Loe raamatut: «Einmal Leben und Zurück», lehekülg 2

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Flucht 1967–1970

Kurz bevor ich aufs Gymnasium kam, zogen wir von der feuchten Wohnung im Erdgeschoss in eine enge Mansardenwohnung im dritten Stock. Dort schlief ich im winzigen Wohnzimmer auf der Couch. Ich weiß nicht mehr, wie ich es überhaupt schaffte zu schlafen, obwohl meine Eltern im selben Zimmer TV schauten. Spielen und Lernen fanden für mich am Küchentisch statt. Das blieb nicht ohne Einfluss auf meine schulischen Leistungen und mein schulischer Abstieg führte von der »höheren Lehranstalt« in den Aufbauzug der Volksschulen, der damals einzigen Chance in der Stadt, die Prüfung zur Mittleren Reife abzulegen. Dort wollte ich die neunte und zehnte Klasse absolvieren, um wenigstens einen vernünftigen Abschluss zu bekommen.

Gegen Ende des ersten Jahres bat mich meine Deutsch- und Englischlehrerin nach dem Unterricht zu sich und erzählte mir von einer Sommerschule in Schottland in den großen Ferien. Sie erklärte, dass der Bayerische Jugendring das Projekt unterstützt und die Kosten sehr niedrig wären. Ich wandte ein, dass ich nicht glaube, dass meine Eltern das bezahlen würden, sie gab mir dennoch das Formular und bat mich, mit meinen Eltern darüber zu reden. Mit wenig Hoffnung sprach ich mit ihnen und war überrascht, als sie zustimmten. So kam es, dass mein Vater mich zu Beginn der großen Ferien zum Bahnhof nach München brachte, wo ich die Zugreise nach Ostende, zur Fähre und zum Zug nach London bestieg. Bereits im Zug wurden wir von Lehrkräften betreut.

Sommer 1967 nach Großbritannien – es war wie in einem Traum. Aus jedem Radio erklangen »Whiter Shade of Pale« und »San Francisco«, »All You Need is Love« und »Let’s Spend The Night Together«. Vier oder fünf Tage sollten wir in London bleiben mit Sightseeing und individuellen Entdeckungstouren. Mir gefiel der Tower ebenso wie die Carnaby Street, das Zentrum des Mode-Universums der Beatniks. Mit zwei anderen Reiseschülern schafften wir es sogar, als Sechzehnjährige Zutritt zu einem Striptease-Club am Piccadilly Circus zu bekommen.

Nach aufregenden Tagen in London fuhren wir mit dem Zug nach Edinburgh, zur Whitehouse Loan School, unserem Domizil für die nächsten vier Wochen. Vier Wochen vormittags Englischunterricht, nachmittags Programm oder zur freien Verfügung. Der Unterricht fruchtete und ich bekam ein Gefühl für die Sprache, was sich in meinem späteren Leben als hilfreich erweisen sollte.

An den Wochenenden gab es Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten wie Melrose Abbey und Tantallon Castle, zum berühmten Golfplatz von San Andrews oder zum Hampton-Park-Fußballstadion in Glasgow.

Man muss bedenken, ich war vorher noch nie alleine im Urlaub gewesen, noch nie vorher im Ausland. Mit meinen Eltern gab es lediglich Tagesausflüge zu Burgen und Schlössern, die mich zwar durchaus interessierten, aber keinen Freiraum boten. Für den Familienurlaub gab es nur zwei Ziele: Tante Male in Schaftlach am Tegernsee und eine mit meinem Vater befreundete Schreinerfamilie in Bogen. Jetzt war ich hier und erlebte das große Tattoo (eigentlich Zapfenstreich, heute Musikfestival) auf Edinburgh Castle.

Ich spürte, dass ich meine ersten eigenen Schritte in die Welt gemacht hatte.

