Lugege ainult LitRes'is

Raamatut ei saa failina alla laadida, kuid seda saab lugeda meie rakenduses või veebis.

Loe raamatut: «Der Müller von Angibault», lehekülg 20

Font:

27. Kapitel.
Die Hütte

Marcelle erwartete den Müller, wie er ihr ausdrücklich anempfohlen hatte, am unteren Ende der Gemeindewiese. Als es zwei Uhr schlug, sah sie ihn in ein schattiges Gehege treten und ihr ein Zeichen geben, ihm zu folgen. Nachdem sie einen der kleinen Bauerngärten durchkreuzt hatte, welche so schlecht unterhalten und dennoch so hübsch, so buschig und grün sind, betrat sie, im Schutz der Hecken hingleitend, den Hof einer der armseligsten Hütten des schwarzen Tales.

Dieser Hof maß zwanzig Fuß in die Länge und wurde auf der einen Seite von dem Häuschen, aus der andern von dem Garten geschlossen, während hüben und drüben strohbedeckte Schoppen von Reißholz angebracht waren, welche einige Hennen, zwei Schafe und eine Ziege einschlossen, d. h. den ganzen Reichtum eines Mannes, der von Tag zu Tag sein Brot gewinnen musste und nichts besaß, selbst die armselige Hütte nicht, welche er bewohnte, oder das Stückchen Land, welches er bebaute.

Das war also ein echter ländlicher Angstarbeiter18.

Das Innere des Häuschens war nicht minder ärmlich als das Äußere, und Marcelle fühlte sich gerührt, als sie die außerordentliche Reinlichkeit bemerkte, womit der Mut der Hausfrau gegen die Schrecken der Armut kämpfte. Der unebene und raue Fußboden war sauber gekehrt, die zwei oder drei Mobiliarstücke waren hell und glänzend, wie lackiert, und das auf einem Brett an der Wand aufgestellte irdene Tischgeschirr war sorgfältig gewaschen und geordnet. Bei der Mehrzahl der Landleute des schwarzen Tals versteckt sich das nackte, vollständige Elend schweigsam und edel hinter einer gewissenhaft beobachteten Ordnung und Sauberkeit.

Die ländliche Armut hat dort einen rührenden und zum Herzen sprechenden Anstrich. Man lebt gerne mit diesen Leuten zusammen. Sie flößen keinen Ekel ein, sondern Teilnahme und eine Art Achtung. Ach, wie wenig würde es vom Überfluss der Reichen bedürfen, um die Bitterkeit aus dem Leben dieser Armen, welche sich unter dem Anschein dichterischer Ruhe birgt, hinweg zu nehmen!

Dieser Gedanke bewegte Marcelle, als die Piaulette ihr entgegentrat, ein Kind auf den Armen und drei andere an der Schürze hängend, welche, in ihren Sonntagsstaat gekleidet, samt und sonders frisch und sauber aussahen. Die Piaulette (oder Pauline) war noch jung und hübsch, wenn auch durch mütterliche Anstrengungen und den Mangel der notwendigsten Lebensbedürfnisse vor der Zeit verwelkt. Niemals Fleisch, niemals Wein und nicht einmal Gemüse für eine Frau, welche arbeiten und dazu noch Kinder säugen muss! Und dennoch hätten diese Kinder einen guten Teil ihrer Gesundheit an den Sohn Marcelles verkaufen können, und dennoch hatte ihre Mutter ein Lächeln der Güte und des Vertrauens auf den blassen und welken Lippen.

