1984

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III

Winston träumte von seiner Mutter.

Er musste zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als sie verschwand. Sie war eine große, ausladende, eher schweigsame Frau mit langsamen Bewegungen und prächtigem hellem Haar gewesen. An seinen Vater erinnerte er sich eher undeutlich: dunkel und schmal, immer gut und zurückhaltend gekleidet (Winston waren besonders die sehr dünnen Schuhsohlen seines Vaters im Gedächtnis geblieben) und eine Brille tragend. Winstons Eltern mussten offensichtlich von einer der ersten großen Säuberungswellen der 1950er verschluckt worden sein.

In diesem Moment nun, träumte Winston, saß seine Mutter tief unter ihm, mit seiner kleinen Schwester im Arm. Er erinnerte sich überhaupt nicht an seine Schwester, außer als winziges, schwaches Baby, immer schweigsam, mit großen, wachsamen Augen. Beide blickten zu ihm auf. Sie waren an einem unterirdischen Ort – vielleicht auf dem Grund eines Brunnens oder in einem sehr tiefen Grab – aber auf jeden Fall war es ein Ort, der sich, obwohl er bereits schon weit unter Winston lag, immer noch weiter nach unten bewegte. Seine Mutter und seine Schwester befanden sich im Salon eines sinkenden Schiffs und blickten durch das sich verdunkelnde Wasser nach oben. Es war noch Luft im Salon; sie konnten Winston noch sehen und er sie, aber die ganze Zeit über sanken sie weiter hinab, hinunter in die grüne Tiefe, die seine Mutter und seine Schwester im nächsten Augenblick für immer verschlingen würde. Er war oben im Licht und in der Luft, während sie in den Tod gezogen wurden, und sie waren dort unten, weil er hier oben war. Winston wusste es, und sie wussten es, und er konnte dieses Wissen in ihren Gesichtern sehen. Es gab keinen Vorwurf, weder in ihren Gesichtern oder in ihren Herzen, nur das Wissen, dass sie sterben mussten, damit er am Leben bleiben konnte, und dies Teil der unvermeidlichen Ordnung der Dinge war.

Winston konnte sich nicht mehr erinnern, was genau geschehen war, aber er wusste in seinem Traum, dass auf eine ihm nicht mehr bekannte Weise die Leben seiner Mutter und seiner Schwester geopfert worden waren, um seins zu retten. Es war einer jener Träume, die unter Beibehaltung der charakteristischen Traumlandschaft eine Fortsetzung des geistigen Lebens sind und in denen Fakten und Ideen bewusst werden, die auch nach dem Erwachen noch neu und wertvoll erscheinen. Winston verstand plötzlich, dass der Tod seiner Mutter, vor fast dreißig Jahren, auf eine Weise tragisch und traurig gewesen war, die es heute nicht mehr geben konnte. Die Tragödie, so erkannte Winston nun, gehörte zu einer uralten Zeit; zu einer Zeit, als es noch Privatheit, Liebe und Freundschaft gab; einer Zeit, in der die Mitglieder einer Familie einander beistanden, ohne wissen zu müssen, weshalb. Die Erinnerung an seine Mutter schmerzte Winston seinem Herzen, weil sie für ihn gestorben und er noch zu jung und selbstsüchtig gewesen war, um sie so lieben zu können, wie sie ihn geliebt hatte, und vielleicht auch deshalb, weil ihr Tod einer Konzeption von Loyalität entsprach, die persönlich und unveränderlich war. Solche Dinge, das verstand Winston nun deutlich, konnten heute nicht mehr geschehen, denn nun gab es nur noch Angst, Hass und Schmerz, aber keine Würde des Gefühls, keine tiefe oder vielschichtige Trauer mehr. Und all dies schien Winston in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester zu sehen, die zu ihm aufschauten durch das grüne Wasser, Hunderte von Faden tief und immer noch tiefer sinkend.

Plötzlich stand er auf einem kurzgeschnittenen, federnden Rasen, an einem Sommerabend, die schräg einfallenden Sonnenstrahlen vergoldeten den Boden. Die Landschaft, in der er sich befand, kehrte so oft in seinen Träumen wieder, dass er sich nie ganz sicher war, ob er sie in der realen Welt gesehen hatte oder nicht. In seinen wachen Gedanken nannte er sie das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchen abgegraste Weide, mit einem kleinen Trampelpfad, der darüber hinwegführte, und ab und zu einem Maulwurfshügel. In der zerzausten Hecke auf der gegenüberliegenden Seite des Feldes wiegten sich die Äste der Ulmen sehr schwach im Wind, ihre Blätter in dichten Massen wirbelnd wie Frauenhaar. In der Nähe, wenn auch außer Sichtweite, gab es einen klaren, langsam fließenden Bach, in dem Weißfische in den Tümpeln unter den Weidenbäumen schwammen.

