Studer stieß zu. Die weiße Kugel rollte über das grüne Tuch, klickte an die rote, traf die Bande und sauste haarscharf an der zweiten weißen Kugel vorbei.
Studer stellte die Queue auf den Boden, blinzelte und sagte ärgerlich:
»Bitzli z’wenig Effet.«
Und gerade in diesem Augenblicke hörte er zum ersten Male die dröhnende Stimme, die er noch oft hören sollte.
Die Stimme sagte:
»Und glaub mir, in der Affäre Witschi ist auch nicht alles Bock; glaub mir nur, da stimmt etwas nicht… und das weißt du ja auch. Dass sie den Schlumpf geschnappt haben…« Mehr konnte Studer nicht verstehen. Die Stille, die einen Augenblick über dem Raum geschwebt hatte, zersprang, der Lärm der Gespräche setzte wieder ein. Studer drehte sich um und sah sich an dem Mann mit der merkwürdig dröhnenden Stimme fest.
Der war hochgewachsen, mit einem mageren, zerfurchten Gesicht. Er saß in einer Ecke des Cafés an einem Tischchen zusammen mit einem kleinen Dicken. Der Dicke nickte, nickte ununterbrochen, während der magere Alte den Ellbogen aufgestützt hatte und mit aufgerecktem Zeigefinger weitersprach. Die Lippen waren fast unsichtbar – dem Mann mussten alle Zähne fehlen. Jetzt senkte der Alte die Hand, hob das Glas zerstreut zum Mund, merkte plötzlich, dass es leer war: da zerbrach ein sehr sanftes Lächeln den harten Mund, so, wie einer lächelt, der sich selbst nicht ganz ernst nimmt.
»Rösi«, sagte er zur Kellnerin, die gerade vorbeikam, »Rösi, noch zwei Becher.«
»Ja, Herr Ellenberger.« Die rothaarige Kellnerin ließ sich die Hand tätscheln. Sie sah aus wie eine Katze, die gerne schnurren möchte, aber auf der Suche nach einem ruhigen Platz ist, wo sie dies ungestört tun kann.
»Du kommst…«, sagte Studers Spielpartner, der Notar Münch, der einen hohen steifen Kragen um seinen dicken Hals trug. Und während Studer mit verkniffenen Augen die Stellung der Kugeln prüfte, dachte er immerfort: Ellenberger? Ellenberger? Und redet von der Affäre Witschi? Und während er weiter dachte, ob es wohl dieser Ellenberger sei, Baumschulenbesitzer in Gerzenstein, Meister des Schlumpf, verfehlte er natürlich seinen Stoß. Er hatte nicht richtig eingekreidet, die Spitze der Queue sprang mit einem unangenehm hohen Gix von der Kugel ab.
Das Billardtuch, mit der sehr hellen, nach unten abgeblendeten Lampe darüber, warf einen grünen Schein in die Luft und gab dem Rauch, der leise durch die Luft wogte, eine kuriose Farbe. Ein Lachen, das wie ein Krächzen klang, kam vom Tisch des alten Ellenberger, aber nicht der Alte hatte gelacht, sondern sein Begleiter, der kleine Dicke. Und in die Stille, die dem Lachen folgte, hörte Studer den alten Ellenberger sagen:
»Ja, der Witschi, der war nicht dumm. Aber der Äschbacher. Ein zweitägiges Kalb ist minder…«
»Was ist los, Studer?« fragte der Notar Münch. Keine Antwort.
Die Affäre Witschi schien wirklich verhext zu sein.
Jetzt hatte Studer gemeint, sie diesen Abend wenigstens vergessen zu können.
Aber natürlich: da kam man ins Café zum Billardspielen und ausgerechnet musste dieser Ellenberger auch hier hocken und laut über die Affäre Witschi reden. Dann war es natürlich mit der Ruhe vorbei…
Der Rücken des Ermordeten auf der Fotografie… Der Rücken, auf dem keine Tannennadeln hafteten… Die Wunde im Hinterkopf… Die kuriosen Vornamen der Familienmitglieder… Wendelin hieß der Vater, die Tochter Sonja, der Sohn Armin. Vielleicht hieß die Mutter Anastasia?… Warum nicht?
