50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
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Auf der Straße fühlte er ein Unbehagen. Die Stadt schien ihm verändert; sie nahm ein seltsames Aussehen an; Schatten huschten rasch die Bürgersteige entlang; es ward leer und still, und mit der Nacht schien eine graue, schleichende, beharrliche Furcht – gleich einem Sprühregen – sich auf die Mauern der Häuser niederzusenken. Die geschwätzige Vertrauensseligkeit des Tages endete fatalerweise in dieser unerklärlichen Panik, in diesem Entsetzen der hereinbrechenden Nacht. Die Bewohner waren müde, gesättigt von ihrem Triumphe in einem Maße, daß ihnen nur noch Kraft genug blieb, von der furchtbaren Vergeltung der Aufständischen zu träumen. Rougon fröstelte inmitten dieser Strömung des Entsetzens; er beschleunigte seine Schritte, es schnürte ihm die Kehle zusammen. Bei einem Kaffeehause auf dem Recolletsplatze vorbeikommend, wo die Lampen angezündet wurden und die kleinen Rentiers der Neustadt zusammenkamen, hörte er einen Teil eines sehr erschreckenden Gespräches.

Sie wissen wohl schon die neueste Nachricht, Herr Picou? sprach eine breite Stimme; das erwartete Regiment ist nicht eingetroffen.

Aber man erwartet kein Regiment, Herr Toucher, antwortete eine dünne Stimme.

Doch, doch; haben Sie denn den Aufruf nicht gelesen?

Die Maueranschläge versprechen allerdings, daß die Ordnung, wenn nötig, durch die Macht aufrecht erhalten wird.

Sie sehen wohl: durch die Macht; darunter versteht sich die bewaffnete Macht.

Und was spricht man?

Mein Gott, man hat Furcht, daß diese Verspätung der Soldaten nicht natürlich sein soll; sie sind vielleicht von den Aufständischen in die Pfanne gehauen.

Nur ein Schrei des Entsetzens wurde laut in dem Kaffeehause. Rougon hatte Lust, einzutreten und diesen Spießbürgern zu sagen, daß der Aufruf niemals das Eintreffen eines Regiments angekündigt habe, daß man den Worten keine solche Gewalt antun, noch auch solches Geschwätz verbreiten dürfe. Allein in der Verwirrung, die sich seiner bemächtigte, war er selbst nicht sicher, ob er nicht auf eine Truppensendung gerechnet habe, und er fand es schließlich in der Tat erstaunlich, daß kein einziger Soldat erschienen war. In sehr unruhiger Stimmung ging er heim. Felicité, die sehr aufgeräumt und guten Mutes war, erboste sich, als sie ihn wegen solcher Kindereien ganz verstört sah. Beim Nachtisch sprach sie ihm Mut zu.

Tölpel! sagte sie, wenn der Präfekt uns vergißt, um so besser. Wir werden auch allein die Stadt retten. Ich möchte, daß die Aufständischen zurückkommen; wir empfangen sie mit Flintenschüssen und bedecken uns mit Ruhm… Du läßt die Stadttore schließen und gehst nicht zu Bett; du machst dir die ganze Nacht viel Bewegung; das wird dir später zum Verdienst angerechnet.

Peter kehrte ziemlich ermutigt nach dem Bürgermeisteramte zurück. Er brauchte Mut, um stark zu bleiben inmitten des Jammers seiner Genossen. Die Mitglieder der einstweiligen Vertretung brachten in ihren Kleidern die Angst mit, wie man bei einem Gewitter den Regengeruch mit sich trägt. Alle behaupteten, auf die Sendung eines Regiments gerechnet zu haben, und riefen, man dürfe die wackeren Bürger nicht dermaßen der Wut der Demagogie ausliefern. Um Ruhe zu haben, versprach ihnen Peter fast das Regiment für den nächsten Tag. Dann erklärte er in feierlichem Tone, daß er die Stadttore schließen lassen werde. Dies brachte allen Erleichterung. Nationalgarden mußten sich sogleich zu allen Toren begeben, um sie doppelt und dreifach schließen zu lassen. Als die Nationalgarden zurückgekehrt waren, gestanden mehrere Mitglieder der einstweiligen Vertretung, daß sie jetzt wirklich ruhiger seien; und als Peter ihnen sagte, die kritische Lage der Stadt bürde ihnen die Pflicht auf, auf ihrem Posten zu verbleiben, trafen einige ihre Vorkehrungen, um die Nacht in einem Lehnsessel zuzubringen. Granoux setzte eine Mütze von schwarzer Seide auf, die er aus Vorsicht von Hause mitgebracht hatte. Gegen elf Uhr schlief die Hälfte der Herren rings um das Schreibpult des Herrn Garçonnet. Die sich wach erhielten, lauschten den gleichmäßigen Schritten der im Hofe Wache haltenden Nationalgarden und träumten dabei, daß sie Helden seien und Auszeichnungen erhielten. Eine Lampe, die auf dem Schreibpulte stand, beleuchtete diese seltsame bewaffnete Nachtwache. Rougon, der zu schlummern schien, erhob sich plötzlich und sandte nach Vuillet. Er hatte sich erinnert, daß er die Zeitung nicht erhalten habe.