»Willkommen, gnädige Frau, und nehmen Sie Platz«, sagte sie zu Marcelle, indem sie ihr einen mit einer Serviette von grobem, aber reinlichem Hanftuch bedeckten Stuhl anbot. »Der Herr, welcher Sie erwartet, war schon da und ging, da er Sie nicht fand, weg, um sich das Fest zu besehen, wird aber sogleich wiederkommen. Wenn ich Ihnen inzwischen nur mit etwas aufwarten könnte! .... Da sind ganz frisch gepflückte Pflaumen und Haselnüsse. Nun, großer Louis, greif’ doch auch zu! … Ich möchte dir gar gern ein Glas Wein anbieten, aber du weißt, wir haben keinen, und wenn du nicht wärest, hätten wir oft nicht einmal Brot.«

»Ihr seid wohl sehr arm?« fragte Marcelle, indem sie ein Goldstück in die Tasche des kleinen Mädchens gleiten ließ, welches ihre schwarzseidene Robe mit Erstaunen betastete, »und der große Louis, welcher selbst nicht sehr reich ist, lässt Euch Unterstützung angedeihen?«

»Er?« antwortete die Piaulette, »das ist das beste Menschenherz, welches der gute Gott geschaffen. Ohne ihn wären wir schon drei Winter her vor Hunger und Kälte gestorben. Er gibt uns Mehl, gibt uns Holz, leiht uns seine Pferde, um Wallfahrten zu machen, wenn eins von uns krank ist, er…«

»Schon gut, schon gut, Piaulette«, unterbrach sie der Müller, »es ist hinreichend, um mich für einen Heiligen auszugeben. Das ist wahrhaftig etwas Rechtes, dass ich einen so guten Arbeiter, wie dein Mann ist, nicht aufgegeben habe!«

»Ein guter Arbeiter!« versetzte die Piaulette achselzuckend. »Armer, lieber Mann! Herr Bricolin sagt immer, er sei faul, weil er nicht stark ist.«

»Aber er tut, was er kann, ich liebe die gutwilligen Leute und gebe ihnen Arbeit, wo ich kann.«

»Deshalb sagt man auch zu Herrn Bricolin, du werdest nie reich werden und du seiest nicht gescheit, weil du Leute von schwacher Gesundheit dingest.«

»Ei, wenn niemand sie dingen würde, so müssten sie also Hungers sterben? Eine saubere Gescheitheit das!«

»Aber«, bemerkte Marcelle, »Sie kennen die Moral Herrn Bricolins über diesen Punkt, welche lautet: umso schlimmer für sie!«

»Jungfer Rose«, fuhr die Piaulette fort, »hat ein recht gutes Herz. Wenn sie könnte, sie würde allen Unglücklichen beispringen. Aber sie vermag nichts, außer verstohlener Weise mir ein Stückchen Weißbrot zu bringen, um meinen Kleinen eine Suppe daraus zu kochen. Und das geschieht noch wider meinen Willen, denn wenn ihre Mutter sie sähe.... oh! Die böse Frau! Doch die Welt ist einmal so; es gibt Gute und Böse. Ah, da kommt Herr Tailland! Sie brauchen nur noch einen Augenblick zu warten.«

»Piaulette, du weißt, was ich dir empfohlen«, sagte der Müller, den Finger auf die Lippen legend.

»Oh«, versetzte sie, »ich wollte mir lieber die Zunge abhauen lassen, als ein Wort verlauten lassen.«

»Siehst du, es ist…«

»Du brauchst mir das Wie und Warum nicht erst auseinanderzusetzen, großer Louis; es genügt, dass du mir befohlen, reinen Mund zu halten. Kommt Kinder«, setzte sie, zu ihren auf der Türschwelle spielenden Kleinen gewandt, hinzu, »kommt, wir wollen ein bisschen das Fest beschauen.«

»Diele Dame hat deiner Kleinen einen Louisdor in die Tasche gesteckt«, sagte der große Louis ganz leise zu ihr; »sie tat das nicht, um deine Verschwiegenheit zu erkaufen, sie weiß schon, dass du diese nicht verkaufst, sondern sie tat es, weil sie sah, dass du in Not bist. Nimm das Goldstück, bevor das Kind es verliert, danke aber nicht, denn die Dame hat diese Wohltat heimlich gespendet und will also keine Dankbezeugungen dafür.«

Herr Tailland war ein Ehrenmann, für einen Berrichon sehr lebhaft, hinlänglich geschäftserfahren, aber etwas zu bequem. Er liebte die guten Lehnstühle, die hübschen kleinen Mahlzeiten, lange Siesten, heißen Kaffee und ebene Wege für sein Cabriolet. Von all diesem fand er nun freilich auf der Kirchweih von Blanchemont durchaus nichts, allein dessen ungeachtet blieb er, wenn auch fortwährend leise die ländlichen Vergnügungen verwünschend, den ganzen Tag über, um den einen einen Dienst zu erweisen und mit den andern Geschäfte abzumachen.

