strich sich über die Stirn und mas­sier­te die Au­gen­de­ckel mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger.

Die schwar­zen Punk­te auf dem Na­del­bo­den ne­ben dem Kopf… was hat­ten die schwar­zen Punk­te zu be­deu­ten? Sie sa­hen aus wie win­zi­ge Teil­chen ver­kohl­ten Zi­ga­ret­ten­pa­pier­s… Wenn man sie auf der Ver­grö­ße­rung als sol­che er­ken­nen könn­te!… Schwie­rig, doch nicht ganz un­mög­lich… Dann… Dann hat­te der Leh­rer Schwomm viel­leicht doch nicht ge­lo­gen, als er von zwei Schüs­sen sprach… Dann, ja, dann wur­de die Sa­che be­deu­tend ein­fa­cher… Kin­der­leicht…

Ein klei­ner, spit­zer Schrei. Son­ja stand in der Tür.

Schlumpf war auf­ge­sprun­gen.

»Gebt euch doch die Hand, Kin­der«, sag­te Stu­der tro­cken aus sei­ner Ecke her­aus.

Die bei­den stan­den vor­ein­an­der, rot, ver­le­gen, mit hän­gen­den Ar­men. End­lich:

»Grüeß di, Er­win.«

Ant­wort, ge­würgt:

»Grüeß di, Son­ja.«

»Hocked ab!« sag­te Stu­der und stell­te sei­nen Stuhl dicht ne­ben Schlumpf. Son­ja nick­te dem Wacht­meis­ter dan­kend zu und setz­te sich. Ganz lei­se sag­te sie noch ein­mal und leg­te ihre klei­ne Hand mit den nicht ganz sau­be­ren Nä­geln auf Schlumpfs Arm:

»Grüeß di. Wie geht’s dir?«

Der Bur­sche schwieg. Stu­der stand wie­der am Ka­min, wärm­te sich die Wa­den und blick­te auf die bei­den. Der Un­ter­su­chungs­rich­ter sah ihn fra­gend an. Stu­der wink­te be­schwich­ti­gend ab: »Nur ma­chen las­sen.« Zum Über­fluss leg­te er noch den Zei­ge­fin­ger auf die Lip­pen:

Ein Wind­stoß ließ die Schei­ben leicht klir­ren. Dann rausch­te ein­tö­nig der Re­gen. Ein neu­er Wind­stoß fuhr in den Ka­min, Stu­der war plötz­lich von ei­ner blau­en Wol­ke um­ge­ben. Er hät­te hus­ten sol­len, ge­walt­sam un­ter­drück­te er den Reiz. Er woll­te die Stil­le nicht stö­ren…

Son­jas Hand strei­chel­te den Är­mel des Bur­schen auf und ab, fand das Hand­ge­lenk und blieb dort lie­gen.

»Bist ein Gu­ter«, sag­te Son­ja lei­se. Ihre Au­gen wa­ren weit of­fen und blick­ten in die Au­gen ih­res Freun­des. Und auch Schlumpf schau­te und schau­te. Stu­der er­kann­te sein Ge­sicht kaum wie­der. Es lä­chel­te nicht, das Ge­sicht. Es war sehr ernst und ru­hig. Es sah wirk­lich aus, als sei das Schlumpf­li plötz­lich er­wach­sen ge­wor­den.

»War’s sehr schwer?« frag­te Son­ja lei­se. Bei­de schie­nen ver­ges­sen zu ha­ben, dass sie nicht al­lein im Zim­mer wa­ren. Plötz­lich seufz­te Schlumpf tief auf und dann ließ er den Ober­kör­per nach vor­ne fal­len. Sein Kopf lag auf dem Schoß des Mäd­chens. Die klei­ne Son­ja schi­en zu wach­sen. Gera­de auf­ge­r­eckt saß sie da, ihre Hän­de la­gen ge­fal­tet auf dem Kopf des Bur­schen Schlumpf.