Der Buchhändler erschien in sehr mürrischer Laune. Rougon nahm ihn beiseite.

Was ist's mit dem Artikel, den Sie mir versprochen haben? fragte er. Ich habe das Blatt nicht gesehen.

Deshalb stören Sie mich? erwiderte Vuillet zornig. Die Zeitung ist nicht erschienen; ich habe keine Lust, mich morgen, wenn die Aufständischen zurückkommen, abschlachten zu lassen.

Rougon versuchte zu lächeln und sagte: Man schlachtet, Gott sei Dank, niemanden ab. Eben deshalb, weil falsche und beunruhigende Gerüchte im Umlauf sind, würde der fragliche Artikel der guten Sache einen großen Dienst erwiesen haben.

Möglich, sagte Vuillet; aber die beste Sache ist in diesem Augenblicke, seinen Kopf auf den Schultern zu behalten.

Mit schneidiger Bosheit fuhr er fort:

Ich glaubte, sie hätten alle Aufständischen getötet; aber Sie haben zu viele übriggelassen, als daß ich meine Haut wagen sollte.

Als Rougon wieder allein geblieben, war er erstaunt über die Auflehnung dieses sonst so platten und unterwürfigen Mannes. Die Haltung Vuillets schien ihm verdächtig; aber er hatte keine Zeit, eine Erklärung zu suchen. Kaum hatte er sich in seinem Lehnsessel wieder ausgestreckt, als Roudier eintrat, wobei ein großer Säbel, mit welchem er sich umgürtet hatte, geräuschvoll an seine Schenkel schlug. Die Schläfer fuhren entsetzt auf; Granoux glaubte, man rufe zu den Waffen.

Wie, was gibt's? fragte er, indem er hastig das schwarze Käppchen in die Tasche steckte.

Meine Herren, sagte Roudier atemlos, alle rednerischen Formen außer acht lassend, ich glaube, daß eine Bande Aufrührer sich der Stadt nähert.

Diese Worte wurden mit schreckensvollem Stillschweigen aufgenommen. Rougon allein fand die Kraft, zu fragen:

Haben Sie sie gesehen?

Nein, erwiderte der ehemalige Schlafmützenfabrikant, aber wir hören seltsame Gerüchte aus der Gegend. Einer meiner Leute hat mir versichert, daß er am Abhänge des Garriguesgebirges Lauffeuer gesehen habe.

Während die Herren einander bleich und stumm ansahen, fügte er hinzu:

Ich kehre auf meinen Posten zurück, denn ich fürchte einen Angriff. Seid eurerseits auf der Hut!

Rougon wollte ihm nacheilen, um noch mehr von ihm zu erfahren, allein jener war schon fern. Der einstweiligen Vertretung war nunmehr die Schlaflust völlig vergangen. Seltsame Gerüchte! Lauffeuer! Ein Angriff! Und all das mitten in der Nacht! Auf der Hut sein, das war leicht zu sagen; aber was sollte man anfangen. Granoux war nahe daran, dasselbe Verfahren zu empfehlen, das gestern so wohl gelungen war: sich zu verbergen, und abzuwarten, bis die Aufständischen die Stadt durchzogen hatten und hernach in den verlassenen Straßen zu triumphieren. Glücklicherweise erinnerte sich Peter der Ratschläge seiner Frau und sagte, Roudier könne sich geirrt haben, und es sei das beste zu sehen, was es gebe. Einige Vertreter verzogen das Gesicht bei diesem Vorschlage; aber als vereinbart war, daß eine bewaffnete Schar den Vertretern das Geleit geben solle, gingen alle sehr mutig hinunter. Sie ließen bloß einige Mann im Hofe zurück und umgaben sich mit etwa dreißig Mann Nationalgarde; so wagten sie sich durch die schlafende Stadt. Das Mondlicht floß über die Hausdächer und warf ihre Schatten auf die Straßen. Vergebens gingen sie die Stadtwälle entlang von Tor zu Tor; sie sahen nichts und hörten nichts hinter ihrer Stadtmauer, die sie von der Welt abschloß. Die Nationalgarden der verschiedenen Posten sagten ihnen zwar, daß aus der Landschaft seltsame Winde über die geschlossenen Tore hinweg herüberwehen; aber wie sie die Ohren auch spitzen mochten, sie hörten nichts als ein fernes Geräusch, in dem Granoux das Plätschern der Viorne zu erkennen vorgab.