Nach einer viertelstündigen Unterredung hatte er Marcelle den Beweis geliefert, dass sie ihr Gut zu einem hohen Preise verkaufen könne; allein bezugs des schleunigen Verkaufs und der baren Bezahlung war er nicht der Meinung des Müllers.

»Bei uns zu Lande macht sich nichts schnell«, meinte er, »allein es wäre dennoch ein Torenstreich, keinen Versuch zu machen, um fünfzigtausend Francs mehr als das Angebot des Herrn Bricolin beträgt, zu gewinnen. Ich werde mir in dieser Hinsicht alle mögliche Mühe geben. Wenn ich binnen einem Monat keinen glücklichen Erfolg sehe, so werde ich Ihnen vielleicht, in Rücksicht auf Ihre eigentümliche Lage, den Rat geben, in Bricolins Vorschläge einzugehen. Allein es sind Hundert gegen Eins zu wetten, dass Bricolin, der sich nun einmal in den Kopf gesetzt, Gebieter von Blanchemont zu sein, auf die Ihrigen eingeht, wenn Sie nur eine bedeutende Zähigkeit zu heucheln vermögen, von welcher Sie, wie ich sehe, freilich nicht viel aufzuwenden haben, gnädige Frau, die aber durchaus nötig ist. Jetzt bitte ich Sie, mir die Vollmacht zu unterzeichnen, die ich Ihnen hier vorlege, damit ich mich aus dem Staube machen kann, denn ich will keineswegs das Ansehen haben, durch meine Schliche meinem Kollegen, Herrn Varin, welchen Ihr Pächter zweifelsohne gern als Ihren Geschäftsträger gesehen hätte, Konkurrenz zu machen.«

Der große Louis führte den Notar aus der Hütte und dem Gehege, und dann entfernten sie sich nach verschiedenen Richtungen hin. Man war übereingekommen, dass sich Marcelle einige Augenblicke später allein hinwegbegeben sollte, und dass sie inzwischen die Türe des Hauses verschlossen halten sollte, so dass man, im Falle ein Neugieriger Beobachtungen anstellen wollte, glauben würde, die Behausung stände leer.

Der Eingang der Hütte bestand aus einer Türe, welche durch einen Querschnitt in zwei Abteilungen geschieden war, deren obere statt eines Fensters dazu diente, Luft und Licht einzulassen. In den alten Behausungen unserer Bauern waren Fenster, welche von der Türe unabhängig und mit Glasscheiben versehen waren, eine unbekannte Sache. In dieser Art war auch das Haus der Piaulette und zwar von wohlhabenden Leuten vor fünfzig Jahren erbaut worden, während heutzutage selbst die ärmsten Leute, im Falle sie ein neues Haus bewohnen, Kreuzstücke mit eisernen Fensterstangen und mit Schlössern versehene Türen haben.

Die Türe der Piaulette wurde außen und inwendig vermittelst eines Coret d. h, eines hölzernen Hakens geschlossen, welcher durch ein Loch in der Wand gesteckt wurde.