Witschi… der Name klang wie Spatzengetschilp. Der Wendelin Witschi, der auf einem Zehnder den Commisvoyageur1 machte und in einem Wald erschossen aufgefunden wurde… Die Frau Witschi, die im Bahnhofkiosk hockte und Romane las…
Und während Studer auf seine Billardqueue gestützt, dem Spiele des Notars zusah, der heute Abend in Form zu sein schien, hörte er wieder die angenehm dröhnende Stimme sagen:
»Was macht wohl unser Schlumpf? Was meinst, Cottereau? Haben sie ihn wohl geschnappt, die Tschucker?«
Das Wort ›Tschucker‹ gab Studer einen Ruck. Er war abgebrüht gegen den Spott, dem man als Fahnder ausgesetzt war. Einzig dieses verfluchte Wort mit dem unangenehmen ›U‹ machte ihn wild. Es klinge so vollgefressen, hatte er einmal zu seiner Frau geäußert. Und als er es jetzt aus des alten Ellenbergers Munde hörte, riss es ihn herum, und er starrte auf den Mann.
Er begegnete dem Blick eines Augenpaares, und dieser Blick war ungemütlich. Studer hielt ihn nicht lange aus. Merkwürdige Augen hatte der Ellenberger: kalt wirkten sie, die Pupillen waren fast schlitzförmig, wie bei einer Katze. Und die Iris blaugrün, sehr hell.
»Revanche?« fragte der Notar Münch. Er hatte stillschweigend eine Serie gemacht und war jetzt fertig.
Studer schüttelte den Kopf.
»Kennst du den dort drüben?« fragte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter. Der Notar Münch schraubte seinen Kopf aus dem hohen Kragen. »Den Alten dort? Den, der mit dem Dicken zusammenhockt? Denk wohl!… Das ist der Ellenberger. Er war heut’ bei mir. Wegen einem gewissen Witschi… Eh, du hast doch von den Leuten gehört. Der Witschi, der vor ein paar Tagen umgebracht worden ist. Der war dem Ellenberger Geld schuldig… Den Witschi hab’ ich auch einmal gesehen…«
Der Notar Münch schwieg und machte mit seiner rechten Hand, die wie eine Flosse aussah, beschwichtigende Bewegungen. Und als Studer sich umwandte, gewahrte er den alten Ellenberger, der dem Notar winkte, näherzukommen.
Münch ging quer durch den Raum. Drüben, am runden Tischchen, schüttelte er dem alten Ellenberger die Hand und winkte dann Studer näherzukommen. Der Wachtmeister wurde vorgestellt, es erwies sich, dass Ellenberger und Studer sich vom Hörensagen kannten. Übrigens war Ellenbergers Hand mit Tupfen übersät, die in der Farbe an dürres Buchenlaub erinnerten.
»Hat es Euch beleidigt, Wachtmeister Studer, dass ich vorhin ›Tschucker‹ gesagt habe? Ich hab gesehen, wie Ihr gezuckt habt wie ein junges Ross, wenn es die Geißel klepfen hört.«
Das sei so ähnlich, meinte Studer, wie bei den Gärtnern, die hätten es auch nicht gern, wenn man sie ›Krauterer‹ nenne. Oder nicht?
Der Ellenberger lachte ein tiefes Basslachen, zwinkerte mit den faltigen Lidern, saugte die Lippen zwischen die Bilgeren und schwieg. Sein Gesicht blieb eine lange Weile starr; es wirkte uralt und grotesk.
Sie saßen um den kleinen Tisch und hatten nicht richtig Platz. Neben ihnen stand ein Fenster offen, es war schwül, ein heißer Wind strich draußen vorbei, und der Himmel war mit einer giftiggrauen Salbe verschmiert.
Die Kellnerin hatte unaufgefordert vier hohe Gläser mit Bier auf den Tisch gestellt.
»G’sundheit«, sagte Studer, hob das Glas, kippte es in den Mund, setzte es ab. Weißer Schaum blieb an seinem Schnurrbart kleben. »Aaah…«
Mit Daumen und Zeigefinger ließ der Ellenberger sein Glas langsame Tänze auf der Kartonunterlage ausführen. Dann fragte er plötzlich:
»Wisst Ihr etwas vom Schlumpf?«
– Er habe ihn heut morgen verhaftet… sagte Studer leise. – Wo? – Bei der Mutter.
