Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa


Gazmend Kapllani

UNENTBEHRLICHES HANDBUCH ZUM UMGANG MIT GRENZEN


Es ging mir nicht darum, etwa nach

Paris oder London zu reisen, o nein,

solche Ziele versuchte ich mir gar nicht

erst vorzustellen, und sie interessierten

mich auch nicht, ich wollte nur irgendwie

die Grenze überschreiten, egal,

welche, denn wichtig war für mich nicht

der Ort, das Ziel, das Ende, sondern der

beinahe mystische und transzendentale

Akt des Überschreitens der Grenze.

aus: Ryszard Kapuściński

»Meine Reisen mit Herodot«

aus dem Polnischen von

Martin Pollack,

Berlin 2013

Inhalt

VORWORT

Kapitel 1

WARUM ERZÄHLST DU UNS DAS ALLES?

Kapitel 2

FLUCHT BEDEUTET BRUCH MIT DER HEIMAT

Kapitel 3

DER MIGRANT UND DAS REICH DES MÜSSENS

Kapitel 4

EIN NAHEZU LÄCHERLICHER HELD

Kapitel 5

WENN DU TOURIST WÄRST

Kapitel 6

ILLEGALE GRENZÜBERQUERUNG, IMMER WIEDER

Kapitel 7

ZWEI JAHRE AUF DER GRENZE

Kapitel 8

DAS GESCHLECHT DER GRENZEN

Kapitel 9

RUHIGE TAGE IM AUGUST

Kapitel 10

DU KAMST UNGEBETEN

Kapitel 11

DIE MERKWÜRDIGEN ANGEWOHNHEITEN DER ILLEGALEN

Kapitel 12

DIE TÜR IM SUPERMARKT

Kapitel 13

ARBEIT, ARBEIT, ARBEIT

Kapitel 14

DIE GENERATION DER TELLERWÄSCHER

Kapitel 15

DIE EINSAMKEIT IN EINEM SEXKINO BETÄUBEN

Kapitel 16

DIE ERSTEN WÖRTER

Kapitel 17

MERK DIR, FREMDER

Kapitel 18

DU HAST EINEN UNVERSTÄNDLICHEN NAMEN

Kapitel 19

ABENDS KOMMT ES NOCH SCHLIMMER

Kapitel 20

ES FOLGT WERBUNG

Kapitel 21

EINST BEWUNDERER, JETZT GEISEL DES BILDSCHIRMS

Kapitel 22

HARTES METIER

Kapitel 23

DU RÜHRST AN ERINNERUNGEN

Kapitel 24

»SELBST DIE ALBANER SIND TEURER GEWORDEN«

Kapitel 25

DER SÜNDENBOCK DER ARMEN

Kapitel 26

DIE BLEIBENEUROSE

Kapitel 27

DEIN KIND SPRICHT NICHT GEBROCHEN GRIECHISCH

Kapitel 28

WENN DER MIGRANT KEIN MITLEID MEHR ERWECKT

Kapitel 29

DAS GEDÄCHTNIS DES MIGRANTEN

Kapitel 30

NACHWORT

INTERVIEW MIT GAZMEND KAPLLANI

VORWORT

Grenzen liebe ich nicht besonders. Aber um ehrlich zu sein, wirklich hassen tue ich sie auch nicht. Ich habe einfach Angst vor ihnen, und mir ist gar nicht wohl, wenn ich ihnen direkt gegenüberstehe. Ich spreche zunächst von den geografischen, den sichtbaren Grenzen, von solchen, die Länder, Staaten und Nationen voneinander trennen.