Als ich zum Ende der Ferien nach Hause kam, eröffneten mir meine Eltern, dass meine Mutter schwanger sei und sie siebzehn Jahre nach mir noch einmal Nachwuchs bekommen würden. Durch die Geburt meines Bruders im November 1967 verschlechterte sich meine häusliche Situation. Es war für mich ein Ereignis, das mein Leben noch mehr erschwerte und sich vor allem nachts negativ auswirkte. Meine Couch lag zwischen Elternschlafzimmer und Küche, wo das Babybrüderchen sein Fläschchen bekam und gewickelt wurde. Das alles fand nicht gerade geräuschlos statt und täglich wuchs meine Angst, dass ich bei den bald anstehenden Prüfungen scheitern würde. Dazu drohte mir mein Vater, dass er mich in eine Bäckerlehre stecken wird, wenn ich die Mittlere Reife nicht schaffe, damit ich lerne, früh aufzustehen.

Mein Schulkamerad Jürgen Below hatte ähnlich negative schulische Aussichten und so beschlossen wir, abzuhauen. Durch meinen Sommertrip nach England und Schottland war das Ziel klar: Swinging London. Nach dem Motto der Bremer Stadtmusikanten »Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal!« brachen wir zu unserem Traumziel auf. Wir redeten uns gegenseitig ein, dass wir uns schon irgendwie durchschlagen und vielleicht sogar Rockstars werden könnten.

An einem Vormittag im Februar starteten wir vom Fürther Hauptbahnhof, stiegen in Aachen um und wurden am späten Nachmittag in Belgien von Grenzbeamten aus dem Zug geholt. Uniformierte belgische Grenzer übergaben uns in Aachen der deutschen Grenzpolizei, die uns in eine Übergangseinrichtung brachten. Von hier aus wurden Jugendliche entweder ins Gefängnis oder eine Erziehungsanstalt verfrachtet oder ihren Eltern übergeben.

Wir waren zu acht in einem Schlafsaal mit Aufenthaltsraum und die sechs anderen erzählten aus ihrem reichhaltigen Erfahrungsschatz vom Leben auf der Straße. Aussagen über begangene Straftaten wurden tunlichst vermieden, weil den Profis unter uns klar war, dass man uns abhörte und die Beamten jedes unserer Worte mitbekamen. Stifte wurden uns abgenommen, damit wir nicht lautlos schriftlich kommunizieren konnten. Wir wussten, dass sich unter dem Aufenthaltsraum das Büro des Chefs dieser Einrichtung befand. Wohl stündlich marschierten wir im Kreis umher, die Füße fest aufsetzend, in jeden Schritt unsere Wut und Hilflosigkeit legend, bis die Wärter auftauchten und uns zur Ordnung riefen oder gar einen von uns in eine Einzelzelle sperrte.

Diese durfte ich auch kennenlernen: Bei einem Kontrollgang stand ich nachdenklich am Fenster und der Beamte fragte mich, was ich da treibe. Ich antwortete, dass ich berechne, wie lange ich brauchen würde, mit den Zähnen die Gitter durchzunagen. Das war zu viel des Sarkasmus und man bestrafte mich – wegen Planung eines Ausbruchsversuchs. Am nächsten Tag, ich saß immer noch in der Einzelzelle, holte mich mein Vater ab. Da alle den Jähzorn meines Erzeugers kannten, hatte meine Mutter darauf bestanden, dass ihn ihr fast zwei Meter großer Schwager zu meinem Schutz begleitete. Die Fahrt von Aachen nach Fürth war die schweigsamste meines Lebens.

Einschub

Jahrelang hatte ich im Internet immer wieder nach Spuren von meinem Schulkameraden und Fluchtgefährten Jürgen Below gesucht und keinen einzigen Hinweis gefunden.

Am 25. Mai 2021 erhielt ich folgende überraschende Email:

»Hallo Gerd,

ich hoffe, du kannst dich überhaupt an mich erinnern. Nachdem ich dich im Internet entdeckt habe, wollte ich ja schon seit Langem mal Kontakt zu dir aufnehmen. Hat bisher aber irgendwie nie geklappt. Ich bin viel zwischen Asien und Deutschland gependelt und da bin ich dann nicht dazu gekommen. Jetzt sitze ich ja auch seit längerer Zeit pandemiebedingt gelangweilt zu Hause und da habe ich mich mal durchgerungen. Ich hoffe, auch in diesen Zeiten geht es dir gesundheitlich gut. Falls du Lust und Laune hast, lass mal von dir hören. Ist ja viel Zeit vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Erst mal herzliche Grüße. Jürgen«

Unsere letzte Begegnung lag ziemlich genau ein halbes Jahrhundert zurück …

Parallel zu Literatur und Musik interessierte ich mich sehr für Politik. Wir schrieben das Jahr 1968 und die APO (Außerparlamentarische Opposition) befand sich auf dem Höhepunkt ihrer Wirkkraft. Vor allem Studenten und Schüler gingen auf die Straße und protestierten gegen das System. Und dann wurde kurz vor Ostern 1968, am 4. April, in Memphis, Tennessee Martin Luther King ermordet. Er, der auch für uns den Widerstand gegen die Unterdrückung verkörperte. Er, der für uns ein Symbol gegen die amerikanische Bombenpolitik in Vietnam war. Die USA war zum Feindbild geworden, jene Macht, die in Fürth drei Kasernen, dazu eine eigene Siedlung und in Dambach ein Nobelviertel für ihre Offiziere unterhielt.

Gemeinsam mit meinem Fluchtkameraden Jürgen Below verfasste ich ein Flugblatt in Englisch. Wir druckten und verteilten es in Kalb City, der amerikanischen Housing Area in Fürth. Die Aktion wurde bald von der US-Militärpolizei beendet, die uns sehr resolut aus dem Viertel begleitete.

Am 11. April 1968 wurde in Berlin Rudi Dutschke bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt. Aus den Ostermärschen, die sich anfangs nur gegen Atomwaffen wandten, wurden massive Proteste gegen den Staat an sich. Von nun an pendelte ich zwischen Schule, Versammlungen, Mahnwachen und Demonstrationen. Ich hielt in den folgenden Monaten auf Bitten eines linken Politologen an der Volkshochschule einen Kurs zu den Grundlagen des Marxismus. Meine Basis waren Nachdrucke der Lehrbriefe der kommunistischen Arbeiterschulen aus den 1920er- und frühen 1930er-Jahren. Diese zeichneten sich durch eine einfache, verständliche Sprache aus. So erklärte ich als Siebzehnjähriger an der Volkshochschule den Menschen, wie man Kapital, Mehrwert, Ausbeutung und andere Begriffe marxistisch-wissenschaftlich definiert.

Irgendwie schaffte ich entgegen aller Befürchtungen und Turbulenzen die Mittlere Reife und suchte nun nach einer Perspektive. Sie musste vor allem eine Bedingung erfüllen: Weit weg von zu Hause und meinem Vater. Das war 1968 für einen Siebzehnjährigen nicht so einfach, meine Volljährigkeit war noch mehr als drei Jahre entfernt. Alles in mir sträubte sich dagegen, aber ich erkannte, dass mir nur eine Chance blieb: die Bundeswehr.

Meine Freunde erklärten mich für verrückt. Ich gab ihnen recht. Die Bundeswehr stand im Prinzip für alles, wogegen ich war: erzkonservativ, extrem hierarchisch, autoritär, Verbündeter der USA. Aber sie bot die einzige Möglichkeit, aus der Reichweite und Abhängigkeit meines Vaters zu entkommen.

Und so bewarb ich mich, wurde angenommen und fuhr zur mehrtägigen Aufnahmeprüfung nach München. Nach vielen körperlichen Tests, endlosen Fragebögen und Interviews mit Psychologen erfuhr ich im Abschlussgespräch, dass ich, trotz meiner politischen Vorgeschichte, die man natürlich eruiert hatte, die Ehre haben werde, am 1. Oktober 1968 für vier Jahre der Luftwaffe anzugehören. Einige Wochen später erhielt ich meine Einberufung zum Luftwaffenausbildungsregiment 1 in Pinneberg.