Schweigen. Der alte Ellenberger schüttelte den Kopf, so, als sei ihm irgend etwas nicht klar.
– Die Tschu… die Fahnder hätten nicht immer eine schöne Büetz, meinte er dann trocken. Den Sohn von der Mutter wegholen… Er, für sein Teil, tue lieber Rosen okulieren2 oder allenfalls im Winter rigolen.
Der Notar Münch trommelte verlegen auf der Marmorplatte und schraubte an seinem Hals. Der kleine Dicke, der Cottereau hieß und also jener Obergärtner war, der die Leiche gefunden hatte, schneuzte sich in ein großes rotes Taschentuch.
Studer ließ das Schweigen über dem Tisch liegen und blickte am alten Ellenberger vorbei durchs Fenster.
»Und? Wie gehts dem Schlumpf?« fragte der Alte böse.
»Oh«, sagte Studer ruhig, »er hat sich aufgehängt.«
Der Notar schmatzte hörbar, er blickte seinen Freund Studer verblüfft an, aber der Ellenberger sprang vom Stuhl auf, stützte die Fäuste auf den Tisch und fragte laut:
»Was sagst du? Was sagst du?«
»Ja«, wiederholte Studer friedlich, »er hat sich aufgehängt. Ihr scheint Euch sehr für den Burschen zu interessieren?«
»Ah bah!« wehrte der Ellenberger ab. »Ich hab ihn nicht ungern gesehen. Er hat sich gut gehalten bei mir… Und jetzt ist er tot… So, so… Der Zweite, den die alte Hex’ auf dem Gewissen hat, sie und ihr… und ihr…« Der Ellenberger unterbrach sich. »Also tot ist er?« fragte er noch einmal.
– Das habe er nicht gesagt, meinte Studer und betrachtete kritisch seine Brissago. Er sei noch zur rechten Zeit gekommen, um den Schlumpf – man könne ja sagen: zu retten, obwohl…
»Also ist er nicht tot? Und wo ist er jetzt, der Schlumpf?«
»In Thun«, sagte Studer gemütlich und versteckte seine Augen unter seinen Lidern. »In Thun, in der Kischte.« Er, Studer, habe auch mit dem Untersuchungsrichter geredet, ein gäbiger Mann, der Fall sei nicht hoffnungslos, aber dunkel, dunkel… Das sei das Elend.
»Und das Gericht will klare Fälle, das gibt schöne Verhandlungen… Aber der Schlumpf leugnet alles ab, der Fall kommt vor die Assisen, natürlich… Und man weiß ja, wie Geschworene sind…« Das alles unterbrochen von langen Zügen, abwechselnd am Bierglas und an der Brissago.
»Aber«, fuhr Studer fort, »Ihr habt da einen Satz nicht beendigt. Wen habt Ihr gemeint mit der Hexe? Die Frau Witschi?«
Ellenberger wich der Frage aus.
»Wenn Ihr etwas wissen wollt, Wachtmeister, müsst Ihr nach Gerzenstein kommen, Euch das Kaff anschauen. Es lohnt sich…« Dann seufzend: »Ja, der Witschi hat’s nicht gut gehabt. Hat mir oft geklagt, der alte Schnapser… Aber viele saufen… Heiratet nie, Wachtmeister.«
– Er sei schon verheiratet, sagte Studer, und könne nicht klagen. – So, geschnapst habe der Witschi? – Ja, meinte der Ellenberger, so arg, dass der Äschbacher, der Gemeindepräsident – der Mann schaue aus wie eine Sau, die den Rotlauf habe – den Witschi habe nach Hansen versenken wollen… (Hansen nennt man im Kanton Bern die Arbeitsanstalt St. Johannsen).
Nach einer Weile fragte der Ellenberger:
»Hat er von mir gesprochen, der Erwin?«
Studer bejahte. Der Schlumpf habe seinen Meister gerühmt. Seit wann denn der Ellenberger der Fürsorge für entlassene Sträflinge beigetreten sei?
