Die Altschweiz

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Die Altschweiz
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Geri Schnell

Die Altschweiz

Über Freiheit und gegen Unterdrückung

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

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Impressum neobooks

Vorwort

Die Altschweiz

von: Geri Schnell


Den Roman habe ich im Jahre 2007 geschrieben und 2008 unter dem Titel: Damals im Jahre 2028 im BOD Verlag veröffentlicht. Das Buch wurde nur innerhalb meines Bekanntenkreises gelesen, es wurde als sehr spannend beurteilt.

Mit der Möglichkeit, meine Romane kostenlos als E-Books zu veröffentlichen, will ich die Chance nutzen und auch diese Geschichte neu veröffentlichen.

Beim Durchlesen stellte ich fest, dass sich in den gut 12 Jahren doch einiges verändert hatte, das man sich im Jahre 2008 noch nicht so vorstellen konnte. So telefonieren die Personen aus Telefonkabinen und müssen Computer in Hotels aufsuchen, um ins Netzt zu gelangen. Heute geht das alles übers Handy, wie es im 2036 abläuft, ist schwer vorauszusagen. Ich gehe davon aus, dass das Handy heute soweit entwickelt ist, dass ich nicht mehr mit grossen Änderungen rechne. Vielleicht werde ich mich in 10 Jahren wundern, was noch alles möglich wurde, doch im Roman geht es um eine spannende Geschichte und nicht darum, technische Entwicklungen vorauszusehen. Das Problem haben ja alle klassischen Romane der Geschichte, die jungen Leser werden sich wundern, wie kompliziert das früher war.

Im Jahre 2008 war auch die Klimaerwärmung noch kein Thema. Da ging es darum, die Arbeitsplätze zu erhalten, welche immer öfter nach Fernost verlegt wurden. Zudem schottete sich die EU gegen den Schweizer Arbeitsmarkt ab. Die Schweiz konnte nur mit Konzessionen den Handel mit der EU aufrechthalten, was sich in meiner Geschichte soweit entwickelte, dass die Bergbevölkerung nicht mehr mitmachen wollte. Heute ist diese Gefahr wesentlich geringer, da auch die Kantone im Mittelland sich der EU nicht beugen und ein Minimum an Eigenständigkeit bewahren wollen. So ist diese Geschichte aus heutiger Sicht an den Haaren herbeigezogen. Ungeahnt, dass die Geschichte eher unrealistisch ist, bleibe ich beim Grundgedanken, denn die daraus entstandene Geschichte ist immer noch sehr spannend. Nun versuche ich noch einige politisch fragwürdige Ereignisse zu integrieren, wohlwissend, dass sie hoffentlich nicht so eintreffen.

1. Kapitel

Der Wind rüttelt an den Fensterläden des alten Berghotels auf dem Splügenpass. Noch ist es etwas hell, schon bald wird wieder eine der kalten Nächte hereinbrechen. Pascal hat es schon längst aufgegeben, den Zufahrtsweg zum Hotel vom Schnee zu räumen. Seit der CO2-Ausstoss weltweit doch drastisch eingeschränkt werden konnte, sind die Winter wieder schneereicher geworden. Anfang der zwanziger Jahre konnte man kaum noch Skifahren. Nun sind die Winter wieder strenger geworden. Grosse Schneemengen im November sind keine Seltenheit mehr.

Es ist erst November und es dauert noch einige Zeit, bis die ersten Touristen anreisen. Am Tage wird im Hotel alles auf die kommende Saison vorbereitet und abends vertreibt man sich die Zeit mit Kartenspiel.

«So, jetzt schliesse endlich den Fensterladen!», ruft seine Mutter Lisa. Sie ist auch die Köchin im Restaurant. Die Bedienung wird erst zum Beginn der Skisaison eingestellt, zurzeit hätte diese nichts zu tun. Es gibt noch keine Gäste.

Schnell öffnet Pascal das Fenster. Es schneit und ein eisigkalter Wind bläst ihm ins Gesicht. Er löst die Verankerung des einen Fensterladens, sofort schlägt dieser durch den heftigen Wind zu. Die andere Seite des Fensterladens zu lösen, ist einfacher, nur das Zuziehen ist sehr anstrengend, der Wind bläst heftig dagegen. Jeden Abend der gleiche Kampf. Mit letzter Kraft zieht er den Laden zu und schliesst die Verankerung. Endlich wird es in der Gaststube wieder gemütlich.

«Toni komm mit! - Da draussen liegt etwas im Schnee», plötzlich ist ihm bewusst geworden, dass er, als er den Fensterladen zuzog, auf dem Weg ein dunkles Etwas ausgemacht hat.

«Was könnte das sein?» Auf jeden Fall darf er keine Zeit verlieren.

«Wir müssen uns warm anziehen», erklärt Pascal und zieht sich die warmen Bergschuhe an.

«Bist du sicher?», fragt Toni, während auch er seine Schuhe sucht.

«Nein, aber wenn es ein Mensch ist, müssen wir ihm helfen!»

«Seit mehreren Jahren schleicht hier niemand mehr über die Grenze, das war im vorigen Jahrhundert noch so, aber jetzt verirrt sich niemand mehr in diese Gegend. Schon gar nicht bei diesem Wetter!»

«Ich kann es mir auch nicht vorstellen, aber ich habe etwas gesehen, also müssen wir nachschauen. Vielleicht habe ich mich getäuscht, aber ich muss wissen, was da im Schnee liegt.»

Endlich sind die beiden Männer soweit vermummt, dass sie sich in die Kälte wagen können. Heftig gegen den Wind ankämpfend, öffnen sie die Türe. Sie müssen sich dagegen stemmen, damit sie nicht wieder zuknallt.

Der Wind bläst von der Seite, so kommen sie gut voran. Allerdings müssen sie ihre Köpfe vom Wind wegdrehen und können nur wenige Meter weit sehen. Pascal stapft durch den knietiefen Schnee während Toni in seiner Spur bleibt. Noch können sie nichts erkennen, es ist inzwischen dunkel geworden, aber Pascal weiss wohin er zu gehen hat, er braucht dazu kein Licht.

Endlich, - vor ihm liegt eine Gestalt im Schnee. Die rührt sich nicht mehr. Eine halbe Stunde später hätte man nichts mehr gesehen. Dann wäre sie komplett eingeschneit gewesen. Ohne Worte packen die beiden Männer zu. Pascal greift unter die Schulter, während Toni die Knie der Gestalt ergreift. Unverzüglich machen sie sich auf den Weg zurück in die warme Gaststube.

Lisa erwartet sie bereits und öffnet die Türe, so dass sie ihren Fund direkt in der Gaststube auf einem Tisch ablegen können. Klara, die alte Wirtin hat bereits Tücher und heisses Wasser bereitgestellt. Mit einem warmen Tuch wärmt sie den Reissverschluss der Jacke soweit auf, dass man ihn öffnen kann. Auch die gefrorenen Handschuhe können erst vorsichtig ausgezogen werden, nachdem sie durch ein warmes Tuch aufgetaut sind.

«Ich glaube es ist ein Mann», stellt Lisa fest, als sie das Halstuch, welches das Gesicht verhüllte vorsichtig wegschieben kann. Noch sind erst die Augen freigelegt. An der Nase ist das Halstuch festgefroren, wieder wird das warme Tuch eingesetzt.

«Zum Glück trägt er dicke gut isolierte Kleidung, sonst wäre er sicher tot. Seine Finger weisen nur leichte Erfrierungen auf. Das deutet darauf hin, dass er noch nicht lange bewusstlos ist.»

«Ja, er atmet noch», stellt Lisa erfreut fest, «aber er ist sehr schwach», schlägt ihr Ton sofort wieder in Besorgnis um.

«Wir werden ihn schon durchbringen», stellt Klara optimistisch fest, «damals haben wir noch Leute in bedeutend schlechterem Zustand durchgebracht. Holt schon ein Waschbecken voll Schnee, wir müssen seine Brust und Hände mit Schnee langsam auftauen.»

«Was ist den hier los?», erstaunt blickt Paul auf die gespenstische Szene, welche sich ihm in der Gaststube bietet. Da liegt ein Mann nackt in der Gaststube. Pascal drückt den vor Schmerzen laut schreienden Mann auf den Tisch, während Lisa seine Brust massiert, hält ihn Toni an den Füssen fest. Das ginge ja alles noch, aber seine alte Frau Klara bearbeitet den Pimmel des nackten Manns. Jetzt ist er bereits seit über dreissig Jahren mit Klara verheiratet und hat nie bemerkt, dass sie eine Neigung zum Perversen hat. Wenn sie ihm das früher gesagt hätte, nicht auszudenken, was sie zusammen alles hätten erleben können. Jetzt ist es mit seinen achtzig Jahren zu spät. Was will sie nur mit diesem jungen Schnösel, wenn sie glaubt, dass sie ihn eifersüchtig machen kann, dann hat sie sich aber getäuscht.

«Hallo Opa!», ruft Pascal laut, denn Opa hört nicht mehr besonders gut, «mache für unsern Gast einen heissen Tee. - Wir können hier nicht weg!»

«So, so - einen Tee braucht er auch noch», brummt Opa und schlürft in die Küche.

 

Immer lauter schreit der ins Leben zurückkehrende Nackte und die vier bemühen sich weiter intensiv um ihn. Inzwischen kann man ihn bereits mit kaltem Wasser abreiben, aber noch ist er sehr durchfroren. Die Schmerzen müssen stark sein, aber da muss er durch.

Also, bei der Behandlung bekäme ich auch noch einen hoch, denkt Opa, als er den Tee bringt. «Kann mir wenigstens jemand sagen was das soll?»

«Der lag auf dem Weg und hatte riesiges Glück, dass ich ihn beim Schliessen der Fensterläden gesehen habe», klärt ihn Pascal auf.

«Ach so - wie damals vor vierzig Jahren», brummt er, «wieso? Das ist doch jetzt nicht mehr nötig!»

«Ich weiss auch nicht was dahinter steckt, er lag einfach da und ausser Schreien hat er noch kein Wort gesprochen.»

«Ja das kenne ich, da musst du dich noch gedulden, das dauert», brummt Opa und stellt das Tablett auf den Tisch und giesst eine Tasse Tee ein.

Nach einer Stunde kehrt langsam Leben in den Körper des Mannes zurück. Er wird immer noch von Schmerzen erschüttert. Inzwischen kann er kleine Schlückchen Tee schlürfen. Der Arme ist nicht nur total unterkühlt, er ist auch unterernährt und erschöpft. Sicher musste er einige Strapazen überstehen, ehe er vor dem Berghotel vom Wintereinbruch überrascht wurde.

«So, das reicht fürs Erste», erklärt Klara, «jetzt ziehen wir ihn warm an und legen ihn ins Bett. Er ist so erschöpft, dass er unbedingt Schlaf braucht.»

Lisa bringt zwei warme Schlafanzüge und darüber wird ihm noch ein Trainingsanzug übergezogen. Hände und Füsse sind dick bandagiert und auch die Ohren werden warm eingepackt. Noch hat er kein verständliches Wort gesprochen, sein Stöhnen lässt auf einen holländischen Akzent schliessen. Kann man nach dem Stöhnen eines Menschen auf seine Sprache schliessen? Er dürfte ungefähr zwischen sechzig und siebzig Jahre alt sein, aber das ist in diesem Zustand sehr schwierig abzuschätzen. Vermutlich war er einmal verheiratet, trägt jedoch keinen Ring mehr, aber am Finger ist deutlich zu sehen, dass er längere Zeit einen Ring getragen hatte.

Gemeinsam trägt man den Mann in ein Hotelzimmer und deckt ihn warm zu. Die Türe zum Zimmer lässt man offen, so dass man sofort hört, wenn er aufwacht. Klara bleibt noch kurz bei ihm, doch als er eingeschlafen ist, kommt auch sie in die Gaststube. Dort untersucht Pascal die Kleider des Fremden. Er trägt keine Papiere auf sich, ausser einem Nastuch findet er etwas Bargeld in kleinen Euro-Noten. Total rund zweihundert Euro. Pass oder einen Ausweis sucht er vergebens.

«Sollen wir nicht einen Arzt verständigen?»

«Das bringt doch nichts, der hat keine Chance bis zu uns vorzustossen, die Strasse wurde nicht geräumt und ein Helikopter kann bei Nacht und diesem Schneesturm auch nicht fliegen. Ausserdem habe ich das Gefühl, dass er nicht erkannt werden will», beantwortet Pascal die Frage von Lisa.

«Wir sollten jetzt auch schlafen gehen, einer muss immer wach bleiben, ich übernehme die erste Wache, dann ist Lisa und Pascal an der Reihe», erklärt Paul, «also ins Bett mit euch, nach zwei Stunden wird gewechselt.»

Als Pascal am nächsten Morgen die Fensterläden öffnet, schneit es immer noch sehr stark. Es wird nicht möglich sein, dass ein Arzt den Fremden untersuchen kann. Weil das Hotel so abgelegen ist, hat es eine gut ausgerüstete Notapotheke. Die Körpertemperatur des Fremden ist von 35 Grad bereits auf 36,5 gestiegen. Er schläft noch immer tief und fest. Das ist ein gutes Zeichen. Wenn die Schmerzen zu stark wären, könnte er nicht mehr schlafen.

Pascal kocht sich einen starken Kaffee und schiebt ein gefrorenes Brot in den Backofen. Nach wenigen Minuten füllt sich der Raum mit dem angenehmen Geruch von frischem Brot. Noch immer geht ihm der Fremde nicht aus dem Kopf, was hat ihn bei diesem Wetter über den Splügen getrieben. Ist es ein Krimineller? Er überprüft am Handy die neusten Meldungen. Gleichzeitig bestreicht er sein frischduftendes Brot mit Butter. Unter den News gibt es keinerlei Informationen. Er sucht weiter, unter Ausland und Euroraum, doch nichts deute auf einen verlorenen Mann hin.

Nach einer halben Stunde weiss er nicht mehr als vorher, die üblichen Nachrichten. Die Europäische Regierung stellt ihre neuesten Beschlüsse ins rechte Licht. Was die alles beschliessen. Pascal ist wirklich froh, dass sich ein Teil der Schweiz vor Jahren erfolgreich gegen einen Anschluss an die EU gewehrt hatte.

Wirtschaftlich ging es anschliessend bergab. Der Tourismus brach ein, man musste zurückstecken. Für die zähe Bergbevölkerung war das nicht weiter schlimm, da hatten es die verwöhnten Städter wesentlich schwerer. Die Grenze zur EU bilden jetzt die Kantone St. Gallen, Schwyz, Zug, Luzern, Ob- und Nidwalden, Uri, Tessin und Graubünden.

Die Wirtschaft stagniert. In der Stadt Zug haben sich noch einige Banken etabliert, welche anscheinend gute Geschäfte machen, die Industrie und die Landwirtschaft sind praktisch verschwunden, respektive, produzieren nur noch für den lokalen Markt. Luzern ist das Internationale Zentrum der Schmuckindustrie geworden, während sich Sankt Gallen als Handelszentrum für die Textilindustrie behaupten konnte.


Der Tourismus musste zurückstecken. Das war nicht weiter schlimm, denn die meisten Arbeiter im Gastgewerbe waren Ausländer. Nun gehörten die Berge wieder den Einheimischen, die Ausländer verliessen die Altschweiz freiwillig. Pascal kann sich nicht mehr an die Auseinandersetzung erinnern, welche schliesslich zur Spaltung der ehemaligen Schweiz führte. Für Paul und Toni ist es nach wie vor das Ereignis ihres Lebens, dessen Jubiläum jedes Jahr mit vielen Emotionen gefeiert wird.

Bei jeder Gelegenheit erzählen sie die Geschichte, wie sie damals die Strassen blockierten und ausländische Lastwagen stoppten, einige in Brand setzten, oder ihre Ladungen beschlagnahmten. Im letzten Jahr wurde das zehnjährige Jubiläum gefeiert.

Für die jüngeren Leute unverständlich, denn, wenn sie ausländische Nachrichten im Netz anschauen, ist man in der Altschweiz doch ziemlich rückständig. Sie sind verunsichert und wissen nicht, ob es sich gelohnt hat. Ist der Preis nicht doch zu hoch?

Ein Stöhnen aus dem Zimmer des Fremden weckt Pascal, der ob der Gedanken eingedöst war, wieder auf. Er stellt seine Tasse auf den Tisch und schaut nach dem Fremden. Dieser wird momentan von einem starken Schüttelfrost geplagt. Pascal nimmt seine Hand und versucht ihn zu beruhigen. Als es nicht gelingt, sucht er in der Notapotheke eine Tablette.

«Nehmen sie die hier», beruhigend redet er auf den Fremden ein, das Problem ist nicht nur der Schüttelfrost, der Fremde hat panische Angst. Am liebsten möchte er flüchten, aber dazu ist er zu schwach.

«Wir tun ihnen nichts! Bitte beruhigen sie sich, sie sind hier in der Altschweiz», versucht er ihn weiter zu beruhigen.

«Plees, nou Police», haucht er, «nix Police!», verzweifelt fleht er ihn an, in seinen Augen spiegelt sich die nackte Angst.

«You in Oldswitzerland», versucht Pascal zu beruhigen, «nix Police!»

«Oldswitzeland? Gott bless you! Thank you, thank you», die Angst weicht aus seinen Augen.

«Nix Police, nix Police!», flehend hebt er die Hand, «nix Ponza, nix Ponza, nou, nou!», stammelt er verzweifelt.

Pascal flösst ihm Tee ein und gibt ihm Tabletten gegen die Schmerzen und das Fieber, denn inzwischen scheint der Körper des Fremden zu glühen. Pascal spricht nicht viel englisch und versteht den Fremden nur sehr schlecht, zwischen jedem Schluck wiederholt er immer wieder die gleichen Worte, es geht um Ponza und um die Polizei, das ist ihm inzwischen klar geworden. Noch weiss er nicht, was er daraus schliessen soll. Sicher ist, dass der Fremde Angst vor der Polizei und Ponza hat. Nachdem er eine Tasse Tee getrunken hat, fällt er zurück in sein Kissen und schläft wieder ein. Sein Schlaf ist jetzt bedeutend ruhiger. Das Fieber klettert auf 39 Grad. Mit einem feuchten Tuch kühlt Pascal seine Stirne.

Als Pascal zurück in die Gaststube geht, ist der Kaffe kalt. Er wärmt ihn auf und fährt mit dem Frühstück fort. Was meint er mit Ponza? Was hat der Fremde zu verbergen? Was hat er erlebt, dass er so ängstlich ist? Warum verfolgt ihn die Polizei und welche Polizei ist es, wird er international gesucht, oder meint er nur die berüchtigte Europolice. Von der hört man manchmal schlimme Geschichten, die sind nicht als besonders feinfühlig bekannt.

Er schreckt aus seinen Gedanken auf, als Lisa und Toni in die Gaststube eintreten. Sie holen sich ihre Tasse und setzen sich zu Pascal.

«Wie geht es ihm?», fragt Lisa, «der hat ja furchtbar geschrien.»

«Er hat jetzt hohes Fieber, ich musste ihm eine starke Tablette geben, nun schläft er wieder, aber er hat 39 Grad Fieber.»

«Das ist normal, es ist für ihn besser, wenn er noch schlafen kann», beruhigt Lisa.

«Hat er etwas zu seiner Person gesagt?», will Toni wissen.

«Er hat panische Angst vor der Polizei. Ich habe ihn nur schlecht verstanden. Mit Touristen kann ich mich normalerweise auf Englisch verständigen, aber diesen Akzent verstehe ich sehr schlecht. Ich vermute er ist Holländer. Er scheint auch noch nicht ganz klar denken zu können. Weisst du was Ponza bedeutet?»

«Ponza, das ist doch eine Insel vor Rom im Mittelmeer, wieso?»

«Weiss nicht, er scheint Angst vor Ponza zu haben.»

«So weit ich mich erinnern kann, war es früher eine Gefangeneninsel, aber das ist sehr lange her.»

«Ich rufe jetzt Livia an, ich muss einfach einen Arzt um Rat fragen», erklärt Lisa und nimmt ihr Handy zur Hand.

«Warte, er hat Angst vor der Polizei und vermutlich will er auch keinen Arzt», setzt sich Pascal für den Holländer ein und nimmt sein eigenes Handy hervor.

«Aber Livia wird doch nichts verraten, die hält dicht, ausserdem ist sie von Gesetzes wegen verpflichtet.»

«Der arme Kerl stirbt noch vor Angst, ich bin auch besorgt. Wenn er stirbt und wir nicht einmal einen Arzt gerufen haben, dann müssen wir uns ein Gewissen machen», Pascal wählt die Nummer.

Nach einem vorsichtigen Abtasten, ob sie allein ist und sicher niemand mithört, beginnt er vorsichtig, Livia vom aufgefundenen Fremden zu berichten. Er schildert wie er den halb Erfrorenen aufgefunden hat. Was sie bis jetzt gemacht haben und dann informiert er, dass er zurzeit 39 Grad Fieber hat.»

«Wie sieht es mit Händen und Füssen aus?»

«Die sind leicht gerötet», stellt Pascal, nachdem er die Verbände entfernt hatte, fest.

«Bist du sicher, dass es keine blauen, oder gar schwarze Stellen gibt?»

Nach einer genaueren Untersuchung kann er der Ärztin bestätigen, es gibt keine blauen Stellen.

«Aber ich glaube sein Fieber ist noch weiter angestiegen, ich mache mir echt Sorgen!», meldet Pascal.

Jetzt erklärt ihm Livia wie er den Fremden verarzten muss. Er muss ihm sogar eine Spritze geben. Die Hände, Nase, Ohren und Füsse muss er mit einer speziellen Salbe aus der Notapotheke einreiben und danach wieder gut verbinden. Livia wird, sobald das Wetter bessert, vorbeikommen, aber das kann noch Tage dauern. Inzwischen wird sie versuchen Informationen über den Fremden einzuholen. Dabei muss sie möglichst diskret vorgehen, das hat ihr Pascal eingeschärft und er weiss, auf Livia kann er sich verlassen.

Mit Livia ist er in Andeer zur Schule gegangen. Er hat sich immer gut mit ihr verstanden, als sie zum Arztstudium längere Zeit weg war, hatte er den Kontakt zu ihr verloren. Jetzt ist sie nach Andeer zurückgekommen und arbeitet als Landärztin. Obwohl sie mit ihren 29 Jahren noch jung ist, haben sie die Leute sehr gerne, sie versteht die Leute in dieser Gebirgsgegend, sie ist eine von ihnen.

Am Splügenpass schneit es den ganzen Tag. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich im Haus aufzuhalten. Bis Weihnachten gibt es noch viel zu tun, wenn die ersten Touristen hier übernachten, soll jedes Zimmer frisch tapezieret sein. In einigen Zimmern müssen neue Teppiche verlegt werden und die grosse Vorratskammer muss neu eingerichtet werden. Die tiefgefrorenen Lebensmittel müssen nach Datum sortiert werden, einiges muss in den nächsten Tagen gegessen weder. Den Gästen darf man nicht alte Speisen servieren. So sind alle voll beschäftigt. Klara wird freigestellt, um den Fremden im Auge zu behalten und sofort zu reagieren, wenn er aufwacht.

Als er gegen Mittag das erste Mal aufwacht, wird ihm eine salz- und fetthaltige Suppe eingelöffelt. Er ist sehr schwach und das meiste der Suppe läuft über seinen Mundwinkel in ein, um seinen Hals gebundenes Tuch. Alle Versuche mit ihm ein Gespräch zu führen scheitern. Er wirkt abwesend, aber eines ist deutlich zu spüren, die panische Angst die gestern noch in seinen Augen lag, ist verschwunden. Er ist ruhig geworden. Geduldig wartet er darauf, dass es ihm besser geht. Die einzigen Worte die er gequält über seine Lippen bringt sind ein kaum verständliches, «Danke».

 

Auf Fragen reagiert er nicht, offensichtlich versteht er kein Deutsch, dies ist für einen Holländer eher ungewöhnlich. Lisa versucht es auf Englisch und Pascal versucht es mit französisch, es ist einfach nichts zu machen, er versteht die Fragen nicht, oder will er sie nicht beantworten? Was hat er für Gründe, er hat jetzt keine Angst mehr, trotzdem will er sein Geheimnis behalten.

Nach dem Essen verabreicht man ihm noch einmal eine Spritze, dann schläft er wieder ein. Pascal macht sich an die Arbeit, zusammen mit Toni klebt er Tapeten an die Wände eines Zimmers. Er ist nicht bei der Sache, immer wieder muss ihn Toni darauf aufmerksam machen, er solle doch die Tapete gerade halten. Was hat den Fremden bewogen in die Altschweiz zu flüchten? Was meint er Ponza? Warum hat er eine solche Angst? Im restlichen Europa geht es den Leuten recht gut, da müsste eigentlich keiner flüchten. Diesen Eindruck hat man zumindest, wenn man die Nachrichten im Netz und im Fernsehen glauben darf.

Nach dem Anruf von Pascal läuft Livia gedankenverloren im Zimmer auf und ab. Wie lange ist es eigentlich her, dass sie Pascal das letzte Mal gesehen hat? Wenn sie sich richtig erinnert, war das beim letzten Dorffest von Andeer. Sie rechnet nach, das müssen also mehr als drei Jahre sein, eine lange Zeit. Augenblicklich steigen die Erinnerungen an die Schulzeit in ihr hoch.

Damals war sie in Pascal verliebt. Noch heute weiss sie nicht, ob er es je bemerkt hatte. Sie war noch sehr schüchtern und hätte sich nie getraut, ihn mit einer Geste zu ermuntern. Ihm ging es vermutlich genauso. Sie ist gespannt auf das Wiedersehen. Sie weiss nicht einmal ob er inzwischen verheiratet ist. Jedenfalls muss sie es einrichten, dass sie ihn besuchen kann, eine so günstige Gelegenheit wird sich nicht so bald ergeben.

Um sich von ihren Jugendschwärmereien abzulenken sucht sie im Handy nach Informationen. Sie will versuchen, ob im Amiweb, dem amerikanischen Kommunikationsnetz, etwas über den Fremden vom Splügenpass erfahren kann. Seit die Europäer ein eigenes Computernetz, das Euronetz installiert haben, ist es schwieriger von der Altschweiz aus, an Informationen aus der Eurozone zu gelangen. Doch auch im veralteten Amiweb, findet man Informationen, es ist nur etwas schwerfälliger.

Sie muss wissen, woher und weshalb er in die Altschweiz gekommen ist. Aber wo soll sie anfangen? Die Angaben von Pascal sind nicht sehr informativ. Als Erstes will sie das Stichwort Ponza genauer untersuchen. Auf dem Display erscheint eine Liste von Angeboten. Sie wählt das Gebiet Geschichte.

Ponza, kleine Insel zwischen Rom und Neapel im Tyrrhenischen Meer gelegen.

Zur Zeit des Faschismus wurden Gegner des Faschismus auf die Insel deportiert, wo sie unter schwierigen Verhältnissen wohnten. Danach wurde die Insel zu einem Nationalpark erklärt. Die wenigen verbliebenen Einheimischen leben vom Fischfang und später vom Tourismus. Sonst ist nicht viel zu erfahren. Anfangs des 21. Jahrhunderts wurde die Bevölkerung auf das Festland gebracht. Die Natur soll sich selber überlassen werden. Seit der Umsiedlung gibt es keine neuen Eintragungen zur Insel. Was ist auf Ponza los? Livia weiss jetzt nicht mehr als vorher, über die Insel gibt es so gut wie keine Informationen. Auch die Satellitenaufnahmen zeigen kein scharfes Bild, die Insel wird immer durch Wolken verdeckt.

«Der Fremde ist aufgewacht», flüstert Lisa und winkt Pascal, er solle auch ans Bett kommen, zu zweit versteht man ihn vielleicht besser.

Als Pascal ins Zimmer tritt, flösst ihm Klara erneut warmen Tee ein. Der Fremde sitzt aufrecht im Bett, offensichtlich geht es ihm bedeutend besser. Nachdem er den Teebecher geleert hat, verschwindet Klara in der Küche, «ich mach ihm jetzt eine warme Suppe, die wird ihn wieder zu Kräften kommen lassen.»

«Hallo, wer sind Sie?», fragt Pascal.

«Keine Polizei!», stammelt der Fremde wieder verzweifelt.

«Nix Polizei», erklärt Pascal, «aber wer sind Sie und woher kommen Sie? Sind Sie Holländer? - Dutch?»

Jetzt nickt er, bereut dies jedoch sofort, als ob er ein grosses Geheimnis preisgegeben hätte. Wie ein verängstigtes Tier in einer Falle schaut er sich um. Pascal versucht ihn zu beschwichtigen, aber er will weder seinen Namen nennen, noch macht er sonst irgendwelche Andeutungen.

«Sollen wir jemand verständigen, dass sie hier sind?», fragt Lisa und versucht einen holländischen Akzent in ihr deutsch zu legen. Darauf reagiert er, mit der Hand gibt er ein Zeichen, er will einen Zettel mit einem Schreibstift. Sofort eilt Pascal in die Gaststube und kommt mit einem Notizblock zurück den er sofort dem Fremden hinstreckt. Jetzt schreibt der Fremde etwas auf den Zettel und gibt ihn Pascal zurück.

Gespannt schaut Pascal auf den Zettel, es sind keine Buchstaben, es ist eine Skizze. Durch Handzeichen gibt er zu verstehen, dass man nicht anrufen darf, jemand müsste persönlich dort erscheinen und bei diesem Haus klingeln. Das Ganze scheint dem Fremden sehr wichtig zu sein, aber er weiss auch, dass es gefährlich ist. Die Verzweiflung spricht ihm aus den Augen, jemand muss die Leute in diesem Haus informieren, dass er hier ist und gleichsam darf es niemand erfahren. Eine verworrene Sache, wie soll die Meldung dort hin?

Klara bringt jetzt die Suppe, der Fremde muss unbedingt etwas essen. Die Verständigung mit Zeichensprache geht schon recht gut. Er bleibt jedoch knauserig, was Informationen betrifft. Pascal wird sich die Sache noch einmal überlegen, zurzeit sind sie immer noch eingeschneit und er kann sowieso nichts unternehmen. Als Erstes beunruhigt ihn, dass der Fremde hohes Fieber hat. Er ruft Livia an und fragt sie, mit welchen Medikamenten er den Kranken am Besten helfen kann. Nachdem er ihr Puls, Temperatur und einige weiteren Angaben durchgegeben hat, empfiehlt sie, ihm noch einmal eine Spritze zu geben und ihn warm einzupacken. Die Verbände werden gewechselt und neu mit der Salbe eingerieben. Nach der Spritze schläft der Fremde wieder ein.

Vorsichtig verlässt Pascal das Zimmer, Klara wird die nächste Wache übernehmen. Pascal ruft noch einmal Livia an. Er erklärt ihr den eigenartigen Wunsch des Fremden. Er fotografiert die Skizze mit dem Handy und schickt sie Livia. Doch wie soll man das Haus finden, er hat keine Namen aufgeschrieben, lediglich einige markanten Häuser sind darauf zu erkennen. Das markante Gebäude scheint eine Radrennbahn, oder so etwas Ähnliches zu sein.

«Wir werden das Rätsel lösen», erklärt Livia überzeugt. Im Amiweb findet man einiges, «nur über Ponza ist nichts herauszufinden», berichtigt sie sofort.

«Irgendetwas geht dort vor, da bin ich mir sicher. Ich habe nur keine Ahnung was. Aber es könnte gefährlich sein, seine Nase in diese Angelegenheit zu stecken.»

«Das vermute ich auch, aber wir sind schon mitten drin, wir können uns nicht mehr raushalten.»

«Sobald das Wetter besser ist, besuche ich euch auf dem Splügen, bis dann schaust du mir, dass der Fremden am Leben bleibt, ich muss ihn mir genau ansehen. Leider wird das noch zwei Tage dauern, bis dann suche ich nach weiteren Hinweisen über Ponza und diese Radrennbahn. Bis bald Pascal, - ich freue mich, dich wieder einmal zu sehen.»

Die nächsten Stunden durchsucht sie das Amiweb nach Städten mit gedeckten Radrennbahnen. Sie ist enttäuscht, die einzige Radrennbahn in Holland wurde vor zwanzig Jahren abgerissen. Die anderen Städte, haben keine Radrennbahn, nach was sollen sie suchen? Er ist Holländer und hat wenig Fremdsprachkenntnisse, das heisst, er ist nicht viel gereist, eigenartig für einen Holländer, aber auch das gibt es. Inzwischen wendet sie sich wieder Ponza zu, sie kann einfach nicht glauben, dass es da nicht irgendeine Quelle gibt, welche mehr hergibt und einen Hinweis liefert, was dort abläuft.

Nachdem sie stundenlang in Archiven gesucht hat gibt sie erschöpft auf. Sie braucht dringend Schlaf. Bevor sie das Handy beiseite legt, studiert sie noch den aktuellen Wetterbericht. Morgen lässt der Schneefall nach. Sie wird die Praxis einen Tag schliessen und versuchen, mit Ski auf die Passhöhe zu gelangen. Der Franz vom Lift wird sie sicher hochfahren, von der Bergstation aus müsste es zu schaffen sein, das Hospiz zu erreichen.