Nach dreimonatiger vollmilitärischer Grundausbildung kam die Versetzung zum Fluganwärterregiment in Uetersen, wo ich die Sprachenschule (Englisch) der Luftwaffe absolvierte, bevor ich nach Karlsruhe abkommandiert wurde, wo ich meine Ausbildung zum Fernschreiber und Schlüssler (Kryptologen) erhielt. Von den damals erworbenen Schreibmaschinenkenntnissen profitiere ich noch heute. Im Frühsommer 1969 wurde ich zur 2nd Allied Tactical Air Force (2. Alliierte Taktische Luftflotte) der NATO nach Tongeren in Belgien versetzt – unweit der Stelle, an der man Jürgen Below und mich im Jahr zuvor aus dem Zug gefischt hatte. Das Schicksal zeigt manchmal einen äußerst merkwürdigen Humor.

Mein Arbeitsplatz befand sich allerdings im Nachbarland Niederlande in einem Bunker in der Nähe von Maastricht.

Von da an befand ich mich im Krieg. Er war zwar »nur« simuliert, aber dennoch ziemlich strapaziös und nervenaufreibend.

Soldaten aus Deutschland, Belgien, Niederlande, Dänemark, Großbritannien und Kanada standen hier in ständiger Bereitschaft, die Invasion des Warschauer Paktes abzuwehren. Oft wussten wir nicht mehr, ob wir in einer Simulation lebten oder ob dort draußen wirklich das Inferno herrschte.

Es begann bereits beim Betreten des Bunkers unter strengsten Sicherheitsbedingungen. Links und rechts des Eingangsbereichs standen erhöht Wachen mit Maschinenpistolen, deren Mündungen auf die Eintretenden zeigten.

Das Bunkerlabyrinth selbst war ursprünglich, ein von Menschen seit mehr als tausend Jahren in rohen Fels gehauener Steinbruch. Daraus entstand im Lauf der Zeit ein verwirrendes Gängesystem von über achtzig Kilometern Länge, nur wenige Abschnitte waren gemauert oder aus Beton. Die Temperatur in den Gängen lag konstant bei zehn Grad Celsius, nur die Funktionsräume wurden geheizt. Während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg versteckten die Niederländer hier viele ihrer Kunstschätze, unter anderem das berühmte Gemälde »Die Nachtwache« von Rembrandt.

Ein besonderer Bereich des unterirdischen Systems war der so genannte »Monk’s Cave«, eine mit religiösen Motiven ausgemalte Höhle. Diese wurde in meiner Dienstzeit für die Weihnachtsfeier der diensthabenden Schicht genutzt, zu der ich an Heiligabend 1969 gehörte. Dort erlebte ich bei einer Nachtschicht im Bunker die ungewöhnlichste Christmette meines Lebens.

Verschlungene Wege ohne Wegweiser führten im unterirdischen Labyrinth die Eingeweihten zu einem schalldichten Tor, hinter dem sich ein großer Raum befand. Wenn man das Tor öffnete, wurde man von einer Lärmlawine überrollt.

In einem in Fels eingebetteten großen Raum ratterten rund 50 Fernschreiber-Standverbindungen, die alle im Stehen bedient wurden. An einer Stelle hab es einen großen offenen Durchlass, aus dem noch mehr Lärm drang. Es war die »Tape Factory« mit zig Maschinen, wo die Nachrichten, die an mehrere Adressaten gingen, auf Lochstreifen vervielfältigt und von den »Routern« genannten Soldaten zu den entsprechenden Standverbindungen gebracht wurden. Natürlich geschah alles ohne Lärmschutz. Hier pulsierte ein Spinnennetz der Kommunikation, deren Fäden die Tapes, die Lochstreifen waren. Empfangen wurden Lochstreifen, gesendet wurden Lochstreifen. Papierausdrucke wurden nur in den Empfängerstationen gemacht.