»Fürsorge?« Die Fürsorge könne ihm gestohlen werden. Er brauche billige Arbeitskräfte, voilá tout. Und dass er die Burschen anständig behandle, das gehöre zum Geschäft, sonst würden sie ihm wieder drauslaufen. Er, der Ellenberger, sei zu viel in der Welt herumgekommen, die braven Leute brächten ihn zum Kotzen, aber die schwarzen Schafe, wie man so schön sage, die sorgten für Abwechslung. Von einem Tag auf den anderen könne man in der schönsten Kriminalgeschichte drinnen stecken, an einem Mordfall beteiligt sein, par exemple, und dann werde es spaßig.
Der alte Ellenberger stand auf:
»Ich muss heim, Wachtmeister, komm, Cottereau… Ich denk, wir werden uns noch einmal sehen… Besuchet mich dann, wenn Ihr nach Gerzenstein kommt… Läbet wohl…«
Der alte Ellenberger winkte der Kellnerin, sagte: »Alles«, gab ein zünftiges Trinkgeld. Dann schritt er zur Tür. Das letzte, das Wachtmeister Studer an dem Alten feststellte, war sicher merkwürdig genug: Der Ellenberger trug zu einem schlechtsitzenden Anzug aus Halbleinen ein Paar braune, moderne Halbschuhe. Die schwarzen Socken, die unter den zu kurzen Hosen hervorlugten, waren aus schwarzer Seide…
Am nächsten Morgen schrieb Wachtmeister Studer seinen Rapport. Das Büro roch nach Staub, Bodenöl und kaltem Zigarrenrauch. Die Fenster waren geschlossen. Draußen regnete es, die paar warmen Tage waren eine Täuschung gewesen, ein saurer Wind blies durch die Straßen und Studer war schlechter Laune. Wie sollte man diesen Rapport schreiben? Vielmehr, was schreiben, was auslassen?
Da rief eine Stimme von der Türe her seinen Namen.
»Wa isch los?«
»Der Untersuchungsrichter von Thun hat telefoniert. Du sollst nach Gerzenstein fahren… Du hast doch gestern den Schlumpf verhaftet! Wie ist’s gegangen?«
– Der Schlumpf habe ihm durchbrennen wollen auf dem Bahnhof, sagte Studer, aber es habe nicht gelangt. Dabei blieb er sitzen und schaute von unten her auf den Polizeihauptmann.
»Eh«, sagte der Hauptmann, »dann lass den Rapport sein. Kannst ihn später schreiben. Fahr jetzt ab. Am besten wär’s, du würdest noch ins Gerichtsmedizinische gehen. Vielleicht erfährst du etwas.«
Das habe er sowieso machen wollen, sagte Studer brummig, stand auf, nahm seinen Regenmantel, trat vor einen kleinen Spiegel und bürstete seinen Schnurrbart. Dann fuhr er zum Inselspital.
Der Assistent, der ihn empfing, trug eine wunderbar rot und schwarz gewürfelte Krawatte, die unter dem steifen Umlegkragen zu einem winzigen Knötchen zusammengezogen war. Wenn er sprach, legte er die Finger der einen Hand flach auf den Ballen der anderen und musterte mit kritischer, leicht angeekelter Miene seine Fingernägel.
»Witschi?« fragte der Assistent. »Wann ist er gekommen?«
»Mittwoch, Mittwochabend, Herr Doktor«, antwortete Studer und gebrauchte sein schönstes Schriftdeutsch.
»Mittwoch? Warten Sie, Mittwoch sagen Sie? Ach, ich weiß jetzt, die Alkoholleiche…«
»Alkoholleiche?« fragte Studer.
»Ja, denken Sie, 2,1 pro Mille Alkoholkonzentration im Blut. Der Mann muss gesoffen haben, bevor er erschossen wurde… Na, ich sage Ihnen, Herr Kommissär…«
»Wachtmeister«, stellte Studer trocken fest.