Das Mädchen mit dem dunklen Haar kam ihm über das Feld entgegen. Wie mit einer einzigen Bewegung riss sie sich ihre Kleider vom Leib und warf sie verächtlich beiseite. Ihr Körper war weiß und glatt, aber er erregte in Winston kein Verlangen; er sah nicht einmal richtig hin, denn was ihn in diesem Augenblick stattdessen überwältigte, war die Geste, mit der sich das Mädchen ihrer Kleidung entledigt hatte: Mit ihrer Anmut und Sorglosigkeit schien sie eine ganze Kultur auszulöschen, ein ganzes Denksystem, als ob Big Brother und die Partei und die Thought Police mit einer einzigen überwältigenden Armbewegung ins Nichts gefegt werden könnten. Auch das war eine Geste aus der längst vergangenen Zeit. Winston erwachte mit dem Wort „Shakespeare“ auf den Lippen.

Der telescreen gab ein ohrenbetäubendes Pfeifen von sich, immer weiter in derselben Tonlage, dreißig Sekunden lang. Es war 07-15, Zeit zum Aufstehen für Büroangestellte. Winston quälte seinen Körper aus dem Bett – nackt, denn ein Mitglied der Äußeren Partei erhielt jährlich nur dreitausend Bekleidungsmarken, und ein Schlafanzug kostete sechshundert – und griff sich ein schmuddeliges Unterhemd und ein Paar Unterhosen, die gegenüber auf einem Stuhl lagen. Die Körperübungen würden in drei Minuten beginnen. Im nächsten Augenblick wurde Winston von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt, wie sie ihn fast immer kurz nach dem Aufwachen ereilten, und seine Lungen entleerten sich dabei so vollständig, dass er nur wieder Luft bekommen konnte, indem er sich rücklings hinlegte und eine Reihe von tiefen Atemzügen machte. Seine Venen waren angeschwollen unter der Anstrengung des Hustens, und das Krampfadergeschwür hatte zu jucken begonnen.

„Gruppe dreißig bis vierzig“, kläffte eine durchdringende Frauenstimme. „Gruppe dreißig bis vierzig! Nehmen Sie bitte Ihre Plätze ein. Dreißiger bis Vierziger!“

Winston hielt sich vor dem telescreen bereit, auf dem bereits das Bild einer jungen, dürren, aber muskulösen Frau in Sportkleidung und Turnschuhen erschienen war.

„Arme beugen und strecken!“, legte sie los. „Übernehmen Sie den Takt von mir! EINS, zwei, drei, vier! EINS, zwei, drei, vier! Gebt Euch Mühe, Genossen, ein bisschen mehr Anstrengung! EINS, zwei, drei, vier! EINS, zwei, drei, vier!“

Der Schmerz des Hustenanfalls hatte den Traum nicht ganz aus Winstons Erinnerung vertrieben, und die rhythmischen Bewegungen verstärkten die Bilder noch. Als er mechanisch seine Arme vor und zurück streckte, auf seinem Gesicht den Blick grimmigen Vergnügens tragend, der während der Körperübungen als angemessen galt, versuchte er mühsam, sich an die düstere Zeit seiner frühen Kindheit zu erinnern. Es war außerordentlich schwierig, und jenseits der späten 1950er verblasste alles. Wenn es keine äußeren Aufzeichnungen gibt, um sich darauf zu beziehen, verlieren sogar die Umrisse des eigenen Lebens an Schärfe. Es gab Erinnerungen an große Ereignisse, die wahrscheinlich gar nicht stattgefunden hatten; auch an Einzelheiten einiger Vorfälle, ohne aber den Gesamtzusammenhang noch zu kennen, und es gab lange leere Zeiten, denen sich gar nichts mehr zuordnen ließ. Damals war alles anders gewesen, selbst die Namen der Länder und ihre Formen auf der Landkarte: Airstrip One war früher nicht so genannt worden, sondern England oder auch Great Britain, obwohl London, da war Winston sich sicher, schon immer London geheißen hatte.