Meine hauptsächliche Lektüre bestand nun nicht mehr aus Buchstaben, sondern aus in schmale Papierstreifen gestanzten Löchern. Es war eine sehr konzentrierte Arbeit und viele von uns halfen sich mit Aufputschmitteln wie Captagon (Wirkstoffe Amphetamin und Methamphetamin, verboten in Deutschland seit 2003), vor allem in den Nächten, denn es erhöhte die Leistungsfähigkeit und unterdrückte die Müdigkeit. Leider verschrieb kein Truppenarzt dieses Teufelszeug, sodass man es sich selbst besorgen musste.

Wir arbeiteten mit vier Gruppen im Schichtbetrieb zu je acht Stunden: hintereinander dreimal Spätschicht, dreimal Tagschicht, dreimal Nachtschicht, die vierte Gruppe hatte dreieinhalb Tage frei. Das war über ein Jahr lang mein Lebensrhythmus.

In dieser Zeit entstanden, vor allem nachts, große Teile meines experimentellen Prosatextes »112 Überlegungen in verschiedenen Räumen«. Hier zwei Zitate als Beispiele. Ich bevorzugte in meiner literarischen Anfangszeit die Kleinschreibung:

»dreißig meter erdreich über mir und ich atme noch.« […]

»nachtschicht. hineinkriechen in das erdloch, den großen schlund, der alle verschlingt. der die hölle ist und doch nicht die hölle ist. nur ein paar zensierte träume dürfen mit. eine axt, einen flammenwerfer, irgendetwas. amoklaufen, an der bushaltestelle* beginnen bis hierher. albträume am dienstag dreiundzwanzig uhr zweiunddreißig.«

* Wir wurden zu jeder Schicht mit einem Militärbus von der Kaserne im belgischen Tongeren zum Bunker in den Niederlanden gebracht.


Bunkereingang 2nd Allied Tactical Air Force »Headquarter War« nahe Maastricht

Stillgelegt, teilweise Museum.

Außerhalb von Bunker und Kaserne gab es durchaus Lichtblicke. Ich bekam sogar, wenn auch verspätet, die Nachricht mit von einem Festival in den USA in Woodstock. Da entstanden neue Sehnsüchte und der Wunsch wuchs, ganz woanders zu sein.

In der Maastrichter Diskothek Cave traf man in jener Zeit die Band Shocking Blue mit ihrer Sängerin Mariska Veres, die gerade ihren Hit »Venus« feierten.

Im von der British Air Force betriebenen Kasernenshop gab es gleich neben den Dartpfeilen die neuesten LPs aus der Parallelwelt. Dort kaufte ich mir neben Whisky und Zigaretten zum steuerfreien NATO-Preis auch ziemlich viel Musik. »Liege & Lief« von Fairport Convention zählt immer noch zu meinen Lieblings-LPs und andere, die zum Soundtrack meines Lebens wurden wie »Blues from Laurel Canyon« von John Mayall und das Debütalbum von Frijid Pink. Ihre Version von »House of the Rising Sun« ist heute noch hörenswert.

Dann wurde ich im Sommer 1970 zur Flugabwehrraketengruppe nach Landsberg am Lech versetzt. Nach der Besichtigungstour meines neuen künftigen Bunkerarbeitsplatzes beschloss ich, meine militärische Laufbahn zu beenden. Ungewöhnlich für einen Zeitsoldaten verweigerte ich den Militärdienst. Nach vielen Schikanen, einem eingehenden Verhör durch den Militärischen Abschirmdienst, einer psychiatrischen Untersuchung und einer Verhandlung in München wurde ich nach zwei Jahren und fünf Tagen mit einem schlichten Schreiben am 5. Oktober entlassen.