»Wir sagen bei uns Kommissär, es klingt besser. Verstehen Sie, bitte, nicht nur die Alkoholkonzentration, aber der Zustand der Organe, ich sage Ihnen, Herr Kommissär, so eine schöne Lebercirrhose habe ich noch nie gesehen. Fabelhaft, sage ich Ihnen. War der Mann nie in einer Irrenanstalt? Nicht? Nie weiße Mäuse gesehen oder Kinematograf an der Wand? Kleine Männer, die tanzen, wissen Sie? So einen schönen, richtiggehenden Delirium tremens? Nie gehabt? Ah, Sie wissen nicht. Schade. Und ist erschossen worden! Schätzungsweise eine Meter Distanz, keine Pulverspuren auf der Haut, darum ich sage eine Meter. Sie verstehen?«
Studer grübelte während des Wortschwalles über eine ganz nebensächliche Frage nach: welcher Nationalität der junge Mann mit dem kleinen Krawattenknötchen angehören könne… Endlich, auf das letzte: ›Sie verstehen?‹ war er im Bilde.
»Parla italiano?« fragte er freundlich.
»Ma sicuro!« Der Freudenausbruch des anderen war nicht mehr zu bremsen und Studer ließ ihn lächelnd vorbeirauschen.
Der Assistent war so begeistert, dass er Studers Arm zärtlich unter den seinen nahm und ihn in das Innere führte. Der Professor sei noch nicht da, aber er, der Assistent, sei genau so auf dem laufenden wie der Professor. Er habe selbst die Sektion gemacht. Studer fragte, ob er Witschi noch sehen könne. Das war möglich. Witschi war konserviert worden. Und bald stand Studer vor der Leiche.
Dies also war der Witschi Wendelin, geboren 1882, somit fünfzig Jahre alt: eine riesige Glatze, gelb wie altes Elfenbein; ein armseliger Schnurrbart, hängend, spärlich; ein weiches, schwammiges Doppelkinn… Am merkwürdigsten aber wirkte der ruhige Ausdruck des Gesichtes.
Ruhig, ja. Jetzt, im Tode. Aber es waren doch viel Runzeln in dem Gesicht… Gut, dass der Mann Witschi seine Sorgen los war…
Auf alle Fälle war es aber kein Säufergesicht und darum sagte Studer auch:
»Er sieht eigentlich nicht aus wie ein Wald- und Wiesenalkoholiker…«
»Wald und Wiesenalkoholiker!« Wunderbarer Ausdruck!
Die beiden begannen zu fachsimpeln. Zwischen ihnen lag noch immer der Körper des toten Witschi. So wie er da lag, war die Wunde hinter dem Ohr nicht zu sehen. Und während Studer mit dem Italiener über einen Fall von Versicherungsbetrug diskutierte, der in der Fachliteratur Aufsehen erregt hatte (ein Mann hatte sich erschossen und den Selbstmord als Mord kamoufliert), fragte Studer plötzlich:
»So etwas wäre hier nicht möglich, nicht wahr?« und er deutete mit dem Zeigefinger auf die Leiche.
»Ausgeschlossen«, sagte der Italiener, der sich inzwischen als Dr. Malapelle aus Mailand vorgestellt hatte.
»Ganz absolut unmöglich. Um die Wunde hervorzubringen, müsste er gehalten haben seinen Arm so:…« Und er demonstrierte die Bewegung mit ganz zum Schulterblatt hin verdrehtem Ellbogen. Statt des Revolvers hielt er seinen Füllfederhalter in der Hand. Die Spitze des Füllfederhalters war nur etwa zehn Zentimeter von der Stelle hinter dem rechten Ohr entfernt, an der an der Leiche die Einschussöffnung zu sehen war.
»Ausgeschlossen«, wiederholte er. »Es hätte Pulverspuren gegeben. Und gerade weil es keine solchen hat gegeben, haben wir geschlossen, die Distanz hat sein müssen mehr als ein Meter.«
»Hm«, meinte Studer. Er war nicht ganz überzeugt. Er schlug das Tuch zurück, das über dem Toten lag. Merkwürdig lange Arme hatte der Witschi…
»Ergebenheit!« sagte Studer laut, so, als habe er endlich ein lang gesuchtes Wort gefunden. Es bezog sich auf den Gesichtsausdruck des Toten.