Ihm war allerdings nicht mehr vollkommen klar, wie lange die ständigen militärischen Auseinandersetzungen bereits andauerten, doch erschien es ihm so, als hätte es während seiner Kindheit eine Zeitlang gar keine gegeben, denn eine seiner frühen Erinnerungen war jene an einen Luftangriff, der alle zu überraschen schien. Vielleicht war es die Zeit gewesen, in der die Atombombe auf Colchester gefallen war. Winston wusste allerdings nichts mehr über die genauen Umstände, sondern hatte lediglich noch einzelne Bilder im Gedächtnis, wie die Hand seines Vaters seine eigene umklammerte, als sie hinunter eilten, hinunter, hinunter, an einen Ort tief unten in der Erde, immer wieder im Kreis eine Wendeltreppe entlang, die unter Winstons Füßen schepperte und seine Beine so ermüdete, dass er zu wimmern begann und sie deswegen anhalten und sich ausruhen mussten. Seine Mutter, in ihrer langsamen, verträumten Art, folgte ihnen mit großem Abstand. Sie war mit seiner kleinen Schwester schwanger; vielleicht war es aber auch nur ein Bündel Decken, das sie trug; er war sich nicht sicher, ob seine Schwester zu dieser Zeit bereits geboren worden war. Schließlich waren sie an einem lauten, überfüllten Ort angekommen, den er als eine U-Bahn-Station erkannte.

Überall auf dem gefliesten Boden saßen Menschen, und andere wiederum, dicht gedrängt, auf Metallbetten, die eins über dem anderen aufgestapelt waren. Winston und seine Mutter und sein Vater fanden einen Platz auf dem Boden, und neben ihnen saßen ein alter Mann und eine alte Frau. Der alte Mann trug einen zurückhaltenden dunklen Anzug und eine schwarze Stoffmütze unter störrischem sehr weißem Haar. Das Gesicht des Mannes war scharlachrot, die Augen blau und voller Tränen. Er stank nach Gin, der anstelle von Schweiß aus seiner Haut zu quellen schien, und sogar die Tränen dieses Mannes schienen nichts als reiner Gin zu sein. Aber obwohl der alte Mann betrunken war, litt er auch unter einer Trauer, die echt und unerträglich wirkte. In seiner kindlichen Art begriff Winston, dass gerade etwas Schreckliches passiert sein musste; etwas, das jenseits aller Verzeihung lag und niemals wieder gutgemacht werden konnte. Es schien ihm auch, dass er wusste, was es war: Jemand, den der alte Mann sehr liebte – vielleicht eine kleine Enkelin – war ums Leben gekommen.

 

Alle paar Minuten sagte der alte Mann immer wieder: „Wija hätt’n ihn’n nich’ trau’n dürf’n. Dit’ hab’ ick dija doch jesaacht, Muttaa, oda? Dit kommt davon, wenn de deen’n vatraust. Hab’ ick doch die jansze Szeit schon jesaacht. Wija hätt’n diese Scheijßkerle nich’ vatrau’n dürf’n!“

Welche Scheißkerle das gewesen waren, denen nicht zu trauen gewesen war, daran allerdings konnte Winston sich nicht mehr erinnern.

Seit ungefähr dieser Zeit war der Krieg buchstäblich ununterbrochen geführt worden, wenn es auch genau genommen nicht immer derselbe Krieg gewesen war. Mehrere Monate lang während Winstons Kindheit hatte es auch in London selbst verwirrende Straßenkämpfe gegeben, auch einige, an die er sich lebhaft erinnerte. Aber die gesamte Geschichte des Ganzen nachzuzeichnen, um sagen zu können, wer genau gegen wen zu welchem bestimmten Zeitpunkt gekämpft hatte, war völlig unmöglich, da keine schriftliche Aufzeichnung und kein gesprochenes Wort jemals etwas anderes als den gegenwärtigen Zustand beschrieben. Gerade jetzt, 1984 (falls es überhaupt 1984 war), befand sich Ozeanien im Krieg mit Eurasien und im Bündnis mit Ostasien. In keiner öffentlichen oder privaten Äußerung wurde jemals eingeräumt, dass diese drei Mächte zu einer anderen Zeit jemals anders zueinander gestanden hätten. Wie Winston selbst sehr wohl wusste, war es allerdings erst vier Jahre her, dass Ozeanien gegen Ostasien gekämpft und mit Eurasien verbündet gewesen war. Aber das war lediglich ein Stück verborgenen Wissens, das er einfach nur deshalb besaß, weil sein Gedächtnis nicht zufriedenstellend unter Kontrolle war. Offiziell war der Wechsel der Gegner und Verbündeten nie geschehen. Ozeanien befand sich im Krieg mit Eurasien, daher galt: Ozeanien war schon immer im Krieg mit Eurasien gewesen. Der immer gerade hier und jetzt vorhandene Feind stellte immer gerade hier und jetzt das absolut Böse dar, was bedeutete, dass jede frühere oder zukünftige Einigung mit ihm unmöglich gewesen und also undenkbar war.