Zwei Monate später erschien das Typoskript »112 Überlegungen in verschiedenen Räumen«, auf das ich stolz war, es aber danach fast fünfzig Jahre lang nicht mehr in die Hände nahm. Erst die Arbeit an dieser Biografie veranlasste mich, wieder einmal in meinem Prosaerstling zu blättern. Ich hatte wohl die ganze Zeit befürchtet, dass er nicht gut genug wäre. Nun habe ich den Text endlich wieder gelesen und den wahren Grund meiner Abneigung entdeckt: Es steckt zu viel von meinem damaligen Ich darin, zu viel von dem Achtzehnjährigen, den man in einen virtuellen Krieg unter die Erde geschickt hat, zu viel von dem jungen Mann, der fürchtete, dass der Kalte Krieg ein heißer wird und der sich zwischen martialischer Atmosphäre und kalten Lochstreifen verloren hatte.

In den frühen 1970er-Jahren kam es gar nicht selten vor, dass man von älteren Herren gefragt wurde »Haben Sie gedient?«. Ich antwortete stets wahrheitsgemäß mit »ja«. Danach kam immer reflexhaft die Zusatzfrage »Letzter Dienstgrad?«; meine Antwort: »Deserteur.«

Fürth – die Rückkehr 1970–1972

Gleich nach meiner Entlassung aus der Bundeswehr fand ich im November durch die Hilfe einer Nachbarin meiner Eltern einen Aushilfsjob in der Exportabteilung von Quelle. Der dortige Chef empfahl mich aufgrund meiner »Textbegabung« der Werbeabteilung, die mich ab 1. Februar 1971 einstellte.

Parallel dazu gründete ich gleich nach meiner Rückkehr nach Fürth zusammen mit dem Buchhändler Christoph Kretschmer und dem Germanistikstudenten Klaus Pemsel das Fürther Kulturkollektiv »kukoll«. Es fand schnell Zuspruch bei Literaten, Malern und Musikern der sogenannten alternativen Szene und wir veranstalteten Lesungen an verschiedenen Orten.

Das Jahr 1971 wurde dann quasi die Initialzündung für meine literarische Zukunft. Ich kam in Kontakt mit Benno Käsmayr und seinem Maro Verlag, beteiligte mich an der Ausnahme-Anthologie »Selfmade«, ebenso an seiner Zeitschrift »und«. Im gleichen Jahr erschien bei Maro in der »Reihe Typoskripte« mein experimenteller Text »Spiegeleien«.

In Nürnberg machte ich als Mitherausgeber die Redaktion und das Layout der Ausgabe 3/4 des Magazins »UmDruck«. Es war das erste Mal, dass ich eine Zeitschrift gestaltete und die kompletten Druckvorlagen erstellte.


Cover der Literaturzeitschrift UmDruck.

Nach etlichen Lesungen, Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften in Deutschland und Österreich wurde ich im November 1971 in den Verband Deutscher Schriftsteller aufgenommen.


Mitgliedsausweis Gerd Scherm, Verband Deutscher Schriftsteller

Man muss bedenken, dass »lebendige Literatur« im Kulturbetrieb Anfang der 1970er-Jahre in Fürth so gut wie keine Rolle spielte. Dieses Vakuum war unser Freiraum. Ein besonders schönes Beispiel für die Initiativen der sog. »Alternativen Szene« war der »Club der Illusionisten«, wo ich im Februar 1972 lesen durfte. Die Fürther Nachrichten schrieben:

»Ein Privatclub junger Leute öffnet sich aufs Klingeln, der den viel bejammerten Klischeevorstellungen von der heutigen Jugend seit einigen Wochen ins Gesicht schlägt. […]

Der junge Fürther Autor Gerd Scherm las im gemütlichen Budenkreis neue ungemütliche Texte. […] Irgendwie war man an literarische Hinterzimmer-Zirkel erinnert. Wenn man weiß, dass in solchen Junge-Leute-Kreisen schon allerhand neue Literatur ausgebrütet wurde, ist das für den »Illusionisten«-Zirkel kein schlechtes Zeichen.«


Lesung im Schneidersitz auf dem Tisch: Februar 1972 im »Club der Illusionisten« in Fürth. Foto Bauer.