»Ja, du bist ein Gu­ter. Weißt, ich hab’ im­mer an dich ge­dacht. Im­mer, im­mer hab’ ich an dich ge­dacht.« Es klang wie ein Wie­gen­lied.

Sto­ckend, kaum zu ver­ste­hen, denn Schlumpf ließ den Kopf lie­gen, wo er war, und das Kleid dämpf­te noch die Wor­te: »Ich hab’s gern für dich ge­tan.« Dann fuhr der Kopf in die Höhe, Schlumpf lä­chel­te. Es war ein merk­wür­dig ver­krampf­tes Lä­cheln; und er sag­te:

»Weißt, ich bin den Be­trieb schon ge­wohnt.«

Wenn auch der Kopf sich frei ge­macht hat­te, Son­jas ver­schränk­te Hän­de la­gen noch im­mer im Na­cken des Bur­schen. Sie zog ihn nä­her, küss­te ihn auf die Stirn.

»Darfst nicht mehr dran den­ken, gell? Nie mehr! Das ist vor­bei…«

Schlumpf nick­te eif­rig.

Stu­der hus­te­te. Es ging ein­fach nicht mehr, der Rauch setz­te sich sonst in sei­ner Lun­ge fest. Sein Sch­neu­zen klang wie­der wie ein Trom­pe­ten­si­gnal, aber wie ein tri­um­phie­ren­des. Das Ge­sicht des Un­ter­su­chungs­rich­ters war weich ge­wor­den. Er spiel­te mit ei­nem Pa­pier­mes­ser, trom­mel­te auf dem Ak­ten­de­ckel, auf dem in schö­ner Rund­schrift stand SCHLUMPF ERWIN und dar­un­ter in Block­buch­sta­ben: MORD.

Er leg­te den Brief­öff­ner lei­se ab, klopf­te das Ak­ten­bün­del mit der Kan­te auf den Tisch. Dann nahm er einen di­cken Schmö­ker, der am Ran­de sei­nes Schreib­ti­sches lag, schob den Akt Schlumpf dar­un­ter und schlug mit der fla­chen Hand ein paar­mal auf den Buch­de­ckel.

»Ja«, sag­te er und es war ein Seuf­zer. Er war Jung­ge­sel­le, schüch­tern wahr­schein­lich. Vi­el­leicht be­nei­de­te er den Bur­schen Schlumpf. »Ja«, sag­te er noch ein­mal, dies­mal ein we­nig fes­ter. »Und was hat das al­les zu be­deu­ten, Herr Stu­der?«

»Oh, nüt Apar­tigs«, sag­te Stu­der. »Son­ja Wit­schi möch­te eine Aus­sa­ge ma­chen.«

Nun war dies si­cher eine Über­trei­bung, denn Son­ja Wit­schi hat­te sich bis jetzt im­mer stand­haft ge­wei­gert, eine Aus­sa­ge zu ma­chen. Sie war so­gar stumm ge­we­sen wie ein Fisch.

»Fräu­lein Wit­schi«, der Un­ter­su­chungs­rich­ter war über­aus höf­lich. »Ich wer­de so­gleich mei­nen Schrei­ber ru­fen las­sen, und dann wer­den Sie uns mit­tei­len, ob Sie et­was über den Tod Ihres Va­ters aus­zu­sa­gen ha­ben.« Er sah nicht auf und är­ger­te sich in­ner­lich über die Phra­se.

Stu­der mel­de­te sich. Er wol­le gern den Ge­richts­schrei­ber ma­chen, sag­te er. Dann sei man mehr un­ter sich. Und er kön­ne ganz gut mit der Ma­schi­ne um­ge­hen, wenn es sein müs­se. Mit zwei Fin­gern zwar. Aber es wer­de wohl lan­gen, wenn Son­ja nicht zu schnell er­zäh­le. Der Un­ter­su­chungs­rich­ter nick­te. Schlumpf muss­te auf­ste­hen, er stand an der Wand und starr­te auf Son­ja. Und Son­ja be­gann zu er­zäh­len.

Žanrid ja sildid
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1151 lk 3 illustratsiooni
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9783962816315
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