Das Beängstigende daran, so dachte Winston zum wohl zehntausendsten Mal, als er seine Schultern schmerzhaft nach hinten zwang (mit den Händen auf der Hüfte, den Körper von der Taille aus kreisend; eine Übung, die angeblich gut für die Rückenmuskulatur sein sollte), war allerdings, dass das alles ebenso auch wahr sein könnte. Wenn die Partei ihre Hand in die Vergangenheit strecken und von diesem oder jenem Ereignis sagen konnte: ES IST NIE GESCHEHEN, war das dann nicht noch schrecklicher als bloß Folter und Tod?

Die Partei sagte, dass Ozeanien nie mit Eurasien verbündet gewesen wäre. Er, Winston Smith, wusste aber, dass Ozeanien sich noch vor vier Jahren in einer Allianz mit Eurasien befunden hatte. Aber an welcher Stelle war dieses Wissen vorhanden? Nur in seinem eigenen Bewusstsein, das auf jeden Fall bald vernichtet werden musste. Und wenn alle anderen die Lügen der Partei akzeptierten – wenn alle Aufzeichnungen dasselbe erzählten –, dann ging diese Lüge in die Geschichte ein und wurde zur Wahrheit. „Wer die Vergangenheit kontrolliert“, so lautete der slogan der Partei, „der kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrolliert die Vergangenheit.“ Und doch war die Vergangenheit, obwohl ihrer Natur nach veränderbar, niemals verändert worden. Was auch immer jetzt die Wahrheit sein sollte, war schon immer wahr gewesen und würde es auch für immer bleiben, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es war ganz einfach: Alles, was gebraucht wurde, war eine unendliche Reihe von Siegen über die eigene Erinnerung. „Realitätskontrolle“, nannten sie das; auf Newspeak hieß es: doublethink.

„Steht bequem!“, bellte die Vorturnerin ein wenig freundlicher.

Winston ließ seine Arme herabfallen und füllte seine Lungen langsam wieder mit Luft. Sein Geist glitt ab in die labyrinthische Welt des doublethink: zu wissen und gleichzeitig nicht zu wissen, sich der vollständigen Wahrhaftigkeit bewusst zu sein und dabei sorgfältig konstruierte Lügen zu erzählen; gleichzeitig zwei Meinungen zu vertreten, die sich ausschlossen; zu wissen, dass sie sich ausschlossen und an beide zu glauben; die Logik gegen die Logik ins Feld zu führen; die Moral abzulehnen und sich auf sie zu berufen; zu glauben, Demokratie wäre unmöglich und die Partei dennoch der Hüter der Demokratie; zu vergessen, was immer zu vergessen war, und es dann, in dem Moment, in dem es wieder gebraucht wurde, in die Erinnerung zurückzurufen, um es danach sofort wieder zu vergessen und, vor allem anderen, diesen Prozess auch auf den Prozess selbst anzuwenden; DAS war die ultimative Subtilität: die Unbewusstheit bewusst herbeizuführen und dann den Akt der gerade vollführten Hypnose wieder unbewusst werden zu lassen. Schon das volle Verständnis des Wortes doublethink war ohne die Anwendung von doublethink nicht möglich und setzte es bereits voraus.

Die Ausbilderin ließ sie wieder strammstehen: „Und nun wollen wir mal sehen, wer von uns seine Zehen berühren kann!“, rief sie begeistert. „Von den Hüften herab, bitte, Genossen! EINS-zwei! EINS-zwei!“