Auch heute, da die Grenzen sehr viel durchlässiger geworden sind, überkommt mich bei jedem Grenzübertritt ein merkwürdiges Gefühl: eine Mischung aus Erleichterung und Unbehagen. Vielleicht wegen des Passes, den ich inzwischen mit mir herumtrage. Auf jeden Fall habe ich mich an den misstrauischen Blick der Grenze längst gewöhnt. Sehnsüchtig schaue ich ihr entgegen, kann es kaum erwarten, sie zu überqueren, während sie mir fast immer feindselig oder argwöhnisch entgegenblickt. Ich versuche, sie zu besänftigen, sie davon zu überzeugen, dass ich keine Gefahr für sie bin. Sie hingegen denkt sich immer neue Vorwände aus, um mich zurückzuweisen und ja keine ebenbürtige Beziehung zwischen uns entstehen zu lassen. Aus den genannten Gründen kann ich also zu Recht behaupten, dass ich seit geraumer Zeit von einem Grenzsyndrom befallen bin. Dabei handelt es sich um eine Krankheit, die sich nur schwer klassifizieren lässt; sie ist im Übrigen nicht einmal auf der Liste anerkannter psychischer Störungen aufgeführt, wie zum Beispiel die Platzangst, die Höhenangst oder die Depression. Dennoch kann ich euch einen Eindruck verschaffen von den Symptomen, die damit einhergehen – nicht sofort, ein wenig später.

Auf jeden Fall weiß ich, dass es außer mir noch viele andere Menschen gibt, die unter dem Grenzsyndrom leiden. Doch – wer nie das Verlangen verspürt hat, eine Grenze zu überwinden, oder sich nie von einer Grenze zurückgestoßen sah, wird schwerlich nur verstehen, wovon ich spreche.

Meine problematische Beziehung zu den Grenzen hat schon recht früh, in meiner Kindheit, eingesetzt. In der Tat, ob man unter dem Grenzsyndrom leidet oder nicht, das ist großenteils vom Schicksal bestimmt: Es hängt nämlich davon ab, wo einer geboren ist. Ich bin in Albanien geboren.

1

Die Grenze eines totalitären Staates, wie Albanien es bis 1991 war, zu berühren oder gar sie zu überqueren, kam einem Wunder oder einer Todsünde gleich. Nur sehr wenige Menschen erhielten die offizielle Erlaubnis, sie zu passieren. Das waren dann die echten Glückspilze, und die waren für uns, für die Mehrheit also, beinahe so etwas wie Außerirdische.

Wir, die anderen, waren dazu verdammt, entweder nur zu mutmaßen, was auf der anderen Seite der Grenze existierte, oder die Idee, dass es jenseits der Grenze noch eine andere Welt gab, vollständig aus unserem Hirn zu verbannen, was eine gute Methode war, um zu überleben, sowohl seelisch als auch körperlich.

 

Bis eines Tages diese Welt-jenseits-der-Grenze im Unterbewusstsein vieler von uns nicht einfach nur die zeitliche und räumliche Fortsetzung unserer gemeinsamen Welt war. Je mehr Jahre vergingen, je stärker Albanien sich vom Rest der Welt isolierte, desto mehr verwandelte sich diese Welt-jenseits-der-Grenze in einen anderen Planeten. Für einige war es ein paradiesischer, für andere ein furchterregender Planet: auf alle Fälle ein völlig anderer Planet.

WARUM ERZÄHLST DU UNS DAS ALLES?

Ihr könnt mich jetzt fragen: Warum erzählst du uns das alles? Ehrlich gesagt, wenn du Migrant bist, besonders einer der ersten Generation, ist deine erste Reaktion die, im Schweigen zu verharren. Tief im Innern des Migranten herrschen Angst, Misstrauen und die Gewalterfahrungen während der Flucht und bei der ersten Berührung mit dem unbekannten Land. Und außerdem das Gefühl, unerwünscht zu sein, sowie Groll, Heimweh und gleichzeitig das Verleugnen der Heimat, Schuldgefühle und Wut. Der Migrant ist ein verwirrtes, ein verunsichertes Geschöpf und hat von daher Angst, sich zu bekennen. Es genügt eine ablehnende oder gleichgültige Geste seines Gegenübers, die ausdrücken mag »Was geht mich das an, woher du kommst und was du durchgemacht hast?!«, und schon fühlt der Migrant sich lächerlich, schutzlos und unzulänglich. Infolgedessen geht er lieber kein Risiko ein. Er quält sich einsam und allein mit seinen Erfahrungen und gelangt allmählich zu der Überzeugung, dass seine Geschichte keine Menschenseele interessiert. Schließlich ist seine Bestimmung ja auch nicht das Geschichtenerzählen, denkt er, sondern wie ein Hund ums Überleben zu kämpfen. Die anderen, die können ihn nicht nur, sie wollen ihn auch nicht verstehen.