»Fatalismo! Ganz richtig! Er hat gewusst, es ist alles aus. Aber ich weiß nicht, ob er hat gewusst, er muss sterben…«
»Ja«, gab Studer zu, »es kann sein, dass er etwas anderes erwartet hat. Aber etwas, gegen das man nicht ankämpfen kann…«
1 Commisvoyageur = Handlungsreisender <<<
2 veredeln (Botanik) <<<
Das Mädchen las einen Roman von Felicitas Rose. Einmal hielt sie das Buch hoch, sodass Studer den Umschlag sehen konnte: ein Herr in Reithosen und blanken Stiefeln lehnte an einer Balustrade, im Hintergrunde schwammen Schwäne auf einem Schlossteich und ein Fräulein in Weiß spielte verschämt mit ihrem Sonnenschirm.
»Warum lesen Sie eigentlich solchen Mist?« fragte Studer. – Es gibt gewisse Leute, die überempfindlich auf Jod und Brom sind, Idiosynkrasie nennt man dies… Studers Idiosynkrasie bezog sich auf Felicitas Rose und Courths-Mahler. Vielleicht, weil seine Frau früher solche Geschichten gerne gelesen hatte – nächtelang – dann war am Morgen der Kaffee dünn und lau gewesen und die Frau schmachtend. Und schmachtende Frauen am Morgen…
Das Mädchen sah bei der Frage auf, wurde rot und sagte böse: »Das geht Euch nichts an!« versuchte weiter zu lesen, aber dann schien es ihr doch zu verleiden, sie klappte das Buch zu und steckte es in eine Aktenmappe, in der, wie Studer feststellte, noch zwei schmutzige Taschentücher, ein Füllfederhalter von imposanter Dicke und eine Handtasche verstaut waren. Dann blickte das Mädchen zum Fenster hinaus.
Studer lächelte freundlich und betrachtete es aufmerksam. Er hatte Zeit…
Der Zug kroch durch eine graue Landschaft. Regentropfen zogen punktierte Linien aufs Glas, dann flossen sie, unten am Fenster, zu kleinen trüben Seelein zusammen. Und andere Regentropfen punktierten aufs neue die Scheibe… Hügel stiegen auf, ein Wald verbarg sich im Nebel…
Das Kinn des Mädchens war spitz. Laubflecken auf dem Nasensattel und an den sehr weißen Schläfen… Die hohen Absätze an den Schuhen waren an der Innenseite schief getreten. Sobald sich der Schuh verschob, ließ er ein Loch im dunklen Strumpf sehen, hinten, über der Ferse.
Das Mädchen hatte ein Abonnement gezeigt. Es musste die Strecke oft fahren. Wohin fuhr sie? Etwa auch nach Gerzenstein? Sie trug ein kleines Knötchen im Nacken, eine Baskenmütze über das rechte Ohr gezogen. Das blaue Béret war staubig.
Studer lächelte väterlich milde, als ihn ein Blick des Mädchens streifte. Aber das Väterlich-Milde zog nicht. Das Mädchen starrte zum Fenster hinaus.
Unruhig zuckten die Hände. Die kurzgeschnittenen Nägel hatten einen Trauerrand. Auf der Innenseite des rechten Zeigefingers war ein Tintenfleck.
Noch einmal öffnete das Mädchen die Mappe, kramte darin, fand schließlich das Gesuchte.
Es war ein dicker, echter Parker Duofold, ein ausgesprochen männlicher Füllfederhalter von brauner Farbe.
Das Mädchen schraubte die Hülse ab, probierte die Feder auf dem Daumennagel, holte sich noch einmal Felicitas Rose aus der Mappe, aber nicht, um darin zu lesen: die letzte Seite sollte als Übungsfeld dienen. Sie kritzelte. Studer starrte auf die Buchstaben, die entstanden:
»Sonja…« stand da. Und dann formte die Feder andere Buchstaben:
»Deine Dich ewig liebende Sonja…«
Studer wandte den Blick ab. Wenn das Mädchen jetzt aufsah, dann wurde es sicher verlegen oder böse. Man soll Leute nicht nutzlos böse oder verlegen machen. Man muss es ohnehin nur allzu oft tun, wenn man den Beruf eines Fahnders ausübt…
Der Zugführer ging durch den Wagen. An der Tür, die zum nächsten Abteil führte, wandte sich der Mann um:
»Gerzenstein«, sagte er laut.
Das Mädchen behielt den Füllfederhalter in der Hand, ließ Felicitas Rose mit dem schönen Grafen in gewichsten Reitstiefeln in der Mappe verschwinden und stand auf.
Ein Transformatorenhäuschen. Viele Einfamilienhäuser. Dann ein größeres Haus. Ein Schild darauf: ›Gerzensteiner Anzeiger. Druckerei Emil Äschbacher‹. Daneben, im Garten, ein Käfig aus Drahtgeflecht. Kleine bunte Sittiche hockten verfroren auf Stangen. Die Bremsen schrien. Studer stand auf, packte seinen Koffer am Griff und schritt zur Tür. Seine Gestalt im blauen Regenmantel füllte den Gang aus.
Es tröpfelte noch immer. Der Stationsvorstand hatte einen dicken Mantel angezogen, seine rote Mütze war das einzig Farbige in all dem Grau. Studer trat auf ihn zu und fragte ihn, wo hier der Gasthof zum ›Bären‹ sei.
»Die Bahnhofstraße hinauf, dann links, das erste große Haus mit einem Wirtsgarten daneben…« Der Stationsvorstand ließ Studer stehen.
Wo war das Mädchen geblieben? Das Mädchen, das auf die letzte Seite eines broschierten Romans mit kleiner, etwas zittriger Schrift geschrieben hatte: »Deine Dich ewig liebende Sonja…« Sonja? Es hießen nicht viele Mädchen Sonja…
Dort stand das Mädchen, vor dem Kiosk, dessen Fenster mit farbigen Einbänden tapeziert war. Es beugte sich zum kleinen Schiebfenster und Studer hörte es sagen:
»Ich geh jetzt heim, Mutter. Wann kommst du?«
Ein Gemurmel war die Antwort.
Also doch die Sonja Witschi… Und die Mutter musste man sich auch gleich ansehen. Die Mutter, die durch die Vermittlung des Herrn Gemeindepräsidenten Äschbacher den Bahnhofkiosk erhalten hatte.
Frau Witschi hatte die gleiche spitze Nase, das gleiche spitze Kinn wie ihre Tochter.
Studer kaufte zwei Brissagos, dann schlenderte er über den Bahnhofplatz. Eine Bogenlampe. Um ihren Sockel ein Beet mit roten, steifen Tulpen. Aus einem der oberen Fenster des Bahnhofes schmetterte ein Lautsprecher den Deutschmeistermarsch. Etwa fünfzig Schritte vor dem Wachtmeister ging das Mädchen Sonja.
Vor einem Coiffeurladen stand ein bleicher Jüngling, der einen weißen Mantel mit blauen Aufschlägen trug. Sonja trat auf den Jüngling zu, Studer blieb vor einem Laden stehen. Er schielte zu dem Paar hinüber, das sich flüsternd unterhielt, dann reichte das Mädchen dem Jüngling einen Gegenstand und trippelte davon. Aus der Tür des Coiffeurladens quoll eine knödlige Stimme: »Sie hören jetzt das Zeitzeichen des chronometrischen Observatoriums in Neuchâtel…« Und gedämpft, durch die geschlossene Türe drang aus dem Laden, vor dem Studer stand, der ›Sambre et Meuse‹-Marsch…
»Das Dorf Gerzenstein liebt Musik…«, stellte der Wachtmeister bei sich fest und betrat den Coiffeurladen.
Er stellte den Koffer ab, hing seinen blauen Regenmantel an den Ständer und nahm aufseufzend in einem Fauteuil1 Platz.
»Rasieren«, sagte er.
Als der Jüngling sich über Studer beugte, sah der Wachtmeister zwischen den blauen Aufschlägen des Friseurmantels, im oberen Westentäschchen, den dicken Füllfederhalter, den das Mädchen Sonja im Zuge aus der Mappe genommen hatte.