Winston verabscheute diese Übung, die ihm stechende Schmerzen von seinen Fersen hinauf bis zum Hintern verursachte und oft mit einem weiteren Hustenanfall endete. Dass es nicht ganz so schlimm wurde, verdankte er seinen Überlegungen, die ihn ablenkten. Die Vergangenheit, machte Winston sich klar, war nicht einfach nur verändert, sondern sogar zerstört worden. Wie ließ sich selbst die offensichtlichste Tatsache noch sicher feststellen, wenn es darüber keine Aufzeichnung außerhalb des eigenen Gedächtnisses gab? Er versuchte sich zu erinnern, in welchem Jahr er das ersten Mal von Big Brother gehört hatte. Das musste zu einer Zeit in den 1960ern gewesen sein, aber es war unmöglich, das Jahr genau zu bestimmen. In der Geschichte der Partei war Big Brother selbstverständlich schon seit jeher der Führer und Hüter der Revolution gewesen, seit deren allerersten Tagen. Seine Heldentaten waren allmählich in der Zeit weiter zurück verlegt worden, bis sie bereits in die fabelhafte Welt der 1930er und 40er reichten, als noch die Kapitalisten mit ihren merkwürdigen Zylinderhüten in großer Zahl durch die Straßen von London in glänzenden Autos oder verglasten Pferdekutschen gefahren waren. Es gab kein sicheres Wissen darüber, wie viel von dieser Legende wahr und wie viel erfunden war. Winston konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann die Partei angefangen hatte zu existieren. Er glaubte nicht, dass er das Wort Ingsoc jemals vor 1960 gehört hatte, aber es war durchaus möglich, dass es in seiner Oldspeak-Form, English Socialism, bereits vorher dagewesen war. Alles verschwand im Nebel. Manchmal allerdings war es tatsächlich möglich, eine eindeutige Lüge zu erkennen. Es war unter anderem nicht wahr, wie es in den Geschichtsbüchern behauptet wurde, dass die Partei die Flugzeuge erfunden hätte: Winston erinnerte sich an Flugzeuge seit seiner frühesten Kindheit. Aber es war nicht zu beweisen. Es gab niemals Beweise. Nur einmal in seinem ganzen Leben hatte er einen unverwechselbaren Nachweis für die Fälschung einer historischen Tatsache in den Händen gehalten. Und bei dieser Gelegenheit...

„Smith!“, schrie die Stimme aus dem telescreen. „6079 Smith, W! Ja, SIE! Tiefer bücken, bitte! Das können Sie besser. Sie versuchen es nicht richtig. Tiefer, bitte! So ist es besser, Genosse. Rührt euch jetzt, die ganze Truppe, und schaut mir zu.“

Winston schwitzte plötzlich überall. Sein Gesicht jedoch blieb völlig unergründlich. Zeige niemals Bestürzung! Zeige niemals Verbitterung! Ein einziges Flackern der Augen kann dich verraten! Er stand da und schaute zu, während die Vorturnerin die Arme über den Kopf hob und – nicht unbedingt anmutig, aber mit bemerkenswerter Sauberkeit und Effizienz – sich bückte und das erste Fingergelenk unter die Zehen klemmte.

„Dahin mit den Fingern, Genossen! So möchte ich euch das machen sehen. Seht mir noch einmal zu. Ich bin neununddreißig und habe vier Kinder auf die Welt gebracht. Jetzt seht hin!“ Sie beugte sich wieder vor. „Seht Ihr, MEINE Knie sind nicht gebeugt. Ihr könnt das alle so hinbekommen, wenn ihr nur wollt“, fügte sie hinzu. als sie sich aufrichtete. „Jeder unter fünfundvierzig ist ohne jede Frage in der Lage, seine Zehen zu berühren. Wir haben nicht alle das Privileg, in der vordersten Reihe zu kämpfen, aber wir können uns zumindest alle gesund halten. Denkt an unsere Jungs an der Malabar-Front! Und die Matrosen in den Floating Fortresses! Überlegt nur mal, was DIE erdulden müssen. Versuchen Sie es jetzt noch einmal. So ist es besser, Genosse, das ist VIEL besser", fügte sie ermutigend hinzu, als es Winston mit einer gewaltigen Anstrengung gelang, seine Zehen mit ungebeugten Knien zu berühren, zum ersten Mal seit vielen Jahren.

IV

Mit einem tiefen, unbewussten Seufzen, das sich ihm trotz der Nähe des telescreen jedes Mal zum Beginn der täglichen Arbeit entrang, zog Winston den speakwrite heran, blies den Staub aus dem Mundstück und setzte die Brille auf. Dann wickelte er vier kleine zusammengerollte Papierzylinder auseinander, die bereits aus der Rohrpostanlage auf der rechten Seite des Schreibtischs herausgefallen waren, und klemmte die Blätter anschließend zusammen.

