Man sieht sich zweimal im Leben

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Man sieht sich zweimal im Leben
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Man sieht sich zweimal im Leben

Georg Braun

Man sieht sich zweimal im Leben

Band 5 der WADE - Krimis

von

Georg Braun

1. Edition, 2020

© 2020 All rights reserved.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 2

Kapitel 2 7

Kapitel 3 12

Kapitel 4 16

Kapitel 5 21

Kapitel 6 25

Kapitel 7 29

Kapitel 8 34

Kapitel 9 38

Kapitel 10 44

Kapitel 11 48

Kapitel 12 54

Kapitel 13 58

Kapitel 14 63

Kapitel 15 68

Kapitel 1

Hauptkommissar Jochen Waldschütz hatte Zeit, vielleicht auch Langeweile, die ihn zu einem Gang ins Archiv verleitete. Dort warteten die zu Akten geronnenen Lebens – oder Todesschicksale von Menschen auf ihre Auflösung oder den Vermerk, dass die Staatsgewalt kapitulierte, was der Hauptkommissar nicht wollte, viel eher hasste wie die Pest. Das war gleichbedeutend mit dem Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit. Waldschütz gab nie auf, auch dann nicht, als der Fall, wie es im Fachjargon hieß, ausermittelt war, also niemand eine Chance erkannte auf eine erfolgreiche Täterermittlung oder Tatrekonstruktion in einer angemessenen Zeitspanne.

Neben diesen Aktenleichen verfolgte der Kriminalist auch das Schicksal von bereits Verurteilten. Er musste zugeben, dass er von manchen Leuten hinter Gitter Angst hatte. Obwohl sicher verwahrt, ging von ihnen eine Gefahr aus. Sie hatten die Angewohnheit, nicht einsehen zu wollen, wie sehr sie anderen Menschen geschadet hatten und deshalb einen Teil der Lebenszeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit verbringen mussten. Er wollte noch einmal eine ganz bestimmte Akte aus dem Schrank und sich hinein ziehen. Artur Kowalski, den Namen hatte er nie vergessen, hieß der Mensch, der ihm einen Besuch androhte.

Waldschütz dachte nicht grundlos an Kowalski, war es das schlechte Gewissen, weil er der Hauptbelastungszeuge war im Verfahren gegen den Mörder? Das alleine ängstigte Waldschütz nicht, vielmehr das nahe Ende der Haftzeit von Kowalski. Der Beamte rechnete und kam zum Ergebnis, dass der Inhaftierte in spätestens einer Woche das Licht der Freiheit erblickte, verdammt wenig Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen.

Ja, Waldschütz gestand sich die Angst ein. Diese ging von dem Inhaftierten aus, dachte er. Oder doch, weil er vielleicht einen zu deutlichen Belastungseifer an den Tag gelegt hatte, der Kowalski fünfzehn Jahre seines Lebens gekostet hatten. Der Hauptkommissar lag in der Falle. Er wollte sich jemandem anvertrauen, doch wem?

Karin Degelmann arbeitete damals nicht mit Waldschütz zusammen, sie konnte die Befürchtungen des Kollegen kaum nachvollziehen. Präsident May und er verband nicht wirklich Empathie und Verständnis, das er hier gebraucht hätte, vielmehr von einer emotionalen Abneigung geprägter Respekt. May, so dachte der Hauptkommissar, hätte für ihn bestenfalls ein Hohngelächter übrig. Er nahm die Akte und Urlaub. Waldschütz drängte es weg, sehr weit entfernt von Stuttgart und der eigenen Vergangenheit, die im Falle Kowalskis dunkle Flecken aufwies. Krankhafte Geschwüre, die eiterten und ihr Gift versprühten, das den ganzen Kerl befiel. Waldschütz musste an die Worte der Verwaltungschefin denken, die zum Überstundenabbau drängte. In einem Jahr häuften sich derer dreihundert an, also genügend, um den Kopf frei zu bekommen und zu überlegen, wie er sich einen Vorsprung vor dem Hass Kowalskis verschaffte, der nach ihm spähte wie das Geier nach dem Aas.