AIs sich Marcelle in die Hütte verschlossen hatte, befand sie sich in tiefer Finsternis und fragte sich, welches Geistesleben wohl diese Leute führen könnten, welche, zu arm, um ein Licht brennen zu können, genötigt wären, im Winter mit Einbruch der Nacht zu Bette zu gehen und den Tag über sich im Dunkel aufzuhalten, um sich vor dem Frost zu schützen. ›Ich wähnte und sagte mir‹, dachte sie, ›ich wäre zugrunde gerichtet, weil ich mein vergoldetes, mit Seide tapeziertes und wattiertes Gemach verlassen musste; aber wie viele Sprossen sind auf der Leiter des sozialen Lebens noch herabzusteigen bis zu diesem Leben der Armen, welches sich so wenig von dem der Tiere unterscheidet: Keine andere Wahl, als entweder jederzeit die Ungunst des Klimas zu ertragen oder sich in das Nichts des Müßigganges zu versenken, gleich dem Schafe in seinem Stall! Womit beschäftigt sich diese unglückliche Familie in den langen Winterabenden? Mit Sprechen? Und wovon sonst sprechen, als von ihrem Elend? Ach, Lemor hat Recht, ich bin noch viel zu reich, als dass ich zu Gott sagen dürfte, ich hätte mir nichts vorzuwerfen!‹

Nach und nach gewohnten sich Marcelles Augen an die Finsternis, die schlechtverschlossene Türe ließ einen schwachen Lichtschein eindringen, der mit jedem Augenblick heller wurde, und plötzlich erbebte Marcelle, denn sie bemerkte, dass sie in der Hütte nicht allein sei. Aber ihr zweites Erbeben rührte schon nicht mehr von Furcht her: Lemor stand ihr zur Seite. Von allen unbeachtet hatte er sich hinter dem Bette verborgen, das wie ein Korbwagen gestaltet und mit Vorhängen von Werge versehen war.

Er hatte sich zu dieser Zusammenkunft mit Marcelle ermutigt, indem er sich sagte, es sei die letzte und dann müsse er scheiden.

»Da Sie doch einmal da sind«, sagte sie zu ihm und verheimlichte mit zärtlicher Koketterie ihre Freude und ihre Überraschung, »so will ich Ihnen laut sagen, was ich dachte. Wäre Ihre Liebe, so wir gezwungen wären, in dieser Hütte zu wohnen, wohl imstande, den Entbehrungen des Tages und der Untätigkeit des Abends zu widerstehen? Würden Sie leben können, Ihrer Bücher beraubt, sei es aus Mangel an Brennöl, sei es, weil Ihre Zeit von der Arbeit in Anspruch genommen wäre? Nach wie viel Jahren der Langeweile und der Entbehrungen jeder Art würden Sie wohl diese Behausung in ihrem Verfall noch malerisch, dieses Leben des Armen in seiner Einfachheit noch dichterisch finden?«

»Ich hatte ganz denselben Gedanken, Marcelle, und dachte Ihnen die gleiche Frage vorzulegen. Würden Sie mich noch lieben, wenn ich Sie durch meine Utopien in eine solche Lage brächte?«

»Ich denke ja, Lemor.«

»Und warum zweifeln Sie dann an mir? Ach Ihr Ja war nicht aufrichtig gemeint.«

»Nicht aufrichtig?« versetzte Marcelle, ihre beiden Hände in Lemors legend. »Mein Freund, ich will Ihrer würdig sein und deshalb bewahre ich mich vor romanhafter Exaltation, welche sogar eine Frau von Welt dahin bringen könnte, alles zu versichern, alles zu versprechen, mit dem Vorbehalt, nichts zu erfüllen und am folgenden Tag sich zu sagen: Gestern habe ich einen hübschen Roman gedichtet… Ich meinesteils aber lasse keinen Tag vergehen, ohne an mein Gewissen die ernstesten Fragen zu richten und deshalb glaube ich aufrichtig zu sein, wenn ich Ihnen sage, dass ich mir keine Lage, und wäre es auch der Schrecken eines Kerkers, vorstellen kann, in welcher das Elend mich zwingen könnte, Sie nicht mehr zu lieben.«

»O Marcelle, geliebte und großdenkende Marcelle! Aber warum denn an mir zweifeln?«