Die Alternative ist, etwas zu riskieren, sich zu entblößen und sich zu dem schmerzhaften, widersprüchlichen Lebensweg eines Migranten zu bekennen. Er spürt, dass er Gefahr läuft, neurotisch und nachtragend zu werden, wenn er all das Erlebte für sich behält. Das größte Geschenk, das er sich erhoffen kann, wäre, dass jemand ihn versteht und mit ihm zugleich all jene, die nicht erzählen können, die es nicht wagen oder die einfach keine Zeit dafür haben und ihre Erzählungen in ihrem Inneren begraben. Einen Migranten kann man erst verstehen, wenn man seine Geschichte gehört hat.

2

Das Regime unternahm alles, um kein einziges Bild von der Welt-jenseits-der-Grenze zu uns gelangen zu lassen. Es kontrollierte, verhaftete und bestrafte. Ich erinnere mich noch genau an den Tag – ich war damals in der zweiten Klasse – als die Parteisekretärin unserer Grundschule ins Klassenzimmer kam und uns unter anderem mit ernster Miene fragte, wobei sie die größte Anstrengung unternahm, honigsüß zu wirken, ob unsere Eltern denn noch andere Programme als die des albanischen Staatsfernsehens sähen. Mit der Unschuld eines Kindes, das sich vor seinen Mitschülern hervortun wollte, antwortete ich, ja, meine Eltern würden oft den Sender Sabre schauen. Sabre war natürlich kein Fernsehsender, sondern der Name eines Orts in der Nähe unserer kleinen Stadt Lushnja, den ich damals noch gar nicht kannte. Mein Vater war sich der Gefahr, die von meiner grenzenlosen kindlichen Neugier ausging, sehr wohl bewusst und verpasste also den ausländischen Sendern, die er heimlich schaute, verschiedene Pseudonyme. Aber auch das rettete ihn am Ende nicht. Am Nachmittag desselben Tages bestellte ihn die Schulleitung ein und verlangte eine Erklärung: was das denn für ein unerhörter Fernsehsender namens Sabre sei. Wegen derartiger Dinge konnte man ohne weiteres seine Arbeit verlieren. Und das war noch das Wenigste. Man konnte »reaktionärer Handlungen und kleinbürgerlicher Ansichten« beschuldigt werden und, nachdem man »wegen Propaganda gegen das Regime« vor Gericht gestellt worden war, in einem der schrecklichen Gefängnisse für politische Häftlinge oder in einem der Dörfer inmitten anderer Verbannter am Rande unserer Stadt landen. Und Sabre war das berüchtigtste. Tatsächlich gab es in unserem Land eine große Bandbreite an Möglichkeiten, wie man einem Menschen das Leben zur Hölle machen konnte. Mein Vater musste also Rechenschaft ablegen: Erstens, warum er nicht ausschließlich albanisches Staatsfernsehen schaute, sondern sich im minderbemittelten Lager der Kapitalisten, Imperialisten, Revisionisten, Titoisten, Monarcho-Faschisten und vieler anderer herumtrieb. Zweitens, warum er dem Sender ausgerechnet dieses Pseudonym gegeben hatte: Ob das etwa gleichbedeutend war mit indirekter, aber eindeutiger Unterstützung der Volksfeinde, also der ins Lager Sabre Verbannten? Er entgegnete kurz und bündig, er empfange keinen fremden Sender, und sie könnten ruhig kommen, um die Antenne auf unserem Flachdach zu kontrollieren.

Apropos Antennen: Wir Bürger waren vom Regime gezwungen, uns eine spezielle Antenne zuzulegen und diese in einer bestimmten Position aufzustellen, in der Bilder aus der Welt-jenseits-der-Grenze gar nicht erst zu empfangen waren. In Wahrheit besaß mein Vater zwei Antennen. Eine auf dem Dach, die für die Augen des Regimes bestimmt war, und die andere, die illegale, im Haus; die nannten wir die Keratá, die gehörnte, und konnten damit hauptsächlich italienische Sender empfangen.