In den Wänden der Kabine waren drei Öffnungen: Auf der rechten Seite des speakwrite befand sich eine kleine Luftpostanlage für schriftliche Mitteilungen, links eine größere für Zeitungen; und in der Seitenwand, in Reichweite von Winstons Arm, gab es einen großen, länglichen, durch ein Drahtgitter geschützten Schlitz, in den nicht mehr benötigtes Papier geworfen werden konnte. Ähnliche Vorrichtungen waren zu Tausenden oder Zehntausenden im ganzen Gebäude verteilt, nicht nur in jedem Raum, sondern mit kurzen Abständen auch in jedem Korridor. Aus welchem Grund auch immer hießen diese Öffnungen memory holes. Wenn ein Dokument zu vernichten war oder auch bloß ein Fetzen Altpapier herumlag, war es eine automatische Tätigkeit, es ins nächstgelegene memory hole zu werfen, von dem das Papier dann mit einem warmen Luftstrom zu den riesigen Öfen getrieben wurde, die in den Nischen des Gebäudes verborgen waren.

Winston untersuchte die vier Zettel, die er ausgerollt hatte. Sie enthielten jeweils eine Nachricht von nur einer oder zwei Zeilen, im abgekürzten Jargon – kein vollständiges Newspeak, aber weitgehend aus Newspeak-Wörtern bestehend –, wie er im Ministerium für interne Zwecke verwendet wurde, und lauteten:

times 84-03-17 bb rede falschzit africa richtig

times 83-12-19 3yp/9/Q6//83/Q4 fehler besser aktuell

times 84-02-14 miniplenty falsch schokolade richtig

times 83-12-03 bericht bb tagbef doubleplusungood bezgn unpersons vollstdg neu über Red/III/2/217.

Mit einem schwachen Gefühl der Zufriedenheit legte Winston den vierten Auftrag beiseite: Das war eine komplizierte und verantwortungsvolle Aufgabe und sollte besser zuletzt erledigt werden. Die anderen drei waren Routineangelegenheiten, obwohl die zweite wahrscheinlich ein mühsames Wühlen durch Zahlenlisten bedeuten würde.

Winston wählte die den Ausgaben der Times entsprechenden back numbers auf dem telescreen aus, und die Zeitungen fielen mit nur einigen Minuten Verzögerung aus der Rohrpost. Die Aufträge, die er erhalten hatte, bezogen sich auf Artikel oder Nachrichten, die aus dem einen oder anderen Grund geändert oder, wie es die offizielle Formulierung besagte, richtigzustellen waren: So stand in der Times vom 17. März, dass Big Brother in seiner Rede vom Vortag vorausgesagt hatte, dass die südindische Front ruhig bleiben, aber in Kürze eine eurasische Offensive in Nordafrika beginnen würde. Tatsächlich aber hatte das eurasische Oberkommando seine Offensive in Südindien gestartet und Nordafrika unbehelligt gelassen. Es war daher notwendig, einen Absatz in der Rede von Big Brother umzuschreiben, auf eine Weise, dass er genau dasjenige vorhergesagt hatte, was später dann tatsächlich geschehen war. Und in der Times vom 19. Dezember war der offizielle Ausblick auf die erwartete Produktion verschiedener Klassen von Konsumgütern für das vierte Quartal 1983, das gleichzeitig das sechste Quartal des Neunten Drei-Jahres-Plans war, veröffentlicht worden. Die heutige Ausgabe der Times enthielt nun allerdings eine Erklärung über die tatsächlichen Produktionsergebnisse, aus der hervorging, dass die Prognosen in jedem Fall grob falsch gewesen waren. Winstons Aufgabe war es, die ursprünglichen Zahlen so zu korrigieren, dass sie mit den nun angegebenen Werten übereinstimmten. Was die dritte Aufgabe betraf, so bezog sich diese auf einen sehr einfachen Fehler, der in ein paar Minuten behoben werden konnte: Vor nicht allzu langer Zeit, erst im Februar, hatte das Ministerium des Überflusses ein Versprechen abgegeben (eine „kategorische Zusage“ waren die offiziellen Worte gewesen), dass es keine Absenkung der Schokoladenration während des ganzen Jahres 1984 geben sollte. Tatsächlich, das wusste Winston, sollte aber am Ende dieser Woche schon die Zuteilung von dreißig auf zwanzig Gramm verringert werden. Alles, was erledigt werden musste, war also, die ursprüngliche Zusicherung durch eine Warnung des Inhalts zu ersetzen, dass im April wahrscheinlich weniger Schokolade ausgegeben würde.

 

Sobald Winston eine jede der Aufgaben abgearbeitet hatte, klemmte er die mit dem speakwrite ausgedruckten Korrekturen an das entsprechende Zeitungsexemplar und schob alles zusammen in die Rohrpostanlage. Dann zerknüllte er mit einer Bewegung, die so gut wie möglich unbewusst war, die Aufträge und auch alle Notizen, die er selbst gemacht hatte, und warf sie in das memory hole, damit sie von den Flammen gefressen würden.

Was in dem unüberschaubaren Labyrinth geschah, in das die Luftdruckschläuche der Rohrpostanlage führten, wusste er nicht im Detail, aber im Allgemeinen: Sobald alle Korrekturen, die in einer bestimmten Ausgabe der Times notwendig wurden, gesammelt worden waren, wurde diese Nummer nachgedruckt, das Original vernichtet und das korrigierte Exemplar im Archiv an die vorherige Stelle gelegt. Dieser Prozess der fortlaufenden Veränderung wurde nicht nur auf Zeitungen angewandt, sondern auch auf Bücher, Zeitschriften, Broschüren und Plakate, Flugblätter, Filme, Tonspuren, Zeichentrickfilme, Fotos; letztlich auf jede Art von Literatur oder Dokumentation, die möglicherweise eine politische oder ideologische Bedeutung hatte. Tag für Tag und fast Minute für Minute wurde die Vergangenheit auf den neuesten Stand gebracht. Auf diese Weise konnte hinsichtlich jeder von der Partei gemachten Vorhersage durch dokumentarische Belege nachgewiesen werden, dass diese Voraussagen richtig gewesen waren, und außerdem blieb keine Nachricht oder Meinungsäußerung, die im Widerspruch zu den jeweils tatsächlichen Gegebenheiten stand, jemals in den Aufzeichnungen erhalten. Alle Historie war wie ein mittelalterliches Pergament: sauber abgekratzt und genauso oft neu beschriftet, wie es notwendig geworden war; allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass heutzutage die erfolgten Änderungen nicht mehr nachgewiesen werden konnten. Der größte Teil der Archivabteilung, der weitaus umfangreicher war als derjenige, in dem Winston arbeitete, bestand aus Personen, die nur eine Aufgabe hatten: alle Kopien von Büchern, Zeitungen und anderen Dokumenten, die überholt waren und damit zur Vernichtung anstanden, aufzuspüren und einzusammeln. So befand sich stets nur eine einzige Nummer der Times unter dem ursprünglichen Datum im Archiv, und obwohl sie aufgrund von Veränderungen in der politischen Ausrichtung oder wegen von Big Brother irrtümlich gemachter Vorhersagen möglicherweise bereits ein Dutzend Mal umgeschrieben worden war, gab es keinerlei andere Kopie mehr, die dem jetzigen Inhalt widersprach. Auch Bücher wurden immer wieder zurückgerufen, umgeschrieben und neu herausgebracht, ohne dass daran vorgenommene Änderungen jemals eingestanden worden wären. Selbst die schriftlichen Anweisungen, die Winston erhielt und die er ausnahmslos wieder wegwarf, sobald er sich mit ihnen befasst hatte, erklärten niemals oder deuteten auch nur an, dass eine Fälschung begangen werden sollte: Immer ging es um Ausrutscher, Versehen, Fehldrucke oder unrichtige Zitate, und die Änderungen erfolgten stets auch nur im Interesse der Genauigkeit.

In Wahrheit aber, so dachte Winston, als er die Angaben des Ministeriums des Überflusses berichtigte, war das alles ja nicht einmal eine Fälschung, sondern lediglich die Ersetzung eines Blödsinns durch einen anderen: Der größte Teil des Zahlenmaterials, mit dem hier gearbeitet wurde, hatte keinerlei Beziehung zur realen Welt, nicht einmal jene Art von Verbindung, die in einer unmittelbaren Lüge wenigstens noch enthalten ist. Die Statistik war ebenso eine Phantasie in ihrer ursprünglichen wie in ihrer überarbeiteten Fassung. Meist wurde stillschweigend erwartet, die Werte einfach nur zu erfinden. Die Vorhersage des Ministeriums des Überflusses hatte für das genannte Quartal hinsichtlich der Produktion von Stiefeln bei einhundertfünfundvierzig Millionen Paar gelegen. Die tatsächliche Leistung wurde nun mit zweiundsechzig Millionen angegeben. Winston setzte also bei der Neuformulierung der Vorhersage die Zahl auf siebenundfünfzig Millionen fest, um den üblichen Anspruch zu berücksichtigen, die Planung wäre übererfüllt worden. In jedem Fall aber waren zweiundsechzig Millionen nicht näher an der Wahrheit als siebenundfünfzig Millionen oder einhundertfünfundvierzig Millionen. Sehr wahrscheinlich waren überhaupt keine Stiefel hergestellt worden. Noch wahrscheinlicher war allerdings, dass niemand wusste, wie viele produziert worden waren und sich auch niemand dafür interessierte. Bekannt war nur, dass auf dem Papier in jedem Quartal eine astronomisch hohe Anzahl von Stiefeln die Fabriken verließ, während wahrscheinlich die Hälfte der Bevölkerung Ozeaniens barfuß ging. Und so war es mit jeder Art von aufgezeichneten Fakten, bedeutend oder nicht: Alles verblasste zu einer Schattenwelt, in der schließlich sogar die Jahreszahl unsicher wurde.