»Weil der Geist des Mannes von dem unsrigen verschieden, weil er an andre Nahrung als Zärtlichkeit und Einsamkeit gewöhnt ist, weil er der Tätigkeit, der Arbeit bedarf, sowie der Hoffnung, nicht allein seiner Familie, sondern auch der Menschheit nützlich zu sein.«

»Ist man doch auch nicht verpflichtet, sich freiwillig in diese Ohnmacht des Elends zu stürzen.«

»Wir leben also in einer Zeit, in welcher die Pflichten sich widersprechen? Denn man besitzt nicht zugleich geistige, mit Bildung verbundene Gewalt und mit der Macht des Geldes verbundene Bildung, und dessen ungeachtet gereicht alles, dessen man sich erfreut, alles, was man erwirbt, alles, was man besitzt, nur zum Schaden derer, welche von all den himmlischen und irdischen Gütern keines erwerben und besitzen können.«

»Sie fassen mich bei meinen eigenen Utopien, Marcelle, und ach, was soll ich Ihnen antworten, außer dass wir wirklich in einer verkehrten und notwendigerweise Inkonsequenzen herbeiführenden Zeit leben, in welcher gute Herzen das Gute wollen und dennoch das Böse hinnehmen müssen? Es fehlt nicht an Gründen, um sich – und so machen es alle Glücklichen des Jahrhunderts – selbst zu beweisen, man müsse sein eigenes Dasein pflegen, bauen und mit poetischem Anstrich versehen, um aus sich selbst ein tätiges und brauchbares Werkzeug für Seinesgleichen zu machen, wogegen es eine Kraft ersticken heiße und ein Licht verlöschen, welches Gott zur Erleuchtung und Rettung der Menschheit gesandt, wenn man sich opfere, demütige, zu nichts mache, wie es die ersten Christen in der Wüste getan. Welch ein Stolz schaut aus dieser Denkweise hervor, so billig sie sich auch in dem Munde unterrichteter und redlicher Menschen ausnimmt! Es ist die Denkweise der Aristokratie. Auch die Frommen Ihrer Kaste sprechen: bewahren wir unsere Reichtümer, um Almosen geben zu können. Wir, sagen die Großen der Kirche, sind von Gott bestellt, um die Menschen zu erleuchten. Wir, sagen die Demokraten der Bourgeoisie, wir allein sind es, welche dem Volke die Freiheit geben müssen19. Seht doch, was für Almosen, welche Erziehung, welche Freiheit diese Reichen und Mächtigen den Armen und Elenden gegeben haben! Nein, das vereinzelte Mitleid kann nichts, die Kirche will nichts, der moderne Liberalismus weiß nichts20. Ich fühle meinen Geist ermatten und mein Herz brechen, wenn ich an den Ausgang aus dem Labyrinth denke, in welchem wir umhertasten, wir andern, welche die Wahrheit suchen und denen die Gesellschaft auf ihre Fragen nur Lügen und Drohungen zur Antwort gibt. Marcelle, Marcelle, lieben wir uns, damit der Geist Gottes uns nicht verlasse!«

»Ja, lieben wir uns!« rief Marcelle aus, sich ihrem Geliebten in die Arme werfend, »und verlasse mich nicht, gib mich nicht meiner Unwissenheit anheim, Lemor, denn du hast mich aus meinem katholischen Gesichtskreis herausgebracht, in welchem ich ruhig an mein Heil glaubte, indem ich die Entscheidungen von Christus denen meines Beichtvaters unterstellte und mich darüber, dass ich nicht wirklich eine Christin sein könnte, tröstete, als mir ein Priester gesagt hatte: Es lässt sich mit dem Himmel ein Abkommen treffen. Du hast mir einen viel weiteren Gesichtskreis eröffnet und jetzt hätte ich keinen Augenblick Ruhe mehr, so du mich führerlos in dieser fahlen Dämmerung der Wahrheit allein ließest.«