Die Geschichte von den doppelten Antennen ist ein perfektes Bild für die Persönlichkeitsspaltung des Menschen unter einem totalitären Regime: Die eine Seite seiner Persönlichkeit setzte sich dem furchteinflößenden Blick des Regimes aus, die andere versuchte, im Privaten diesem allmächtigen Blick zu entkommen.

Glücklicherweise ging die Geschichte mit der Antenne noch einmal glimpflich aus: Ich fing mir von meinem Vater eine saftige Ohrfeige und hasste seitdem die Parteisekretärin. Außerdem begriff ich langsam, dass ich mich, obwohl ich noch ein Kind war, mich nicht mehr wie ein solches benehmen durfte, besonders nicht, wenn ich es mit der Parteisekretärin zu tun hatte. Ich war damals so wütend auf die Parteisekretärin, dass ich zum lieben Gott bete, sie doch ein großes Unglück erleiden zu lassen, denn nur so ließ sich meine Wut ein wenig dämpfen. Ich stellte mir bildlich vor, wie sie ausrutschte und sich ein Bein, besser noch beide Beine brach. Oder wie sie schwer erkrankte und entsetzlich leiden musste, bevor sie endlich starb. Oder wie ihr ein Ziegelstein auf den Kopf fiel und sie auf der Stelle tot war. Den Gipfel der Genugtuung verschaffte mir jedoch die Vorstellung, wie sie auf der Straße stürzte und von einem schweren Genossenschaftsfuhrwerk mit schmutzigen Rädern und klapprigen Gäulen überfahren wurde.

Die Zeit verging, und ich hatte meine sadistischen Phantasien beinahe schon vergessen, als ich erfuhr, dass meine Gebete teilweise erhört worden waren, nur in vollkommen anderer Form. Die Parteisekretärin litt nämlich an einer sonderbaren Krankheit, aufgrund derer sie, so schien es, immerzu lächeln musste. Unvorstellbar so etwas, denn bis dahin war sie der mürrischste Mensch der Welt gewesen! In der Schule hatten wir sie aus eben diesem Grund die Statue genannt. Jetzt aber brachen die Leute auf jeder Parteiversammlung, sobald sie erschien, in schallendes Gelächter aus. Daraufhin brüllte sie vor Wut, und je mehr sie brüllte, desto mehr vermittelte sie den Eindruck, als würde sie wie blöd lachen. Es handelte sich um einen nervösen Tick.

Die Sache mit ihrem nervösen Lachen gelangte bis zum Zentralkomitee der Partei, und das beschloss, die Parteisekretärin aus ideologischen, parteiinternen und vor allem aus revolutionsimmanenten Gründen vorzeitig in Rente zu schicken. Auf ihrer Position sei sie nicht nur ungeeignet, sondern sie schade in gehörigem Maße der Revolution und der Diktatur des Proletariats. Seither habe ich nie wieder etwas von ihr gehört.

FLUCHT BEDEUTET BRUCH MIT DER HEIMAT

Ein echter Migrant ist ein Egoist, ein unverbesserlicher Narzisst. Er glaubt, dass er das Land, in dem er geboren ist, nicht verdient hat. Ein Land, so voller Armut, mit so wenig Zukunft, so viel Gewalt, so viel Verfall, so viel Schmutz, so viel Heuchelei, so wenig Liebe, das hat er nicht verdient. Aus diesen Gründen ist die Fremde seine erste Wahl.

Flucht bedeutet: der Migrant hat sich entschieden, mit dem Land, in dem er geboren ist, zu brechen. Und dieser Bruch wird ihn sein Leben lang begleiten. Er wird zum Quell all seiner Schuldgefühle und seiner Freiheit, seiner Verdrängung und seiner Verleugnung, seiner Erinnerung und seiner Sehnsucht, seines Vergessens und seiner Melancholie, seiner widerstreitenden Gefühle und seiner Schizophrenie. Erst wenn er es in der Fremde zu etwas gebracht hat, kann er sich wieder mit seinem Land versöhnen. Ist er dort aber erfolglos und bringt es zu nichts, dann verliert er jeden Halt, und der Bruch mit der Heimat wird für ihn ein Bruch mit der ganzen Welt, dem ganzen Universum. Er wird vorgeben, sein Herkunftsland übertrieben zu lieben, nur um sich an seiner neuen Heimat zu rächen: So fest hatte er doch daran geglaubt, dass sie ihm eine bessere Zukunft bescheren würde! Aber die hat sie ihm, so meint er, verweigert. Schließlich hatte er sich doch dieser neuen Heimat wegen seinem eigenen Land verweigert, hatte mehr an diese als an jenes geglaubt. »Und das allein soll nicht ausreichen, damit sich mir alle Türen weit öffnen?«, wundert er sich.

3

Mit den Antennen sind noch zwei weitere Personen verbunden, die meine Kindheit geprägt haben: Onkel Jani und der Genosse Mete. Onkel Jani kannte ich sehr gut, von klein auf, denn er wohnte im vierten Stock unseres Mietshauses, wir im dritten. Er war ziemlich bekannt in unserer kleinen Stadt, in erster Linie, weil er den äußeren und vor allem den inneren Feinden der Nation und der Revolution einen erbitterten Kampf angesagt hatte. Aus den Unterhaltungen der Erwachsenen bei mir Zuhause, aber auch bei meinen Freunden hatte ich mitbekommen, dass er irgendwo in seiner Wohnung eine ellenlange Liste versteckt haben musste, auf der er den Tagesablauf und das Treiben aller verdächtigen Einwohner unseres Städtchens notierte. Wehe dem, der auf dieser Liste landete! Das bedeutete nämlich: bald schon wird ein Unheil über ihn und seine Familie hereinbrechen!

Die Gerüchteküche brodelte, und Onkel Janis Liste hatte inzwischen mythische Ausmaße angenommen. Manche sagten, bei dieser Liste handle es sich um ein einfaches Notizbuch, andere sprachen von einem ungeheuer schweren Buch, in dem nicht nur die Verdächtigen unserer Stadt, sondern auch die der Nachbarstadt aufgeführt seien.

Onkel Jani soll derart gnadenlos Jagd auf die inneren Feinde gemacht haben, dass auf seiner Liste sogar die eigene Schwiegertochter zu finden war. Da die ganze Familie in einer Wohnung zusammenlebte, will er eines Nachts, als sie schlief, aus ihrem Mund die folgenschweren Worte gehört haben: »Ich scheiß auf die Parteiversammlung …«

Unabhängig vom Umfang dieser Liste hatten wir, um ehrlich zu sein, keine Opfer in unserem Haus zu beklagen. Mit Ausnahme von Kemes Sohn, der eines Abends sturzbetrunken heimkam und zu seinem Unglück auf Onkel Jani traf. Der durchbohrte ihn mit strengem Blick, worauf Kemes Sohn, der als Lastenträger arbeitete, sagte: »Es heißt zwar, dass Betrunkene ihren Geruchssinn einbüßen, aber einen stinkenden Spitzel wie dich, den rieche ich noch meilenweit gegen den Wind«, und dabei bog er sich vor Lachen. Diesen Leichtsinn bezahlte Kemes Sohn mit seinem Arbeitsplatz. Alle sagten, er sei noch mal mit einem blauen Auge davongekommen. Onkel Jani hätte in diesem Falle bewiesen, dass er doch so etwas wie ein Herz besaß – hätte er nämlich gewollt, wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, Kemes Sohn in die Verbannung oder sogar ins Gefängnis zu schicken.

Onkel Jani war nicht der einzige, der Jagd machte auf die inneren Feinde. Da gab es noch so manchen anderen in unserer Stadt, einige waren bekannt, andere nicht. Der Genosse Mete zum Beispiel war uns nicht bekannt; von ihm und seiner tragischen Geschichte erfuhren wir erst später. Das Spezialgebiet, ja die Leidenschaft des Genossen Mete war es, den inneren Feind aufzuspüren, indem er die Ausrichtung der Fernsehantennen kontrollierte. Es gab keine Dachterrasse in unserer Stadt, die er nicht schon drei- oder viermal erklommen hätte – natürlich stets zu nächtlicher Stunde, um ungesehen überprüfen zu können, ob die Position der Antennen auch tatsächlich den Parteirichtlinien entsprach. Er hatte eine lange Liste angelegt, auf der er nebst Vor- und Nachnamen der Betroffenen notierte, wie die jeweilige Antenne ausgerichtet war. Konnte der Genosse Mete tatsächlich eine Abweichung von den Parteirichtlinien feststellen, eilte er zu den zuständigen Organen, um Meldung zu machen. Dann konnte es passieren, dass der Abweichler in einem Kanal landete – freilich nicht in einem Fernsehkanal, sondern beim Kanalbau – wo er viele Jahre schuften musste.

 

Eines Nachts wurde die legendäre Liste des Genossen Mete entdeckt, und zwar gegen Mitternacht auf dem Dach unseres Mietshauses; ihn allerdings trennten fünf Stockwerke von seiner Liste, um genauer zu sein, befand er sich infolge eines spektakulären Sturzes von der Dachterrasse auf den regennassen Boden auf Erdgeschossniveau. Sein Sturz war von einem markerschütternden Schrei begleitet, der die gesamte Nachbarschaft, auch die in den ferner liegenden Häusern aus dem Schlaf riss. Der Genosse Mete war beim Aufprall augenblicklich tot. Es war ein tragischer, viel zu früher Tod. Auf seiner Beerdigung sagte der Parteisekretär, der Genosse Mete sei mutig und wie ein Held an der vordersten Front des Klassenkampfs und beim Aufbau des Sozialismus gestorben. Trotzdem blieben die Hintergründe seines Todes ein Rätsel, was die Phantasie der Einwohner unseres Städtchens weiterhin intensiv beschäftigte.

DER MIGRANT UND DAS REICH DES MÜSSENS

Du musst eine Arbeit finden. Irgendeine Arbeit. Du musst überleben. Du musst eine Wohnung finden, irgendeine Wohnung, Hauptsache, sie gleicht einer Wohnstätte. Du musst diese neue Sprache lernen und kannst noch kein Wort, verwechselst »Gute Nacht« mit »Guten Abend«. Du musst lernen, leiser zu sprechen, nicht zu schreien, weil dein Gegenüber sonst erschrickt — hier bist du nicht mehr in deinem Dorf. Du musst dich vor den Mannschaftswagen der Polizei in Acht nehmen, denn du kamst ungebeten und fällst stark auf mit dieser leidgeplagten Miene und der altbackenen Frisur, wie die Menschen dieser Stadt sie seit Jahrzehnten nicht mehr tragen, vor allem mit diesen Klamotten, denen man deutlich ansieht, dass sie dir jemand geschenkt hat – oder hast du sie gar irgendwo geklaut? Du musst lernen, in normalem Tempo zu gehen, denn du läufst noch immer, als wäre der Teufel hinter dir her. Du musst auch die Straßenverkehrsregeln lernen, natürlich nur die für die Fußgänger. Du darfst die hübschen einheimischen Mädchen nicht mit diesem Blick ansehen, der an Quasimodo erinnert, mit dem er Esmeralda in Der Glöckner von Notre Dame anschaut. Müssen … Müssen … Müssen … Ohne Ende, ohne Verfallsdatum. Jeden Tag, jede Nacht, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. Du hast nicht das Privileg, etwas zu wollen, du bist dazu verdammt, mit diesem unerbittlichen Müssen zu leben. Denn du musst es schaffen. Vor allem das. Das ist der Eid, den der Migrant vor sich selbst ablegt. Bei Ärzten ist es der Eid des Hippokrates, beim Migranten der Ich-muss-es-schaffen-Eid. Dieser Eid ist von nun an seine wahre Heimat. Er muss es schaffen, nicht nur, weil seine Familie in der fernen Heimat etwas von ihm erwartet. Das ist noch das Geringste. Er muss es schaffen, um nicht als Gescheiterter in diese Heimat zurückzukehren. Der Gedanke ans Scheitern lässt ihn zittern wie ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtet. Er muss es schaffen, aber wie? Genau an dieser Stelle scheiden sich die Wege der Migranten: in die der Erfolgreichen und der Gescheiterten, der Akzeptierten und der Abgelehnten, der Glückspilze und der Pechvögel. Denn so sehr die Migranten sich auch ähneln mögen, unterscheiden sie sich dennoch beträchtlich voneinander, so wie alle Sterblichen auf dieser Welt.