Indes blieben sie unruhig; sie schickten sich an, nach dem Bürgermeisteramte zurückzukehren – beklommenen Herzens, wenngleich sie zum Schein mit den Achseln zuckten und Roudier als Hasenfuß und Gespensterseher bezeichneten – als Rougon, der bemüht war, seine Freunde vollständig zu beruhigen, auf den Einfall kam, ihnen den Anblick der Ebene, auf eine Entfernung von mehreren Meilen zu zeigen. Er führte die kleine Gruppe nach dem Sankt Markusviertel und pochte an das Tor des Palastes des Grafen Valqueyras.

Der Graf war bei den ersten Unruhen nach seinem Schlosse Corbière abgereist. Im Palaste war nur der Marquis von Carnavant anwesend. Seit dem gestrigen Tage hatte er sich vorsichtigerweise verborgen gehalten, nicht aus Furcht, sondern weil es ihm widerstrebte, in der entscheidenden Stunde in die Machenschaften der Rougon verwickelt zu erscheinen. Im Grunde verzehrte ihn die Neugierde; er hatte sich einschließen müssen, um nicht hinzulaufen und sich das seltsame Schauspiel der Ränke des gelben Salons zu gönnen. Als ein Kammerdiener ihm mitten in der Nacht meldete, daß unten Herren seien, die ihn zu sprechen wünschten, ließ er alle Vorsicht fahren, erhob sich und eilte hinab.

Mein teurer Marquis, sagte Peter, ihm die Mitglieder der Stadtvertretung vorstellend, wir kommen, Sie um einen Dienst zu bitten. Könnten Sie uns in den Garten des Hauses führen lassen?

Gewiß, erwiderte der Marquis erstaunt; ich selbst will Sie dahin führen.

Unterwegs ließ er sich die Sache erzählen. Der Garten endete in einer Terrasse, welche die Ebene beherrschte; an dieser Stelle war ein breites Stück der Ringmauer eingestürzt, so daß man einen unbegrenzten Ausblick hatte. Rougon hatte begriffen, daß dies ein vorzüglicher Beobachtungsposten sei. Die Nationalgarden waren vor dem Haustore zurückgeblieben. Die Mitglieder der Stadtvertretung hatten, während sie ihre Gedanken austauschten, sich an die Brüstung der Terrasse gelehnt. Das seltsame Schauspiel, das sich da vor ihnen entrollte, machte sie sprachlos. In der Ferne, im Tale der Viorne, in dem ungeheuren Kessel, der gegen Westen zwischen der Garrigueshügelkette und den Bergen der Seille lag, ergoß sich der Mondschein wie ein breiter Strom breiten Lichtes. Die Baumgruppen und die dunkeln Felsen bildeten stellenweise Inseln, Landzungen in diesem Lichtmeere. Je nach den Krümmungen der Viorne sah man einzelne Stücke des Flusses, die mit dem blanken Widerschein der Harnische in dem silberhellen Lichtstaube auftauchten, der vom Himmel niederfloß. Es war ein Ozean, eine Welt, durch die Nacht, die Kälte, die schleichende Furcht ins Unendliche ausgedehnt. Anfänglich sahen und hörten die Herren nichts. Es erschien am Firmament ein Zittern von Licht und von fernen Stimmen, das sie betäubte und blendete. Granoux, ein wenig poetischer Natur, murmelte, von dem stillen Frieden dieser Winternacht ergriffen:

 

Welch schöne Nacht, meine Herren!

Ganz entschieden: Roudier hat geträumt! rief Rougon geringschätzig.