»Aber ich, ich weiß nichts«, versetzte Lemor schmerzlich. »Ich bin ein Kind meines Jahrhunderts, ich besitze nicht die Wissenschaft der Zukunft, sondern vermag nur die Vergangenheit zu fassen und zu erklären. Ich sah Lichtströme vor meinen Augen und gleich allen, die dermalen jung sind und rein, eilte ich diesen Blitzen entgegen, die uns den Irrtum benehmen, ohne uns die Wahrheit zu geben. Ich hasse das Böse, aber ich kenne das Gute nicht21. Ich leide, o, ich leide, Marcelle, und finde nur in dir das schöne Ideal verwirklicht, durch welches ich die Welt regiert wissen möchte. O, ich liebe dich mit all’ der Liebe, welche die Menschen aus ihrer Mitte bannen, mit all der Hingebung, welche die Gesellschaft ohnmächtig macht, mit all’ der Zärtlichkeit, welche ich nicht auf die andern übertragen kann, mit all’ dem Erbarmen, welches Gott für dich und sie mir eingeflößt, das aber nur von dir allein verstanden und geteilt wird, während sonst alle dafür unempfänglich und verachtungsvoll sind. Lieben wir uns also, ohne uns zu verderben, indem wir uns unter die Triumphierenden mischen, ohne uns zu erniedrigen gleich denen, welche sich unterwerfen. Lieben wir uns wie zwei Schiffer, welche das Meer durchsegeln, um eine neue Welt zu erobern, dabei aber nicht wissen, ob sie dieselben jemals erreichen werden. Lieben wir uns, nicht um glücklich zu sein in der Selbstsucht zu zwei, wie man die Liebe nennt, sondern dass wir mitsammen leiden, mitsammen beten, mitsammen von Tag zu Tag, was wir beiden armen, vom Sturm verschlagenen Vögel vermögen, tun, um die Flut, welche unser Geschlecht verstreut, zu beschwören und unter unsern Fittigen einige Flüchtlinge zu sammeln, die gleich uns von Schrecken und Traurigkeit gebrochen sind!«

So sprechend weinte Lemor wie ein Kind und presste Marcelle an sein Herz. Seine Geliebte warf sich, von glühender Sympathie und enthusiastischer Achtung erfasst, vor ihm auf die Knie, wie eine Tochter vor ihrem Vater, und sagte:

»Rette mich, lass’ mich nicht zugrunde gehen! Du hast vorhin gehört, wie ich einen Geldmann in Geldsachen um Rat fragte. Ich ließ mich bereden, gegen die Armut zu kämpfen, um meinen Sohn vor Unwissenheit und geistiger Ohnmacht zu bewahren; wenn du mich deshalb verdammst, wenn du mir beweisest, dass mein Sohn besser und größer werde in der Armut, so könnte ich den schrecklichen Mut haben, seinen Körper leiden zu lassen, um seine Seele zu kräftigen.«

»O Marcelle«, entgegnete Lemor, indem er sie aufhob und seinerseits vor ihr kniete, »du besitzest die Stärke und Entschlossenheit der großen Heiligen und kühnen Märtyrer vergangener Zeiten! Aber wo ist das Taufwasser, welches wir über dein Kind ausgießen könnten? Die Kirche der Armen ist noch nicht erbaut. Bei dem Mangel einer allgemeinen Lehre leben sie in alle Welt verstreut und folgen verschiedenen Treiben, einige aus Gewohnheit entsagend, andere götzendienerisch aus Stupidität. Diese wütend vor Rachelust, jene entwürdigt durch alle Laster der Sorge und Entbehrung. Wir können nicht den ersten besten Bettler bitten, deinem Sohne die Hände aufzulegen, und ihn zu segnen. Dieser Bettler hat viel zu viel gelitten, um noch der Liebe fähig zu sein, und ist vielleicht ein Bandit! Bewahren wir, so viel möglich, deinen Sohn vor dem Bösen, prägen wir ihm die Liebe zum Guten ein und das Bedürfnis nach dem Licht. Seine Generation wird es vielleicht finden, vielleicht ist es ihr vorbehalten, eines Tages uns zu belehren. Behalte deinen Reichtum; wie könnte ich dir denselben zum Vorwurf machen, da ich sehe, wie wenig dein Herz daran hängt und wie du ihn als ein Anvertrautes betrachtest, von welchem du Gott Rechenschaft geben müssest? Behalte das wenige Gold, welches dir noch bleibt. Es gibt, wie der gute Müller zu mir sagte, Hände, durch welche es gereinigt, wie Hände, durch welche es beschämt und verderbt wird. Lieben wir uns, lieben wir uns und hoffen wir, dass Gott uns erleuchten wird, wenn seine Zeit gekommen. Und jetzt leb’ wohl, Marcelle! Ich fühle, dass du mir Mut wünschest. Ich werde mutig sein. Morgen werde ich dieses schöne und friedliche Tal verlassen haben, wo ich trotz allem zwei so glückliche Tage verlebte. In einem Jahre werde ich wiederkommen, und mögest du dann in einem Palaste wohnen oder in einer Hütte, ich weiß, dass ich an deine Türe klopfen und meinen Wanderstab an derselben niederlegen muss, um ihn nie wieder zu ergreifen.«