Winston warf einen Blick durch den Saal: In der gegenüberliegenden Kabine arbeitete ein kleiner, pedantisch wirkender, dunkelwangiger Mann namens Tillotson gleichmäßig vor sich hin, mit einer gefalteten Zeitung auf den Knien und dem Mund sehr nahe am speakwrite. Er versuchte das, was er sagte, zu einem Geheimnis zwischen sich und dem telescreen zu machen. Er blickte auf, und seine Brille warf einen feindseligen Blitz in Winstons Richtung.

Winston kannte Tillotson kaum und hatte keine Ahnung, mit was genau dieser beschäftigt war. Die Mitarbeiter der Archivabteilung sprachen nicht so gern über ihre Arbeit. In der langen, fensterlosen Halle mit ihrer doppelten Reihe von Kabinen, dem endlosen Rascheln der Papiere und dem Summen der Stimmen, die in die speakwrites murmelten, gab es ungefähr ein Dutzend Personen, die Winston nicht einmal vom Namen her kannte, obwohl er sie täglich in den Korridoren hin und her eilen oder beim Zwei-Minuten-Hass wild gestikulieren sah. Winston wusste, dass sich in der Kabine nebenan die kleine sandhaarige Frau Tag für Tag damit beschäftigte, die Namen von Personen, die vaporized worden und deshalb nicht mehr existent waren, in der Presse zu finden und dann daraus zu entfernen. Die Frau verfügte für diese Aufgabe auch über beste Voraussetzungen, da ihr eigener Mann einige Jahre zuvor vaporized worden war. Und ein paar Kabinen weiter war es die Aufgabe einer harmlosen, lebensuntüchtigen und verträumten Kreatur namens Ampleforth, die äußerst behaarte Ohren und ein überraschendes Talent für das Jonglieren mit Reimen und Metren hatte, verstümmelte Versionen – „definitive Texte“, so wurden sie genannt – von Gedichten herzustellen, die ideologisch anstößig geworden waren, dennoch aber aus dem einen oder anderen Grund in den Sammelbänden aufbewahrt werden sollten. Und dieser Saal mit seinen ungefähr fünfzig Mitarbeitern war nur eine Untersektion, sozusagen eine einzige Zelle in der enormen Komplexität der Archivabteilung. Außerdem, darüber, darunter, gab es ganze Schwärme von Angestellten, die eine unvorstellbare Vielzahl von weiteren Tätigkeiten ausübten: Da waren die riesigen Druckereien mit ihren Unter-Editoren, ihren Typografie-Experten und aufwendig ausgestatteten Studios für die Fälschung von Fotografien. Auch gab es eine riesige Sektion für teleprogramming, mit Ingenieuren, Produzenten und großen Teams von Schauspielern, die speziell nach ihrer Fähigkeit ausgewählt worden waren, Stimmen nachzuahmen. An anderer Stelle wirkte eine ganze Armee von reference clerks, deren Aufgabe lediglich darin bestand, Listen von Büchern und Zeitschriften zu erstellen, die zum Rückruf fällig waren. Es gab die riesigen Lager, in denen die korrigierten Dokumente aufbewahrt und gespeichert, und die versteckten Öfen, in denen die obsolet gewordenen Kopien vernichtet wurden. Und an anderer, unbekannter Stelle, beinahe anonym, saßen die verantwortlichen directing brains, die alle Anstrengungen koordinierten und die politischen Richtlinien festlegten, die es jeweils erforderlich werden ließen, dieses Fragment der Vergangenheit aufzubewahren, jenes zu verfälschen und manches andere vollständig zu vernichten.