Doch der Marquis spitzte seine feinen Ohren.

Ei! Ich höre Sturm läuten, sagte er mit seiner klaren Stimme.

Alle beugten sich über die Brüstung und lauschten mit angehaltenem Atem. Leicht, mit der Reinheit des Kristalls stiegen die fernen Schläge einer Glocke aus der Ebene auf. Die Herren konnten es nicht leugnen: es war Sturmgeläute. Rougon behauptete, er erkenne den Klang der Glocke von Béage, einem Dorfe in einer Entfernung von einer Meile bei Plassans. Er sagte dies, um seine Gefährten zu beruhigen.

Horch! Horch! unterbrach ihn der Marquis; jetzt ist's die Glocke von Saint-Maur.

Er zeigte nach einem anderen Punkte des Horizontes. In der Tat wimmerte jetzt eine zweite Glocke in die helle Nacht hinaus. Dann wurden es bald zehn Glocken, zwanzig Glocken, deren verzweifeltes Gebimmel an ihre Ohren schlug, die sich mit dem weithin ziehenden Beben des Schattens vertraut gemacht hatten. Düstere Rufe stiegen von allen Seiten auf, geschwächt wie das Stöhnen von Sterbenden. Bald schluchzte die ganze Ebene. Die Herren scherzten nicht mehr über Roudier. Der Marquis, der seine boshafte Freude daran fand, sie zu erschrecken, wollte ihnen die Ursache dieses Geläutes erklären:

Es sind die Nachbardörfer, sagte er, die sich vereinigen, um bei Tagesanbruch Plassans anzugreifen.

Granoux riß die Augen auf.

Habt Ihr dort unten nichts bemerkt? fragte er plötzlich. Niemand hatte hingeschaut; die Herren hatten die Augen geschlossen, um besser hören zu können.

Dort, dort! rief er nach einer Weile wieder; jenseits der Viorne, neben jener schwarzen Masse!…

Ja, ich sehe, erwiderte Rougon verzweifelt, ein Feuer wird angezündet.

Fast unmittelbar darauf ward ein zweites Feuer dem ersten gegenüber angezündet; dann ein drittes und ein viertes. Rote Flecken tauchten in der ganzen Länge des Tales auf, in fast gleichen Zwischenräumen, den Laternen einer riesigen Straße gleichend. Im Mondlichte, das ihren Schein milderte, breiteten sie sich wie Blutlachen aus. Diese düstere Beleuchtung vollendete die Bestürzung der Gemeindevertretung.

Bei Gott, die Räuber geben einander Zeichen, brummte der Marquis mit seinem schneidendsten Hohnlächeln.

Und er zählte wohlgefällig die Feuer, um zu erfahren – wie er sagte – mit wie viel Leuten ungefähr »die wackere Nationalgarde von Plassans es zu tun bekommen werde«. Rougon wollte Zweifel erheben und sagte, daß die Dörfer zu den Waffen griffen, um zu den Aufständischen zu stoßen, und nicht um die Stadt anzugreifen. Allein die Herren zeigten durch ihr bestürztes Stillschweigen, daß ihre Meinung feststehe und daß sie jeden Trost zurückwiesen.

Jetzt höre ich die Marseillaise, sagte Granoux mit erlöschender Stimme.

Es war richtig. Der Gesang kam von einer Rotte, die den Fluß entlang marschierte und in diesem Augenblicke unterhalb der Stadt über die Brücke ging. Der Schrei: »Aux armes, citoyens! Formez vos bataillons!« drang mit schneidiger Klarheit herüber. Es war eine schreckliche Nacht. Die Herren verbrachten sie an der Brüstung der Terrasse gelehnt, schier erstarrt durch die bitterböse Kälte, unfähig, sich dem Anblick dieser Ebene zu entziehen, die das Sturmgeläute und die Marseillaise erzittern machten, und die vom lodernden Schein der Signalfeuer erhellt war. Sie konnten sich nicht sattsehen an diesem Meer von Licht, in dem da und dort blutigrote Flammen aufloderten; sie ließen den unbestimmten Lärm in ihren Ohren gellen, daß ihre Sinne sich verwirrten und sie schauerliche Dinge sahen und hörten. Um nichts in der Welt würden sie den Platz verlassen haben; den Rücken wendend, würden sie sich von einer Armee verfolgt geglaubt haben. Wie gewisse Feiglinge wollten sie die Gefahr sehen, um im richtigen Augenblicke die Flucht ergreifen zu können. Als gegen Tagesanbruch der Mond untergegangen war und sie nichts mehr vor sich sahen, als einen schwarzen Abgrund, wurden sie denn auch von furchtbarer Angst ergriffen. Sie sahen sich von unsichtbaren Feinden umgeben, die im Schatten dahinschlichen, bereit, ihnen an die Kehle zu springen. Bei dem geringsten Geräusche wähnten sie, es seien Männer am Fuße der Terrasse, die sich beratschlagten, ehe sie heraufklettern. Aber es war nichts, nichts als die tiefe Finsternis, in welche sie die verzweifelten Blicke bohrten. Wie um sie zu trösten, sagte ihnen der Marquis mit spöttischer Stimme:

Ängstigen Sie sich nicht; die Meuterer werden den Tagesanbruch erwarten.

Rougon war in übler Stimmung; er fühlte, wie die Furcht sich seiner wieder bemächtigte. Granoux' Haare bleichten vollends. Endlich brach der Tag mit verzweifelter Langsamkeit an. Es war wieder ein böser Augenblick. Die Herren waren darauf gefaßt, beim ersten Morgenstrahl eine in Schlachtordnung aufgestellte Armee vor der Stadt zu erblicken. Gerade an diesem Tage wollte der Morgen nicht kommen und zögerte eine Ewigkeit am Saume des Horizontes. Mit ausgestrecktem Halse und gespannten Blickes beobachteten sie die verschwommene Helle; und sie glaubten im Schatten ungeheuerliche Gestalten zu erblicken, die Ebene verwandelte sich in einen See von Blut, die Felsen in Leichname, die an der Oberfläche schwammen, die Baumgruppen in Bataillone, die noch drohend aufrecht standen. Dann, als die wachsende Helle endlich diese Gespenster verscheucht hatte, brach der Tag an, so bleich und trübselig, daß der Marquis selbst sein Herz beklommen fühlte. Man sah keine Aufständischen, die Straßen waren frei; aber das völlig graue Tal bot den trostlos öden Anblick eines Hohlweges. Die Feuer waren erloschen, die Glocken klangen noch immer. Gegen acht Uhr bemerkte Rougon eine einzige Bande von mehreren Männern, die sich längs der Viorne entfernten.

Die Herren war halb tot vor Kälte und Mattigkeit. Da sie keine unmittelbare Gefahr sahen, beschlossen sie, sich einige Stunden Ruhe zu gönnen. Ein Nationalgardist wurde auf der Terrasse als Schildwache zurückgelassen mit der Weisung, sogleich Roudier zu verständigen, wenn er in der Ferne irgendeine Bande wahrnehme. Von den Aufregungen dieser Nacht gebrochen, begaben sich Granoux und Rougon, einander unterstützend, nach ihren Behausungen, die nebeneinander lagen.

Felicité brachte ihren Mann mit großer Sorgfalt zu Bette; sie nannte ihn ihr »armes Kätzchen« und wiederholte ihm, er solle sich doch nicht so schwere Sorgen machen; es werde sicherlich alles gut ablaufen. Allein, Peter schüttelte den Kopf; er hege ernste Befürchtungen, versicherte er. Sie ließ ihn bis elf Uhr schlafen. Nachdem er gegessen hatte, schob sie ihn sachte hinaus und gab ihm zu verstehen, er müsse bis ans Ende gehen. Auf dem Bürgermeisteramte traf Rougon nur vier Mitglieder von der Stadtvertretung an; die anderen ließen sich entschuldigen, sie seien ernstlich krank. Seit dem Morgen fuhr ein noch heftigerer Zug des Schreckens über die Stadt dahin. Die Herren hatten die Erzählung von der denkwürdigen Nacht, die sie auf der Terrasse des Hotel Valqueyras verbacht, nicht bei sich behalten können. Ihre Mägde hatten sich beeilt, diese Nachricht, mit allerlei dramatischen Einzelheiten aufgeputzt, in der Stadt zu verbreiten. Jetzt war es schon eine der Weltgeschichte angehörende Tatsache, daß man von den Höhen von Plassans in der Ebene den Tanz von Kannibalen, die ihre Gefangenen verzehrten, gesehen habe und den Reigen von Hexen, die ihre Kessel umkreisten, in denen Säuglinge sotten, endlose Reihen von Banditen, deren Waffen im Mondlichte glänzten. