Loe raamatut: «Handbuch Wandertourismus»

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Gabriele M. Knoll

Handbuch Wandertourismus

für Ausbildung und Praxis

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz

mit UVK/Lucius · München

Dr. Gabriele M. Knoll lehrt Nachhaltigen Tourismus an der Hochschule Rhein-Waal in Kleve. Sie hat bei diversen Tourismusprojekten im In- und Ausland mitgearbeitet und ist Autorin touristischer Fach- und Lehrbücher sowie zahlreicher Reiseführer.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2016

Lektorat: Rainer Berger

Cover: Atelier Reichert, Stuttgart

Covermotiv: Gabriele M. Knoll, Wachtendonk

eBook-Produktion: Pustet, Regensburg

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz

Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98

www.uvk.de

UTB-Nr. 4548

ISBN 978-3-8252-4548-1 (Print) ISBN 978-3-8463-4548-1 (ePUB)

Vorwort

Wandern ist weit mehr als die Fortbewegung – in der Regel zu Fuß – von Punkt A nach Punkt B. Wandern ist auch ein spannendes Kapitel Kulturgeschichte: Davon wurden einst Frauen systematisch ausgeschlossen, der Sonntagsspaziergang war einmal eine revolutionäre Aktivität und die Selbstverständlichkeit, mit der man heutzutage Landschaften als „schön“ bezeichnet und sich gerne zum Vergnügen darin bewegt, ist auch eine relativ junge Ansicht.

Deutschland kann man im aktuellen Wandertourismus durchaus als Trendsetter bezeichnen, denn das Qualitätsmanagement rund ums Wandern wird zunehmend von anderen Nationen übernommen. Umso interessanter ist dabei ein Blick über den „deutschen Tellerrand“, der mit einigen Beispielen zeigt, womit man sich in anderen Destinationen herumschlagen muss.

Dieses Handbuch kann und will nicht mit enzyklopädischer Vollständigkeit alle Aspekte des Wandertourismus darstellen, das ist als Einsteiger-Literatur für Ausbildung, Studium und Praxis auch nicht nötig. Dafür gibt es O-Töne von erfahrenen Touristikern, die hier schon wertvolle Erfahrungen und Anregungen aus und für die Praxis weitergeben – bevor diese vielleicht eines Tages einmal in wissenschaftlichen Studien auf eine Kommastelle genau ermittelt wurden.

Aus meiner Lehrtätigkeit kann ich auch beklagen, dass ein Grundwissen und eigene Erfahrungen mit dem Wandern selbst in einem Tourismusstudiengang eher mangelhaft vorhanden sind. Deshalb habe ich als abschließendes Kapitel eine Ermutigung zum Selbstversuch geschrieben, damit der Touristikernachwuchs überhaupt eine Ahnung von den Facetten des Wanderns bekommen und sich besser in die Situation seiner Gäste hineinversetzen kann.

Und schließlich schadet es nicht, wenn der junge Mensch den Wert dieser Outdooraktivität schon erkennt und schätzen lernt, bevor er in der Altersgruppe der aktivsten Wanderer, der Best Ager, ankommt. Mal Abstand gewinnen, die Seele baumeln lassen und eine kleine Auszeit aus dem täglichen Stress nehmen, wie die wissenschaftlich ermittelten Motive der Wanderer lauten, das soll auch ein Zweck dieses Handbuchs sein!

Wachtendonk, im April 2016

Gabriele M. Knoll

♦ Hinweis zu verwendeten Online-Ressourcen

Sehr viele Informationen rund um den Wandertourismus finden Sie online. Im Buch befinden sich deswegen auch zahlreiche Hinweise, Linktipps und Verweise auf (zitierte) Websites. Diese Websites wurden alle im Zeitraum von Januar 2015 bis März 2016 abgerufen. Einige wenige Links im Fließtext mussten teilweise umbrochen werden. Sehr lange Links wurden mithilfe des Kurz-URL-Dienstes bit.ly gekürzt.

1 Eine Zeitreise zu Fuß – Aus der Geschichte des Wanderns
1.1 „Das Wandern ist des Müllers Lust“ – berufsbedingt zu Fuß durch halb Europa

♦ Auf einen Blick

In diesem Kapitel werden folgende Aspekte und Fragen behandelt:

 Welche Formen der Fußwanderung gehören zur europäischen Kulturgeschichte?

 In welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen sind die Anfänge des modernen Wandertourismus zu finden?

 Worin lag der Protest, seine Wanderschuhe zu schnüren und auf Tour zu gehen?

 Der „spießige“ Sonntagsspaziergang war einmal revolutionär!

 Weshalb war es sinnvoll, Wandervereine zu gründen?

Nicht die Wanderfreude eines bestimmten Herrn Müller wird in dem alten Volkslied „Das Wandern ist des Müllers Lust“ besungen, sondern die berufliche Weiterbildung der Müllergesellen im Allgemeinen. Nach den Zunftordnungen war es für das Gros der Handwerksgesellen vom 14. noch bis ins 19. Jahrhundert Pflicht, auf Wanderschaft, auf die Walz zu gehen, in der Ferne bei anderen Meistern zu lernen, und mindestens vier bis sechs Jahre lang ihren Heimatbezirk nicht zu betreten. Erst mit der Aufhebung der Zünfte und neuen Gewerbeordnungen im 19. Jahrhundert erledigte sich dieser historische Zwang zur beruflichen Mobilität.

Bei den beruflichen Lehr- und Wanderjahren war nicht nur durch den technischen Stand des Verkehrswesen in jenen Zeiten, sondern auch durch soziale Spielregeln für Handwerker – und andere Angehörige unterer Schichten – die Fußreise die einzige Möglichkeit, von A nach B zu kommen. „Ein reitender Handwerksgeselle oder ein Bauer in der gemieteten „Extra-Post“ wären in der Standesgesellschaft undenkbar gewesen. Die Höhe des Pferderückens und der Radachse drückte symbolisch auch die Position in der gesellschaftlichen Hierarchie aus.“ (KASCHUBA (1991), S. 166)

Es konnten beachtliche Entfernungen sein, die die Handwerksgesellen auf ihrer Walz – wenn auch über mehrere Jahre verteilt – zurücklegten. Die geographischen Dimensionen von Handwerkerwanderungen können dabei durchaus beachtlich gewesen sein, wenn beispielsweise Maurer oder Steinmetze danach strebten, in den Dombauhütten oder auf den großen Schlossbaustellen bei den berühmtesten Baumeistern bzw. Architekten zu lernen und zu arbeiten. „Aus mitteleuropäischer Sicht umfaßte die geographische Ausdehnung handwerklicher Mobilität die deutschsprachigen Länder, die gesamte Schweiz, die flämischen und wallonischen Niederlande, Frankreich (vor allem den Westen und Paris), Italien (meist nur bis Rom), Böhmen und Mähren, Polen, das Königreich Ungarn unter Einschluß von Kroatien und Siebenbürgen, das Baltikum bis nach St. Petersburg, Dänemark und das südliche Schweden. Offensichtlich deckten sich häufig die Kommunikationsräume des Handwerks mit den Verkehrsräumen des Handels, wobei Großbritannien und die Iberische Halbinsel für die Handwerker doch eher abseits lagen.“ (ELKAR (1991), S. 57f.)

♦ Wissen: Auf der Walz (1834)

„Es war nicht nur meine Lust zum Reisen, weil ich hoffte, dadurch meine Gesundheit zu stärken, sondern es war Pflicht des jungen Handwerkers, ca. 3 Jahre ins Ausland zu reisen, ehe er in Hamburg ein selbständiges Geschäft anfangen konnte.

Ostern 1834 machte ich mich reisefertig. Mein Gepäck war nur ca. 15 Pfund schwer, mein Ränzel also nur klein. Er enthielt Rock, Hose, Weste, dann ein paar Strümpfe, 2 Hemden und einige Taschentücher. – Mein Anzug bestand aus Hose, Weste und Kittel, dann einem Paar kräftiger Schuhe, welche auf jeder Reise aushielten, und Filzhut. – Dann noch im Ränzel Witschels „Morgen- und Abendopfer“, und ein französisches Sprachenlehrbuch zum Üben auf der Reise. – In der Tasche hatte ich eine Miniaturausgabe von Seumes’s Gedichten, Auszüge aus anderen Freiheitsdichtern und Ehrenberg’s „Karakter und Bestimmung des Mannes“.

Noch eins darf ich nicht vergessen, ein kleines Album mit losen Blättern hatte ich bei mir, worin ich von meinen Freunden Sprüche zur einstigen Erinnerung an dieselben eintragen ließ, unter diesen zwei Blätter, die meine Eltern mir ins Album eingeschrieben haben, wozu ich ihnen die Umrandung nach ihrer Angabe machen mußte. – Das war mein ganzes Reisegepäck.“

Quelle: MICHAELSEN (1929), S. 39, zit. in PÖLS (1979), S. 219

Selbst in unseren Zeiten einer mühelosen weltweiten Kommunikation und einer Fachliteratur, die jeder Handwerker lesen kann, werden Gesellenwanderungen durchgeführt. Auch diese moderne Form unterliegt bestimmten festgelegten Regeln; so darf sich ein Geselle beispielsweise auch heute nicht auf seiner Walz dem Heimatort mehr als 50 Kilometer nähern (Confederation Europäischer Gesellenzünfte). Im Jahr 2015 wurde die Walz sogar auf die Liste des Immateriellen Kulturerbes der Bundesrepublik Deutschland gesetzt, um eines Tages als ein Teil des nicht materiellen Kulturerbes der Welt zu gelten und ausgezeichnet zu werden.

♦ Linktipps

▶ Confederation Europäischer Gesellenzünfte

ww.cceg.eu

▶ Liste des Immateriellen Kulturerbes der Bundesrepublik Deutschland

unesco.de/kultur/immaterielles-kulturerbe/bundesweites-verzeichnis/eintrag/handwerksgesellenwanderschaft-walz.html

Zu einer anderen großen Berufsgruppe, die über Jahrhunderte hinweg auf die Wanderung – oft auch als Fernwanderungen – angewiesen war, gehören Kaufleute und Hausierer. „Während des Früh- und Hochmittelalters waren Kaufmannstätigkeit und Reisen untrennbar miteinander verbunden. Die Notwendigkeit des Eigenhandels trieb jeden Kaufmann zur Reise. Seine Waren begleitend zog er in die Fremde, zu Märkten und Messen“ (NEUTSCH, WITTHÖFT (1991), S. 75). In jene Zeit fielen beispielsweise schon frühe Formen von Geschäftsreisen zur Frankfurter Herbstmesse; 1240 hatte Kaiser Friedrich II. mit seinem Privileg die freie Reichsstadt Frankfurt zur ersten Messestadt der Welt erhoben. Mit ihren Waren, durchaus auch Luxusgütern aus fernen Ländern, auf den Rücken von Saumtieren oder auf Fuhrwerke geladen, zogen die Händler per Pedes zu den Märkten und Messen. Im 14./15. Jahrhundert setzte es sich durch, dass die Großkaufleute in ihren Kontoren blieben und von dort die Geschäfte regelten, dafür mussten sich dann Kaufmannsgehilfe oder Frachtführer auf die beschwerliche Fußreise machen.

Zunehmend half den Kaufleuten Reiseliteratur für ihre speziellen Bedürfnisse, so genannte Routenbücher – ausgehend von handschriftlichen Tagebüchern und Geschäftskladden, die ab dem 16. Jahrhundert auch in gedruckter Form zur Verfügung standen – bis hin zu Meilenscheiben und Meilensteinen, die die Entfernungen von den Handelsstädten zu anderen Orten nannten (a. a. O., S. 76). Eine ähnliche Infrastruktur und Hilfen für Reisende gab es bereits in der Antike, doch mit dem Beginn der Neuzeit erlebt sie eine Renaissance und konnte sich entsprechend der Nachfrage auch weiter entwickeln.

Während sich die Kaufleute in der Neuzeit immer mehr von der Mühe der Fußreise verabschieden konnten und sie ihren Landverkehr mit Reit-, Zug- und Lasttieren betrieben, blieben die Hausierer als ambulante Gewerbetreibende bis ins 19. Jahrhundert und sogar noch im frühen 20. Jahrhundert weitgehend Fußgänger. Vermutlich existieren von keiner anderen Gruppe, die über die Jahrhunderte hinweg beruflich zu Fuß unterwegs war, so viele historische Abbildungen wie von den wandernden Männer mit Kiepen oder anderen Tragegestellen auf dem Rücken.

„Ganze Heerscharen in- und ausländischer Hausierer waren im 18. und 19. Jahrhundert unterwegs und brachten so ziemlich alles zu den Abnehmern, was man in Rucksäcken und Tragekisten transportieren konnte. Da läßt sich kaum abschätzen, in welchem Umfang Haushaltwaren und Arbeitsgeräte, Schmuck, Textilien, Bücher, Bilder und Geschirr in bäuerliche Haushalte gelangten.“ (GLASS (1991), S. 62) Wenn es auch verständlicherweise von diesen Wanderungen, wie von den anderen berufsbedingten der Vergangenheit, keine Zahlen gibt – wohl aber von den Personen, die als ambulante Händler registriert waren (1882 waren es im Deutschen Reich offiziell 227.617 Hausierer (a. a. O., S. 64) – so kann man doch von der Versorgung der ländlichen Bevölkerung mit vielen Artikeln des täglichen Bedarfs und von der Annahme, dass die Dörfer sicherlich nicht in hohem Maße an einen öffentlichen Nahverkehr angeschlossen waren, ausgehen, dass viele Hausierer unterwegs gewesen sein müssen.

Als letzte nennenswerte Gruppe, die ebenfalls aus beruflichen Gründen bzw. um in der Ferne zu lernen seit dem Mittelalter unterwegs war, gehören die Studenten und Gelehrte.

Literatur

ELKAR, R. S. (1991): Auf der Walz – Handwerkerreisen, in: BAUSINGER, H., BEYRER, K., KORFF, G. (Hrsg.) (1991): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, C. H. Beck, München, S. 57–62.

GLASS, C. (1991): Mit Gütern unterwegs. Hausierhändler im 18. und 19. Jahrhundert, in: BAUSINGER, H., BEYRER, K., KORFF, G. (Hrsg.) (1991): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, C. H. Beck, München, S. 62–69.

KASCHUBA, W. (1991): Die Fußreise. Von der Arbeitswanderung zur bürgerlichen Bildungswanderung. In: BAUSINGER, H., BEYRER, K., KORFF, G. (Hrsg.) (1991): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, C. H. Beck, München, S. 165–173.

MICHAELSEN, F. R. (1929): Die Wanderjahre des hamburgischen Schneidergesellen Friedrich Rudolph Michaelsen 1834–1839. In: Hamburgische Geschichts- und Heimatblätter, 4. Jg. 1929. Zit. in: PÖLS, W. (Hrsg.) (1979, 3. Aufl.): Deutsche Sozialgeschichte 1815–1870. Dokumente und Skizzen, C. H. Beck, München.

NEUTSCH, C., WITTHÖFT, H. (1991): Kaufleute zwischen Markt und Messe, in: BAUSINGER, H., BEYRER, K., KORFF, G. (Hrsg.) (1991): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, C. H. Beck, München, S. 75–82.

OHLER, N. (1986): Reisen im Mittelalter, Artemis, München.

1.2 Historische Formen des Wanderns ohne geschäftliche Gründe
1.2.1 Pilgern auf dem Jakobsweg

Der vermutlich älteste schriftlich überlieferte Aufruf zu Fernwanderung und zum Pilgern dürften die Bibelverse Markus 10, 29–30 sein: „Jesus sprach: Wahrlich ich sage euch: Niemand verläßt um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus, Bruder, Schwester, Mutter, Vater, Kind oder Acker, ohne dass er alles hundertfach wiedererhält: schon jetzt in dieser Welt […] und in der zukünftigen Welt das ewige Leben.“ Doch erst im Mittelalter kommt die Pilgerfahrt – natürlich weitestgehend zu Fuß – in größerem Stil auf. Zuerst ist das Heilige Land mit dem Grab Christi Pilgerziel Nummer 1, doch 1291 nach der Eroberung durch die Mameluken wird diese Region für christliche Pilger eine unerreichbare, und man sucht neue Ziele in relativer „Nähe“, d. h. in Europa. Dabei rücken die Apostelgräber in den Blickwinkel der Pilger, die Gräber von Petrus und Paulus in Rom und am westlichen „Ende der Welt“ dasjenige des hl. Jakobus in Santiago de Compostela.

So entwickelt sich seit dem 11./12. Jahrhundert mit dem Jakobsweg ein ausgedehntes Wegenetz in Europa, dessen Wege sich zunehmend bündeln, um dann in einem Hauptweg ab Puente la Reina nach Santiago de Compostela zu führen. Auch eine Infrastruktur für die Fernwanderer entsteht bereits in jener Zeit, wie zum Beispiel die Hospize am Somport-Pass oder das Hospiz von Roncesvalles.

Die mittelalterliche Pilgerfahrt war bereits ein Massenphänomen. „Über das Zusammenströmen riesiger Pilgermassen an den großen Pilgerzentren des Abendlands, aber auch an kleineren, plötzlich in Mode gekommenen Gnadenorten nennen uns die zeitgenössischen Quellen Zahlen, die kaum glaubhaft erscheinen würden, wenn sie nicht häufig in ganz unverdächtigen Überlieferungszusammenhängen stünden.“ (PLÖTZ (2003), S. 24) OHLER (1986, S. 285) schätzt, dass auf dem Camino de Santiago, d. h. der spanischen Hauptroute, jährlich zwischen 200.000 und 500.000 Menschen pilgerten.

Wohl niemand nahm in jener Zeit die Mühsal und Gefahren einer Pilgerreise auf dem Jakobsweg auf sich, „nur“ zur Selbstfindung oder als sportliche Herausforderung – wie die heutigen Motive für viele sein mögen. Im Mittelalter begab man sich vor allem aus folgenden Gründen auf den gefährlichen Weg, von dem die Rückkehr in die Heimat keinesfalls sicher war: Häufig war ein Gelübde der Anlass; rettete der angerufene Heilige einen Bedrängten aus seiner schweren Not, zum Beispiel einem Schiffbruch oder schlimmen Krankheit, versprach man bei Rettung eine Pilgerfahrt als Dank. „Nach Santiago geht man oft auch (…) zur Buße und Sühne, sei es aus eigenem Antrieb, weil man sich von einer besonders schweren Sünde reinigen will, sei es durch kirchen- und zivilrechtliche Sanktionen. Besonders in den Niederlanden und Deutschland waren Strafpilgerfahrten für bestimmte verbrechen üblich.“ (CAUCCI VON SAUKEN (2003), S. 92) Für schwerste Verbrechen wurde man zum weitesten Pilgerweg verdammt. Aber manche gingen auch als bezahlte Wanderer, als so genannte Delegationspilger, auf den Jakobsweg. Anfang des 15. Jahrhunderts konnte man als Lohn für diese Tour als Stellvertreter eines „verhinderten“ Pilgers fünf Goldstücke erhalten, von denen man sich in jener Zeit einen Ochsen oder zwanzig Schafe hätte kaufen können (vgl. a. a. O., S. 94).

Ein Motiv, das damals wie heute manchen zur Pilgerreise veranlasste, war der vorrübergehende Ausstieg aus dem Alltag. Reiseberichte und Tagebücher aus dem Mittelalter überliefern, dass sich auch Entdeckerfreude und Neugier mit Frömmigkeit paaren konnten. Mit der Pilgerfahrt ist der Aspekt der Barmherzigkeit eng verbunden und stellt einen grundlegenden Wert dar. Das bedeutete/bedeutet auch heute noch, dass Hospitäler, Hospize und andere Hilfseinrichtungen an allen Pilgerwegen entstanden. Hinzu kam auch die persönliche Barmherzigkeit eines jeden gegenüber Armen und Bedürftigen. Darunter fielen die Pilger, die mittellos auf die Reise gingen. Sie trugen als Wandergepäck nur eine Pilgertasche, einen engen und oben immer offenen Beutel. Hinter dieser Form verbarg sich zum einen, dass man nur mit dem Allernötigsten, mit kleinsten Vorräten unterwegs war – und für Weiteres auf den Herrn vertraute; zum anderen symbolisierte der fehlende Verschluss, dass immer man zum Nehmen und Geben bereit war.

Von unzähligen Faktoren hing es ab, wie lange man auf dem Jakobsweg unterwegs war, denn schließlich gehörte zum Ankommen in Santiago de Compostela auch noch der Rückweg zu Fuß oder, wenn man aus dem Norden Europas aufgebrochen war, dazu noch eine Schiffsreise. Wenn die Reise im niederländischen oder westdeutschen Raum begann, benötigte man wohl im besten Falle rund sechs Monate für Hin- und Rückweg. Ein Strafpilger aus Antwerpen ist überliefert, der 1403 dies in der Hälfte der Zeit schaffte, ein anderer nahm sich da entschieden mehr Zeit: Seine Büßertour dauerte von 1425 bis 1437.

Der Sprung in die Gegenwart: 1987 erklärt der Europarat die Jakobswege, d. h. das Wegegeflecht, das sich durch den Kontinent zieht, zur ersten Europäischen Kulturstraße. 1993 wird die spanische „Zielgerade“ des Camino de Santiago von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt. Dabei handelt es sich um den letzten, immerhin noch knapp 700 Kilometer langen Abschnitt, in dem sich die beiden aus Frankreich kommenden Wege – von Roncesvalles über den Valcarlos Pass und von Canfranc über den Somport Pass – zwischen Pamplona und Puente la Reina zu einem Hauptweg vereinen.

Linktipps

▶ Camino de Santiago auf der UNESCO-Weltkulturerbeliste

– spanischer Teil des Jakobswegs als Weltkulturerbe

whc.unesco.org/en/list/669

– französische Abschnitte des Jakobswegs als Weltkulturerbe

whc.unesco.org/en/list/868

Das aktuelle Pilgern wird in → Kap. 7.8 behandelt.

Literatur

CAUCCI VON SAUKEN, P. (2003): Leben und Bedeutung der Pilgerfahrt. In: CAUCCI VON SAUKEN, P. (Hrsg.): Santiago de Compostela. Pilgerwege. Weltbild, Augsburg, S. 91–114.

PLÖTZ, R. (2003): Pilgerfahrt zum heiligen Jakobus. In: CAUCCI VON SAUKEN, P. (Hrsg.): Santiago de Compostela. Pilgerwege. Weltbild, Augsburg, S. 17–37.

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9783846345481
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