Studer fragte aufs Geratewohl:
»Gäbig, he? Wenn man eine Freundin hat, die einem einen teuren Füllfederhalter schenkt?«
Einen Augenblick blieb der schaumige Pinsel über seiner Wange hängen. Studer betrachtete die Hand, die den Pinsel hielt. Sie zitterte. Also stimmte etwas nicht. Aber was? Studer sah im Spiegel das Gesicht des Jünglings. Es war käsig. Die allzu roten Lippen waren geschürzt und ließen die oberen Zähne sehen, die bräunlich und schadhaft waren. Hatte sich Sonja in diesen Ladenschwengel verliebt? Da war doch der Schlumpf ein anderer Bursch, trotz seiner Vergangenheit, trotz seiner Verzweiflung gestern… Gestern? War das erst gestern gewesen? – Da hing einer am Fensterkreuz, da schrie einer in der Zelle, in der noch die Kälte des Winters hockte – und draußen vor den Fenstern sang eine Kleinmädchenstimme:
»Allewil, allewil blib i dir treu…«
Sanft strich der Pinsel wieder über Studers Wangen.
– Ob er ihn denn so erschreckt habe, fragte Studer den käsigen Jüngling. Der schüttelte den Kopf. Studer beruhigte ihn weiter. Da sei doch weiter nichts dabei, wenn man von einer Freundin ein Geschenk erhalte. Obwohl es ihn immerhin merkwürdig dünke, dass ein Mädchen, das Löcher in den Strümpfen habe, so teure Füllfederhalter verschenken könne…
– Der Füllfederhalter sei eine Erbschaft vom Vater… ja eine Erbschaft.
Die Stimme des Jünglings war heiser, so, als ob Mund, Zunge, Rachen ausgedörrt seien.
In der Ecke schnatterte der Lautsprecher – und plötzlich gab es Studer einen Ruck. Was der Mann irgendwo, ganz fern, am Mikrophon erzählte, ging auch ihn an. Der Jüngling, der abwesend mit dem Pinsel in dem Becken gerührt hatte, stellte seine Tätigkeit ein und verharrte reglos.
Besonders eindringlich sagte die ferne Stimme:
»Bevor wir unser Mittagskonzert fortsetzen, habe ich Ihnen noch eine kurze Mitteilung der kantonalen Polizeidirektion Bern zu machen: Seit gestern Abend wird Herr Jean Cottereau, Obergärtner in den Baumschulen Ellenberger, Gerzenstein, vermisst. Es scheint sich um eine brutale Entführung zu handeln, deren Hintergründe bis jetzt noch nicht aufgehellt sind. Der Vermisste kehrte gestern Abend in Begleitung seines Meisters, Herrn Ellenberger, mit dem Zehn-Uhr-Zug von Bern heim. Gerade als beide in den Feldweg einbiegen wollten, der außerhalb des Dorfes Gerzenstein liegt, wurden sie von einem Auto mit gelöschten Lichtern von hinten angefahren. Herr Gottlieb Ellenberger fiel mit dem Kopfe gegen einen Randstein und erlitt eine leichte Gehirnerschütterung. Als er aus einer kurzen Ohnmacht erwachte, sah er, dass sein Begleiter, Herr Jean Cottereau, verschwunden war. Von dem Auto war keine Spur zu entdecken. Trotz heftiger Kopfschmerzen begab sich Herr Ellenberger auf den Posten der Kantonspolizei. Die mit Hilfe des Landjägerkorporals Murmann und einiger Einwohner durchgeführte Streife in die Umgebung des Dorfes verlief resultatlos. Bis jetzt ist von dem Vermissten keine Spur zu entdecken gewesen. Das Signalement2 des Vermissten gibt die Kantonspolizei wie folgt an:
Größe 1 Meter 60, korpulent, rotes Gesicht, spärliche Haare, schwarzer Anzug… Sachdienliche Mitteilungen sind zu richten…«
Der Jüngling machte einige schleichende Schritte. Ein Knax. Die Stimme verstummte. Dann kam der Jüngling zurück. Das Klappen des Messers auf dem Abziehholz war deutlich zu hören.
»Geht’s Messer?« fragte er, als er eine Wange rasiert hatte.
Studer brummte.
Dann wieder Schweigen.