Was hatte Waldschütz anders machen sollen? Ein Gedanke, quälender als das von dem vermeintlichen Straftäter ausgehende Hassgeschwür. Er war damals ein frisch ausgebildeter Kommissar, das Herz und den Kopf voller Gerechtigkeitsideale. Kowalski war wegen Vergewaltigung und Mordes angeklagt, Verbrechen, welche der damalige Frischling im Polizeidienst verabscheute. Da schaute er offenbar nicht so genau hin, er erinnerte sich heute in der Rückschau, wie sehr ihn der Verurteilte ankotzte. Die zu Markte getragene Würde des Mordopfers beschmutzt, so dass dem Kommissar damals die Gäule durchgingen, so dachte Waldschütz in der angstbesetzten Gefühlslage.

Kowalski hatte ihm noch im Gerichtssaal Rache geschworen. Damals verdrängte der junge Beamte diese harten Worte, fünfzehn Jahre bedeuteten für einen Mittzwanziger eine lange Zeitspanne. Er hoffte sehr, dass Kowalski sich besinnen würde und die Rache in die Tonne kloppte.

Waldschütz kam eine wichtige Idee, von der er die weiteren Entscheidungen abhängig machte. Er suchte die JVA auf, wo der bald Entlassene die Zeit einsaß. Es war der Knast in Bielefeld. Die Stadt in Ostwestfalen lag von Stuttgart einige Kilometer entfernt, aber nicht weit genug, um nicht rasch in der baden – württembergischen Hauptstadt aufzuschlagen. Die Justizbehörden verlegten den Aufenthaltsort des Straftäters weit weg von der Heimat, damit er dort auf andere Gedanken und aus seinem gewohnten Umfeld käme. Doch das hinderte die Angehörigen und Freunde nicht, dass sie so oft wie möglich den wegen Mordes und Vergewaltigung verurteilten Kowalski besuchten. Davon hatte Waldschütz keine Ahnung, als er das Telefon in die Hand nahm und sich nach Kowalski erkundigte. Der Justizbeamte bestand auf dem persönlichen Erscheinen von Waldschütz, was diesem ein Bauchgrimmen verursachte. Er hatte dennoch keine Wahl, reichte den Urlaub wegen Überstundenabbau ein und sagte Degelmann, er müsste mal nach Bielefeld.

„Was willst du dort?“, fragte die Oberkommissarin.

„Nenne es Vergangenheitsbewältigung.“

Kapitel 2

Karin Degelmann wusste nicht, wie ihr geschah. Das lag an dem befremdlichen Verhalten ihres Kollegen, der kopflos auf seinem Stuhl saß oder verstreut auf den Fluren des Polizeipräsidiums umherirrte. Fragen wollte sie ihn nicht, er hatte die Angewohnheit, sich nicht den Dingen zu stellen, welche ihm unangenehm aufstießen. Sorgen machte sich die Oberkommissarin allemal, zumal Waldschütz selten bis nie Urlaub nahm und die Überstunden verfallen ließ. Jochen Waldschütz lebte für seinen Beruf und ordnete das Privatleben dem Dienst unter – so, wie es Präsident May gerne sah.

Sie ertappte sich dabei, wie sie bisher unbekannte Aspekte an ihrem Kollegen wahrnahm. Sie wurde sich bewusst, dass sie über ihn so gut wie nichts wusste. Umgekehrt auch. Obwohl sie täglich bis zu vierzehn Stunden miteinander verbracht hatten, fanden sie nie die Gelegenheit, sich privat kennenzulernen. Irgendwie schade, meinte Degelmann.

Waldschütz plagten andere Sorgen. Die Vergangenheit in Gestalt von Artur Kowalski holte ihn erbarmungslos ein, ein Typ, der auf dem Holz von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ geschnitzt war, also von Verzeihen nicht viel hielt. Sein Koordinatensystem kannte nur archaische Werte, die in die moderne Welt nicht passen wollten, was den Straftäter nicht weiter störte. Die lange Zeit im Gefängnis hatte er abgebüßt, nun mussten andere büßen für das, was sie ihm angetan hatten. Er dachte dabei ganz bestimmt an den Polizisten, der ihm die Gefangenschaft eingebrockt hatte. Und genau jener befand sich auf dem Weg nach Bielefeld. Seine Art der Vergangenheitsbewältigung, dem Menschen, der ihm die Seelenpein verursachte, auf den Spuren zu sein, die Vergewisserung, ob dieser noch denselben Hass in sich trug, den er bei seiner Verurteilung ausgespien hatte. Waldschütz war mulmig zumute. Was würden die Beamten über ihren Schützling aussagen? Hat er sich menschlich betrachtet verändert und wenn ja, in welche Richtung?

Fünfzehn Jahre im Knast gehen an niemandem spurlos vorüber, dessen war sich Waldschütz bewusst. Kein Mensch, auch diejenigen nicht, welche zeitweilig die menschlichen Merkmale vergruben, opfert die Freiheit und lässt sich von anderen Mitgefangenen quälen, ohne unbeeindruckt seine Schlüsse daraus zu ziehen. Und erst dann nicht, wenn das Gefühl, zu Unrecht verurteilt worden zu sein, die Gedankenwelt in Gang hielt. Was würde im Gehirn eines Menschen vor sich gehen, der so viele Tage mit einer Wut im Bauch in der Knastzelle verbringt und auf vieles verzichten musste, was das Menschsein lebenswert erscheinen ließ?

 

Eine direkte Konfrontation mit Kowalski wollte Waldschütz um alles in der Welt vermeiden. Für den Knacki war der Bulle das knallrote Tuch eines Toreros, der den Stier bis aufs Blut reizte und diesen unweigerlich nach einer langen Qual in den Tod beförderte. Waldschütz hatte das Gefühl, er hätte Kowalski in den seelischen oder sozialen Tod geritten. Dieser würde mit den letzten Zuckungen und Regungen, die der Leib erlaubte, dem Bullen den Garaus machen wollen.

Waldschütz hatte das Frankfurter Kreuz passiert, er befuhr die A5 bis Kassel, wo er dann nach Dortmund und weiter in Richtung Bielefeld fahren wollte. Die zitternden und schwitzenden Hände verrieten ihm den emotionalen Pegel. Er spielte einen gefährlichen Gedanken aus, der im möglicherweise am Ende des Weges in größte Schwierigkeiten führte.

„Das ist es mir wert“, machte er sich Mut und wusste, dass er damit sein schlechtes Gewissen ruhig stellte. Jenes Teil, das er jahrelang benebelte, das sich trotzdem nicht totkriegen ließ. Nun war die Zeit gekommen, wo sich das Gewissen nicht mehr beruhigte, sondern vielmehr seinen Tribut einforderte, dem Waldschütz nicht auswich.

„Aufrichtigkeit gehört zwar nicht zwingend zum Beruf des Polizisten“, dachte er, „ für mich ist es lebensprägend. Wie verkommen muss eine Menschheit sein, die nur in diversen Täuschungen überlebt?“

Er würde lieber den Heldentod sterben, als mit dem Gefühl herumzulaufen, einem Menschen das Leben zerstört zu haben. Waldschütz ertappte sich, wie er exakt so fühlte und dachte wie Kowalski. Das vergleichbare Gerechtigkeitsverständnis, das nicht den geringsten Fehler tolerierte, sondern darauf aus war, diesen gnadenlos zu sanktionieren. Vergebung existierte nur in einem schmucken Buch, das für die Menschheit jegliche wertbildende Bedeutung eingebüßt hatte.

„Heutzutage gestalten die Menschen ihre Gesetze selbst“, sagte sich Waldschütz, „da überleben keine Weicheier, nur Menschen, die sich dem Gericht der Mitmenschen stellen, werden überleben.“

Er sprach der Selbstjustiz das Wort und schämte sich nicht, dass ihm als Beamten das passierte.

„Würden wir alle statt den Scheißkram wie Ethik lernen, wie wir miteinander klarkommen und eigenständig die Regeln aushandeln, wäre die Welt wahrscheinlich besser, zumindest ehrlicher.“

Ein hehrer Gedanke, den er noch nicht zu Ende gedacht hatte, als er Bielefeld erreicht hatte. Jetzt waren es nur noch wenige Augenblicke, bis er das Epizentrum des schlechten Gewissens, den Knast Bielefeld, sehen würde.

„Bin gespannt, ob Kowalski dort noch einsitzt?“,sagte er und klingelte an der Eingangstüre. Ein Justizvollzugsbeamter empfing und führte ihn in die heiligen Halle der deutschen Sühne, wo vom richtigen Weg abgekommene Menschen wieder im Training die Kurve kriegen sollten. Waldschütz war in dem Moment froh, dass er das Smartphone im Auto abgelegt hatte. Er wollte als Zivilist seiner Vergangenheit Auge in Auge gegenübertreten. Sofern das möglich war.

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