Mitten auf diese mystische Nacht, in die Anaximander’s Problem vom Werden gehüllt war, trat Heraklit aus Ephesus zu und erleuchtete sie durch einen göttlichen Blitzschlag. »Das Werden schaue ich an, ruft er, und Niemand hat so aufmerksam diesem ewigen Wellenschlage und Rhythmus der Dinge zugesehen. Und was schaute ich? Gesetzmäßigkeiten, unfehlbare Sicherheiten, immer gleiche Bahnen des Rechtes, hinter allen Überschreitungen der Gesetze richtende Erinnyen, die ganze Welt das Schauspiel einer waltenden Gerechtigkeit und dämonisch allgegenwärtiger, ihrem Dienste untergebener Naturkräfte. Nicht die Bestrafung des Gewordenen schaute ich, sondern die Rechtfertigung des Werdens. Wann hat sich der Frevel, der Abfall in unverbrüchlichen Formen, in heilig geachteten Gesetzen offenbart? Wo die Ungerechtigkeit waltet, da ist Willkür, Unordnung, Regellosigkeit, Widerspruch; wo aber daß Gesetz und die Tochter des Zeus, die Dike, allein regiert, wie in dieser Welt, wie sollte da die Sphäre der Schuld, der Buße, der Verurteilung und gleichsam die Richtstätte aller Verdammten sein?«
Aus dieser Intuition entnahm Heraklit zwei zusammenhängende Verneinungen, die erst durch die Vergleichung mit den Lehrsätzen seines Vorgängers in das helle Licht gerückt werden. Einmal leugnete er die Zweiheit ganz diverser Welten, zu deren Annahme Anaximander gedrängt worden war; er schied nicht mehr eine physische Welt von einer metaphysischen, ein Reich der bestimmten Qualitäten von einem Reich der undefinirbaren Unbestimmtheit ab. Jetzt, nach diesem ersten Schritte, konnte er auch nicht mehr von einer weit größeren Kühnheit des Verneinens zurückgehalten werden: er leugnete überhaupt das Sein. Denn diese eine Welt, die er übrig behielt – umschirmt von ewigen ungeschriebenen Gesetzen, auf- und niederfluthend im ehernen Schlage des Rhythmus –, zeigt nirgends ein Verharren, eine Unzerstörbarkeit, ein Bollwerk im Strome. Lauter als Anaximander rief Heraklit es aus: »Ich sehe nichts als Werden. Laßt euch nicht täuschen! In eurem kurzen Blick liegt es, nicht im Wesen der Dinge, wenn ihr irgendwo festes Land im Meere des Werdens und Vergehens zu sehen glaubt. Ihr gebraucht Namen der Dinge, als ob sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Male steigt, ist nicht derselbe als bei dem ersten Male.«
Heraklit hat als sein königliches Besitzthum die höchste Kraft der intuitiven Vorstellung; während er gegen die andre Vorstellungsart, die in Begriffen und logischen Kombinationen vollzogen wird, also gegen die Vernunft, sich kühl, unempfindlich, ja feindlich zeigt und ein Vergnügen zu empfinden scheint, wenn er ihr mit einer intuitiv gewonnenen Wahrheit widersprechen kann: und dies thut er in Sätzen wie »Alles hat jederzeit das Entgegengesetzte an sich« so ungescheut, daß Aristoteles ihn des höchsten Verbrechens vor dem Tribunale der Vernunft zeiht, gegen den Satz vom Widerspruch gesündigt zu haben. Die intuitive Vorstellung aber umfaßt zweierlei: einmal die gegenwärtige, in allen Erfahrungen an uns heran sich drängende bunte und wechselnde Welt, sodann die Bedingungen, durch die jede Erfahrung von dieser Welt erst möglich wird, Zeit und Raum. Denn diese können, wenn sie auch ohne bestimmten Inhalt sind, unabhängig von jeder Erfahrung und rein an sich intuitiv percipirt, also angeschaut werden. Wenn nun Heraklit in dieser Weise die Zeit, losgelöst von allen Erfahrungen betrachtet, so hatte er an ihr das belehrendste Monogramm alles Dessen, was überhaupt unter das Bereich der intuitiven Vorstellung fällt. So wie er die Zeit erkannte, erkannte sie zum Beispiel auch Schopenhauer, als welcher von ihr wiederholt aussagt: daß in ihr jeder Augenblick nur ist, sofern er den vorhergehenden, seinen Vater, vertilgt hat, um selbst ebenso schnell wieder vertilgt zu werden; daß Vergangenheit und Zukunft so nichtig als irgend ein Traum sind, Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Grenze zwischen beiden sei; daß aber, wie die Zeit, so der Raum, und wie dieser, so auch Alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, nur ein relatives Dasein hat, nur durch und für ein Anderes, ihm Gleichartiges, d. h. wieder nur ebenso Bestehendes, sei. Dies ist eine Wahrheit von der höchsten unmittelbaren, Jedermann zugänglichen Anschaulichkeit und eben darum begrifflich und vernünftig sehr schwer zu erreichen. Wer sie vor Augen hat, muß aber auch sofort zu der heraklitischen Consequenz weitergehen und sagen, daß das ganze Wesen der Wirklichkeit eben nur Wirken ist und daß es für sie keine andere Art Sein giebt; wie dies ebenfalls Schopenhauer dargestellt hat (Welt als Wille und Vorstellung Band I, erstes Buch § 4): »Nur als wirkend füllt sie den Raum, füllt sie die Zeit: ihre Einwirkung auf das unmittelbare Objekt bedingt die Anschauung, in der sie allein existirt: die Folge der Einwirkung jedes andern materiellen Objekts auf ein anderes wird nur erkannt, sofern das Letztere jetzt anders als zuvor auf das unmittelbare Objekt einwirkt, besteht nur darin. Ursache und Wirkung ist also das ganze Wesen der Materie: ihr Sein ist ihr Wirken. Höchst treffend ist deshalb im Deutschen der Inbegriff alles Materiellen Wirklichkeit genannt, welches Wort viel bezeichnender ist als Realität. Das, worauf sie wirkt, ist allemal wieder Materie: ihr ganzes Sein und Wesen besteht also nur in der gesetzmäßigen Veränderung, die ein Theil derselben im anderen hervorbringt, ist folglich gänzlich relativ, nach einer nur innerhalb ihrer Grenzen geltenden Relation, also eben wie die Zeit, eben wie der Raum.«
Das ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist, wie dies Heraklit lehrt, ist eine furchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem Einflusse am nächsten der Empfindung verwandt, mit der Jemand, bei einem Erdbeben, das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert. Es gehörte eine erstaunliche Kraft dazu, diese Wirkung in das Entgegengesetzte, in das Erhabne und das beglückte Erstaunen zu übertragen. Dies erreichte Heraklit durch eine Beobachtung über den eigentlichen Hergang jedes Werdens und Vergehens, welchen er unter der Form der Polarität begriff, als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkeiten. Fortwährend entzweit sich eine Qualität mit sich selbst und scheidet sich in ihre Gegensätze: fortwährend streben diese Gegensätze wieder zu einander hin. Das Volk meint zwar, etwas Starres, Fertiges, Beharrendes zu erkennen; in Wahrheit ist in jedem Augenblick Licht und Dunkel, Bitter und Süß bei einander und an einander geheftet, wie zwei Ringende, von denen bald der eine bald der andre die Obmacht bekommt. Der Honig ist, nach Heraklit, zugleich bitter und süß, und die Welt selbst ist ein Mischkrug, der beständig umgerührt werden muß. Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden: die bestimmten als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Übergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort. Alles geschieht gemäß diesem Streite, und gerade dieser Streit offenbart die ewige Gerechtigkeit. Es ist eine wundervolle, aus dem reinsten Borne des Hellenischen geschöpfte Vorstellung, welche den Streit als das fortwährende Walten einer einheitlichen, strengen, an ewige Gesetze gebundenen Gerechtigkeit betrachtet. Nur ein Grieche war im Stande, diese Vorstellung als Fundament einer Kosmodicee zu finden; es ist die gute Eris Hesiod’s zum Weltprincip verklärt, es ist der Wettkampfgedanke der einzelnen Griechen und des griechischen Staates, aus den Gymnasien und Palästren, aus den künstlerischen Agonen, aus dem Ringen der politischen Parteien und der Städte mit einander in’s Allgemeinste übertragen, so daß jetzt das Räderwerk des Kosmos in ihm sich dreht. Wie jeder Grieche kämpft, als ob er allein im Recht sei, und ein unendlich sicheres Maaß des richterlichen Urtheils in jedem Augenblick bestimmt, wohin der Sieg sich neigt, so ringen die Qualitäten mit einander, nach unverbrüchlichen, dem Kampfe immanenten Gesetzen und Maaßen. Die Dinge selbst, an deren Feststehen und Standhalten der enge Menschen- und Thierkopf glaubt, haben gar keine eigentliche Existenz, sie sind das Erblitzen und der Funkenschlag gezückter Schwerter, sie sind das Aufglänzen des Siegs, im Kampfe der entgegengesetzten Qualitäten.
Jenen Kampf, der allem Werden eigentümlich ist, jenen ewigen Wechsel des Sieges schildert wiederum Schopenhauer (Welt als Wille und Vorstellung Band I, zweites Buch § 27): »Beständig muß die beharrende Materie die Form wechseln, indem, am Leitfaden der Kausalität, mechanische, physische, chemische, organische Erscheinungen, sich gierig zum Hervortreten drängend, einander die Materie entreißen, da Jede ihre Idee offenbaren will. Durch die gesammte Natur läßt sich dieser Streit verfolgen, ja, sie besteht eben wieder nur durch ihn.« Die folgenden Seiten geben die merkwürdigsten Illustrationen dieses Streites: nur daß der Grundton dieser Schilderungen immer ein andrer bleibt als bei Heraklit, sofern der Kampf für Schopenhauer ein Beweis von der Selbst-Entzweiung des Willens zum Leben, ein An-sich-selber-Zehren dieses finstren dumpfen Triebes ist, als ein durchweg entsetzliches, keineswegs beglückendes Phänomen. Der Tummelplatz und der Gegenstand dieses Kampfes ist die Materie, welche die Naturkräfte wechselseitig einander zu entreißen suchen, wie auch Raum und Zeit, deren Vereinigung durch die Causalität eben die Materie ist.
Während die Imagination Heraklit’s das rastlos bewegte Weltall, die »Wirklichkeit«, mit dem Auge des beglückten Zuschauers maß, der zahllose Paare, im freudigen Kampfspiele, unter der Obhut strenger Kampfrichter ringen sieht, überkam ihn eine noch höhere Ahnung; er konnte die ringenden Paare und die Richter nicht mehr getrennt von einander betrachten, die Richter selbst schienen zu kämpfen, die Kämpfer selbst schienen sich zu richten – ja, da er im Grunde nur die ewig waltende eine Gerechtigkeit wahrnahm, so wagte er auszurufen: »Der Streit des Vielen selbst ist die reine Gerechtigkeit! Und überhaupt: das Eine ist das Viele. Denn was sind alle jene Qualitäten dem Wesen nach? Sind sie unsterbliche Götter? Sind sie getrennte, von Anfang und ohne Ende für sich wirkende Wesen? Und wenn die Welt, die wir sehen, nur Werden und Vergehn, aber kein Beharren kennt, sollten vielleicht gar jene Qualitäten eine anders geartete metaphysische Welt constituiren, zwar keine Welt der Einheit, wie sie Anaximander hinter dem flatternden Schleier der Vielheit suchte, aber eine Welt ewiger und wesenhafter Vielheiten?« – Ist Heraklit, auf einem Umwege, vielleicht doch wieder in die doppelte Weltordnung, so heftig er sie verneinte, hineingerathen, mit einem Olymp zahlreicher unsterblicher Götter und Dämonen – nämlich vieler Realitäten – und mit einer Menschenwelt, die nur das Staubgewölk des olympischen Kampfes und das Aufglänzen göttlicher Speere – das heißt nur ein Werden – sieht? Anaximander hatte sich gerade vor den bestimmten Qualitäten in den Schooß des metaphysischen »Unbestimmten« geflüchtet; weil diese wurden und vergiengen, hatte er ihnen das wahre und lernhafte Dasein abgesprochen; sollte es jetzt aber nicht scheinen, als ob das Weiden nur das Sichtbarwerden eines Kampfes ewiger Qualitäten ist? Sollte es nicht auf die eigenthümliche Schwäche der menschlichen Erkenntniß zurückgehn, wenn wir vom Werden reden – während es im Wesen der Dinge vielleicht gar kein Werden giebt, sondern nur ein Nebeneinander vieler wahrer ungewordner unzerstörbarer Realitäten?
Dies sind unheraklitische Auswege und Irrpfade: er ruft noch einmal: »Das Eine ist das Viele.« Die vielen wahrnehmbaren Qualitäten sind weder ewige Wesenheiten, noch Phantasmata unsrer Sinne (als jene denkt sie sich später Anaxagoras, als diese Parmenides), sie sind weder starres selbstherrliches Sein, noch flüchtiger in Menschenköpfen wandelnder Schein. Die dritte, für Heraklit allein zurückbleibende Möglichkeit wird Niemand mit dialektischem Spürsinn und gleichsam rechnend errathen können: denn was er hier erfand, ist eine Seltenheit, selbst im Bereiche mystischer Unglaublichkeiten und unerwarteter kosmischer Metaphern. – Die Welt ist das Spiel des Zeus, oder physikalischer ausgedrückt, des Feuers mit sich selbst, das Eine ist nur in diesem Sinne zugleich das Viele. –
Um zunächst die Einführung des Feuers als einer weltbildenden Kraft zu erläutern, erinnere ich daran, in welcher Weise Anaximander die Theorie vom Wasser als dem Ursprung der Dinge weitergebildet hatte. Im Wesentlichen darin Thales Vertrauen schenkend und seine Beobachtungen stärkend und vermehrend, war Anaximander doch nicht zu überzeugen, daß es vor dem Wasser und gleichsam hinter dem Wasser keine weitere Qualitätsstufe gäbe: sondern aus Warm und Kalt schien ihm das Feuchte selbst sich zu bilden, und Warm und Kalt sollten daher die Vorstufen des Wassers, die noch ursprünglicheren Qualitäten sein. Mit ihrer Ausscheidung aus dem Ursein des »Unbestimmten« beginnt das Werden. Heraklit, der als Physiker sich der Bedeutung Anaximander’s unterordnete, deutet sich dieses anaximandrische Warme um als den Hauch, den warmen Athem, die trocknen Dünste, kurz als das Feurige: von diesem Feuer sagt er nun Dasselbe aus, was Thales und Anaximander vom Wasser ausgesagt hatten, es durchlaufe in zahllosen Verwandlungen die Bahn des Werdens, vor Allem in den drei Hauptzuständen, als Warmes, Feuchtes, Festes. Denn das Wasser geht theils im Niedersteigen zur Erde, im Aufsteigen zum Feuer über: oder wie sich Heraklit genauer ausgedrückt zu haben scheint: aus dem Meere steigen nur die reinen Dünste auf, welche dem himmlischen Feuer der Gestirne zur Nahrung dienen, aus der Erde nur die dunklen, nebeligen, aus denen das Feuchte seine Nahrung zieht. Die reinen Dünste sind der Übergang des Meeres zum Feuer, die unreinen der Übergang der Erde zum Wasser. So laufen fortwährend die beiden Verwandlungsbahnen des Feuers, aufwärts und abwärts, hin und zurück, nebeneinander her, vom Feuer zum Wasser, von da zur Erde, von der Erde wieder zurück zum Wasser, vom Wasser zum Feuer. Während Heraklit in den wichtigsten dieser Vorstellungen, zum Beispiel darin, daß das Feuer durch die Ausdünstungen unterhalten wird, oder darin, daß aus dem Wasser theils Erde, theils Feuer sich absondert, Anhänger des Anaximander ist, so ist er darin selbständig und im Widerspruch mit Jenem, daß er das Kalte aus dem physikalischen Proceß ausschließt, während Anaximander es als gleichberechtigt neben das Warme gestellt hatte, um aus beiden das Feuchte entstehen zu lassen. Dies zu thun war freilich für Heraklit eine Nothwendigkeit: denn wenn Alles Feuer sein soll, so kann, bei allen Möglichkeiten seiner Umwandlung, es doch Nichts geben, was sein absoluter Gegensatz wäre; er wird also Das, was man das Kalte nennt, nur als Grad des Warmen gedeutet haben und konnte diese Deutung ohne Schwierigkeiten rechtfertigen. Viel wichtiger aber als diese Abweichung von der Lehre Anaximander’s ist eine weitere Übereinstimmung: er glaubt wie Jener an einen periodisch sich wiederholenden Weltuntergang und an ein immer erneutes Hervorsteigen einer andern Welt aus dem Alles vernichtenden Weltbrande. Die Periode, in der die Welt jenem Weltbrande und der Auflösung in das reine Feuer entgegeneilt, wird von ihm höchst auffallender Weise als ein Begehren und Bedürfen charakterisirt, das volle Verschlungensein im Feuer als die Sattheit; und es bleibt uns die Frage übrig, wie er den neuen erwachenden Trieb der Weltbildung, das Sich-Ausgießen in die Formen der Vielheit, verstanden und benannt hat. Das griechische Sprüchwort scheint uns mit dem Gedanken zu Hülfe zu kommen, daß »Sattheit den Frevel (die Hybris) gebiert«; und in der That kann man sich einen Augenblick fragen, ob Heraklit vielleicht jene Rückkehr zur Vielheit aus der Hybris hergeleitet hat. Man nehme diesen Gedanken einmal ernst: in seiner Beleuchtung verwandelt sich, vor unseren Blicken, das Gesicht Heraklit’s, das stolze Leuchten seiner Augen erlischt, ein faltiger Zug schmerzlicher Entsagung, der Ohnmacht prägt sich aus, es scheint, daß wir wissen, warum das spätere Alterthum ihn den »weinenden Philosophen« nannte. Ist jetzt nicht der ganze Weltproceß ein Bestrafungsakt der Hybris? Die Vielheit das Resultat eines Frevels? Die Verwandlung des Reinen in das Unreine Folge der Ungerechtigkeit? Wird jetzt nicht die Schuld in den Kern der Dinge verlegt, und somit zwar die Welt des Werdens und der Individuen von ihr entlastet, aber zugleich ihre Folgen zu tragen immer von Neuem wieder verurtheilt?
Jenes gefährliche Wort, Hybris, ist in der That der Prüfstein für jeden Herakliteer; hier mag er zeigen, ob er seinen Meister verstanden oder verkannt hat. Giebt es Schuld, Ungerechtigkeit, Widerspruch, Leid in dieser Welt?
Ja, ruft Heraklit, aber nur für den beschränkten Menschen, der auseinander und nicht zusammen schaut, nicht für den contuitiven Gott; für ihn läuft alles Widerstrebende in eine Harmonie zusammen, unsichtbar zwar für das gewöhnliche Menschenauge, doch Dem verständlich, der, wie Heraklit, dem beschaulichen Gotte ähnlich ist. Vor seinem Feuerblick bleibt kein Tropfen von Ungerechtigkeit in der um ihn ausgegossnen Welt zurück; und selbst jener cardinale Anstoß, wie das reine Feuer in so unreine Formen einziehen könne, wird von ihm durch ein erhabnes Gleichniß überwunden. Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Neon mit sich. Sich verwandelnd in Wasser und Erde, thürmt er wie ein Kind Sandhaufen am Meere, thürmt auf und zertrümmert: von Zeit zu Zeit fängt er das Spiel von Neuem an. Ein Augenblick der Sättigung: dann ergreift ihn von Neuem das Bedürfniß, wie den Künstler zum Schaffen das Bedürfniß zwingt. Nicht Frevelmuth, sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andre Welten in’s Leben. Das Kind wirft einmal das Spielzeug weg: bald aber fängt es wieder an, in unschuldiger Laune. Sobald es aber baut, knüpft, fügt und formt es gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen.
So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und an dem Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, wie Nothwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerkes paaren müssen.
Wer wird nun von einer solchen Philosophie noch eine Ethik, mit den nöthigen Imperativen »Du sollst« verlangen oder gar einen solchen Mangel dem Heraklit zum Vorwurf machen! Der Mensch ist bis in seine letzte Faser hinein Nothwendigkeit und ganz und gar »unfrei«, – wenn man unter Freiheit den närrischen Anspruch, seine essentia nach Willkür wie ein Kleid wechseln zu können, versteht, einen Anspruch, den jede ernste Philosophie bisher mit dem gebührenden Hohne zurückgewiesen hat. Daß so wenig Menschen mit Bewußtsein in dem Logos und in Gemäßheit des Alles überschauenden Künstlerauges leben, das rührt daher, daß ihre Seelen naß sind und daß des Menschen Augen und Ohren, überhaupt ihr Intellekt ein schlechter Zeuge ist, wenn »feuchter Schlamm ihre Seelen einnimmt«. Warum das so ist, wird nicht gefragt, ebenso wenig, warum Feuer zu Wasser und Erde wird, Heraklit hat ja keinen Grund, nachweisen zu müssen (wie ihn Leibniz hatte), daß diese Welt sogar die allerbeste sei, es genügt ihm, daß sie das schöne unschuldige Spiel des Aeon ist. Der Mensch gilt ihm sogar im Allgemeinen als ein unvernünftiges Wesen: womit nicht streitet, daß sich in allem seinem Wesen das Gesetz der allwaltenden Vernunft erfüllt. Er nimmt gar nicht eine besonders bevorzugte Stellung in der Natur ein, deren höchste Erscheinung das Feuer, zum Beispiel als Gestirn, ist, aber nicht der einfältige Mensch. Hat dieser am Feuer einen Antheil durch die Nothwendigkeit erhalten, so ist er etwas vernünftiger, soweit er aus Wasser und Erde besteht, steht es schlimm mit seiner Vernunft. Eine Verpflichtung, daß er den Logos erkennen müsse, weil er Mensch sei, existirt nicht. Warum giebt es aber Wasser, warum giebt es Erde? Dies ist für Heraklit ein viel ernsteres Problem, als zu fragen, warum die Menschen so dumm und schlecht seien. In dem höchsten und in dem verkehrtesten Menschen offenbart sich die gleiche immanente Gesetzmäßigkeit und Gerechtigkeit. Wenn man aber Heraklit die Frage vorrücken wollte: warum ist das Feuer nicht immer Feuer, warum ist es jetzt Wasser, jetzt Erde?, so würde er eben nur antworten »es ist ein Spiel, nehmt’s nicht zu pathetisch, und vor Allem nicht moralisch!« Heraklit beschreibt nur die vorhandne Welt und hat an ihr das beschauliche Wohlgefallen, mit dem der Künstler auf sein werdendes Werk schaut. Düster, schwermüthig, thränenreich, finster, schwarzgallig, pessimistisch und überhaupt hassenswürdig finden ihn nur Die, welche mit seiner Naturbeschreibung des Menschen nicht zufrieden zu sein Ursache haben. Diese aber würde er, sammt ihren Antipathien und Sympathien, ihrem Haß und ihrer Liebe, für gleichgültig halten und ihnen etwa mit solchen Belehrungen dienen »die Hunde bellen Jeden an, den sie nicht kennen« oder »dem Esel ist Spreu lieber als Gold«.
Von solchen Unzufriednen rühren auch die zahlreichen Klagen über die Dunkelheit des heraklitischen Stils her: wahrscheinlich hat nie ein Mensch heller und leuchtender geschrieben. Freilich sehr kurz, und deshalb allerdings für die lesenden Schnellläufer dunkel. Wie aber ein Philosoph undeutlich, mit Absicht, schreiben sollte – was man Heraklit nachzusagen pflegt – ist völlig unerklärlich: falls er nicht Grund hat, Gedanken zu verbergen, oder Schelm genug ist, seine Gedankenlosigkeit unter Worten zu verstecken. Muß man doch sogar, wie Schopenhauer sagt, in Angelegenheiten des gewöhnlichen praktischen Lebens sorgfältig, durch Deutlichkeit, möglichen Mißverständnissen vorbeugen; wie denn sollte man im schwierigsten, abstrusesten, kaum erreichbaren Gegenstande des Denkens, den Aufgaben der Philosophie, sich unbestimmt, ja räthselhaft ausdrücken dürfen? Was aber die Kürze anbetrifft, so giebt Jean Paul eine gute Lehre. »Im Ganzen ist es recht, wenn alles Große – von vielem Sinn für einen seltnen Sinn – nur kurz und (daher) dunkel ausgesprochen wird, damit der kahle Geist es lieber für Unsinn erkläre, als in seinen Leersinn übersetze. Denn die gemeinen Geister haben eine häßliche Geschicklichkeit, im tiefsten und reichsten Spruch nichts zu sehen als ihre eigne alltägliche Meinung«. Übrigens und trotzdem ist Heraklit den »kahlen Geistern« nicht entgangen; bereits die Stoiker haben ihn in’s Flache umgedeutet und seine ästhetische Grundperception vom Spiel der Welt zu der gemeinen Rücksicht auf Zweckmäßigkeiten der Welt und zwar für die Vortheile der Menschen herabgezogen: so daß aus seiner Physik, in jenen Köpfen, ein cruder Optimismus, mit der fortwährenden Aufforderung an Hinz und Kunz zum plaudite amici, geworden ist.