Lemor entfernte sich, und einige Augenblicke später verließ Marcelle ebenfalls die Hütte.

Soviel Vorsicht sie aber auch anwandte, um ihren Rückzug ungesehen zu bewerkstelligen, dennoch fand sie sich am Ausgang des Geheges einem Jungen von bösartigem Aussehen gegenüber, der, hinter einem Busch versteckt, ihren Weg zu erspähen schien. Er sah sie fest und frech an und begann dann wie erfreut, dass er sie überrascht und erkannt hätte, auf eine Mühle zuzulaufen, welche auf der andern Seite des Weges an der Vauvre liegt.

Marcelle, welcher diese hässliche Erscheinung nicht unbekannt schien, erinnerte sich mit einiger Mühe, dass es der Patachon sei, welcher sie neulich in einem Sumpf des schwarzen Tales hatte stecken lassen. Dieser rote Kopf und dieses grüne Auge von boshaftem Ausdruck verursachten ihr einige Unruhe, wiewohl sie nicht denken konnte, welches Interesse der Knabe haben könnte, ihre Gänge auszuspähen.

18.Ich weiß nicht, wer für das französische Wort ›proletaire‹ zuerst den Ausdruck ›Angstarbeiter‹ gebraucht hat. Soviel aber ist gewiss, dass der Ausdruck ein trefflicher ist. Proletarier, Angstarbeiter, gleichviel, welchem Stande er angehöre, ist der, welchem fortwährend die Nahrungssorge auf dem Nacken sitzt und ihn langsam zu Tode reitet. Von Tag zu Tag mit der Natur und mehr noch mit den verkehrten gesellschaftlichen Einrichtungen der notwendigsten Bedürfnisse wegen im Kampfe liegen, das ist Proletariat, Angstarbeit. Das Proletariat ist aber berufen, in Bälde noch einen andern, einen weltgeschichtlichen Kampf zu kämpfen, den Kampf mit dem hohlen, von Selbstsucht und Eitelkeit, mit papierenen Theoremen und abgegriffenen Phrasen sich nährenden Liberalismus, ein Kampf, der die Überwindung des durch den Liberalismus bekämpften barbarischen Feudalismus schon voraussetzt. A. d. Übers.
19.Die sozialistischen Schriftsteller der Franzosen trennen die Bourgeoisie, d.h. den besitzenden Bürgerstand vom millionreichen Bankier bis zum Handwerker, der in seinem eigenen Hause und mit eigenem Werkzeuge arbeitet, abwärts, scharf von dem Volk (peuple), wozu die Besitzlosen, die Proletarier aller Klassen gerechnet werden. In Frankreich herrscht seit 1830 die Bourgeoisie, d. h. der Geldsack, und auf dieses Ziel steuert auch der deutsche Liberalismus hin. A. d. Ü.
20.Ja, der Liberalismus weiß von nichts, außer von advokatischen Kniffen, von hochmütigem Cliquenwesen, von kleinlichster Eitelkeit und selbstsüchtigem Haschen nach Macht und Geld. Allerdings, heißt es S. 146 I. Bd. der rheinischen Jahrbücher zur gesellschaftlichen Reform: allerdings hat es eine Zeit gegeben, in welcher die Kämpfer um eine liberale oder um die liberalste Verfassung die Verwirklichung ihres Ideals nicht nur für eine geschichtliche Notwendigkeit, sondern sogar für denjenigen Knotenpunkt der weltgeschichtlichen Entwicklung ansahen, von dem aus