Ein nächster für mich entscheidender Schritt fand wieder an meinem damaligen Lieblingskulturschauplatz, dem Berolzheimerianum statt, als ich mich der Theatergruppe der Studiobühne Fürth anschloss, die dort probte. Die ambitionierten Laienschauspieler hatten gerade das große Los gezogen und den Dramaturgen Rainer Lindau als Leiter und Regisseur gewonnen. Durch ihn bekam ich übrigens meine ersten bezahlten (!) literarischen Auftragsarbeiten: Texte für die Programmhefte des Schauspielhauses Nürnberg, wo er tätig war. Die Nachbarstadt feierte 1971 ihr spektakuläres Dürer-Jahr und der Kultursäckel war wohl gefüllt, da konnte und wollte man sich sogar Poesie leisten.

So stehe ich nun beim Flanieren durch mein Leben vor dem nächsten Schaufenster. Eine neue Welt ist darin zu sehen, die Welt des Theaters.

Mein erster eigener Anlauf in diesem Genre ließ nicht lange auf sich warten. Gemeinsam mit Rainer Lindau entwickelte ich die Idee, aus einem weltbekannten Werk ein aufmüpfiges, satirisches Sprechstück zu machen: Wagners »Lohengrin« sollte unser »Opfer« sein. Sobald meine ersten geschriebenen Seiten vorlagen, begann der Regisseur mit den Probenarbeiten. Dadurch entstand für mich eine völlig neue Schreibsituation: Mein Schreiben zeigte eine unmittelbare Wirkung auf Menschen. Durch die Schauspieler bekamen meine Worte eine andere Dimension, eine andere Realität, was sich direkt auf den Schreibprozess auswirkte. Doch daran lag es nicht, dass das Projekt bereits nach einigen Wochen scheiterte. Die Darstellerin der Elsa war’s und ihre Zuneigung, die ich nicht erwiderte, wodurch das Stück seine weibliche Hauptfigur verlor. Es war wirklich ein Drama.

Zum Glück fand ich schnell ein anderes Thema: Ein Stück über den Kennedy-Clan. Die Entstehung des Stücks, parallel zu den Proben, war für mich ein faszinierender und inspirierender Prozess.

Die Ur- und einzige Aufführung fand im ausverkauften Berolzheimerianum, heute »Comödie Fürth« statt.


Szenenfoto aus »Der Clan«: Auftritt von Richard Nixon (Gert Hessing). Foto privat.

Das Stück im Agitpropstil zeigte am Beispiel des Kennedy-Clans, wie Geld die Politik okkupiert und die Macht der Reichen in den USA funktioniert und manipuliert. Das Drama zeigte auch, wie weit sich die USA der 1960er-Jahre von den Idealen der Gründerväter und den Intentionen der Unabhängigkeitserklärung entfernt hatten. Die Lokalpresse schrieb: »… man fürchtete, das am Schluss entrollte Sternenbanner könnte als Verunglimpfung einer befreundeten Nation konfisziert werden. Stattdessen wurde die Uraufführung von Gerd Scherms ›Clan‹ zum bisher spektakulärsten Auftritt der Fürther Jungautorengilde. Den äußeren Zeichen nach auch ihr bislang größter Erfolg: ein voller Saal, stürmische Zustimmung.«

Im folgenden Herbst bekam ich den Kulturförderpreis der Stadt Fürth, für den ich mich bei der Verleihung mit einer aufmüpfig-kritischen Rede bedankte. Womit ich die Erwartungshaltung sowohl des linken als auch des konservativen Publikums von Preisverleihungen an kritische Autoren in der damaligen Zeit ironisch erfüllte. Mein Schlusssatz: »Ich hoffe, nun nicht mit dem städtischen Kulturbetrieb identifiziert zu werden; aber vom Preisträger des Hörspielpreises der Kriegsblinden erwartet man ja auch nicht, selbst kriegsblind zu sein.«

Das war der erneute Abschied von meiner Heimatstadt.

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