die bis dahin rechtlosen Völker unter sicherer Garantie ihres Rechts den höchsten Höhepunkten der Zivilisation und Humanität zusteuern würden. Da freilich, als der Liberalismus sich noch in solchem Lichte sah, da schwellte ihn ein felsenfester Glaube an sich selber. Das war der Glaube, in welchem Rotteck seine Geschichte geschrieben. Wie Du die Welt ansiehst, so sieht Dich wieder die Welt an. Rotteck sah durch die konstitutionelle Brille – die beste, die es damals gab – erblickte das Ziel aller geschichtlichen Entwicklung, die Lösung aller geschichtlichen Probleme in der Konstitution. So lange der konstitutionelle oder überhaupt politische Gesichtskreis der weiteste war, so weit, dass niemand über ihn hinaussehen konnte, so lange hatte der Liberalismus wahrhaften Gehalt, hatte geschichtliche Berechtigung und Bedeutung und war darum auch voll Glaubens und Vertrauens zu sich selber. Da machte man aber eine neue Entdeckung, welche dem Liberalismus gleichsam den Boden unter den Füßen wegzog, indem sie den ganzen politischen Gesichtskreis zur Borniertheit stempelte; eine Entdeckung, die dem Liberalismus jede Berechtigung zu einer weiteren Existenz nahm und ihn zwang, entweder ehrlich seinen Gesichtskreis zu erweitern, d h, sich aufzugeben, oder weiter zu vegetieren in der Form der Heuchelei und Brutalität. Diese Entdeckung ist das Proletariat. Das Proletariat in Beziehung auf den Liberalismus ist nichts weiter, als die Entdeckung dass die ›volkstümlichen‹ Bestrebungen des letzteren nichts als hohle Theorien sind, und – das eben ist das Verderbliche für den Liberalismus – diese Entdeckung ist nicht nur in der Idee gemacht, sondern die Wirklichkeit der französischen, englischen und deutschen Zustände zwingt ihre Anerkennung jedem denkfähigen Menschen auf. Dadurch ist es denn auch den Liberalen unmöglich, die durch das Proletariat heraufbeschworene Skrupel ›theoretischen Grübeleien‹ in die Schuhe zu schieben; sie sehen sich vielmehr gezwungen, das Dasein des Proletariats und damit zugleich die Unzulänglichkeit ihrer politischen Bestrebungen zu erkennen und – einzugestehen? O nein! Das eben ist ihre Heuchelei. Sie geben das Dasein des Proletariats zu, aber sie wollen dessen ungeachtet mit Gewalt bei ihrem Unsinn beharren. A. d. Ü.
21.Dies ist leider bis jetzt noch das allgemeine Glaubensbekenntnis aller wahrhaft human, frei und gut Gesinnten. Wo uns der Schuh drückt, was zu vernichten ist, das wissen wir wohl, aber uns fehlt ein schöpferisches Genie, der alle die vereinzelten Bestrebungen nach sozialer Reform in den durchschlagenden Brennpunkt einer großen, neuen Idee sammelt, ein Genie, das, wie Christus die alte Weltordnung in Trümmer schlug, so die mittelalterliche Feudalität und die moderne Geldwelt in Trümmer schlägt und aus den Trümmern eine wirklich menschliche, sittliche Gesellschaft errichtet. A. d. Ü.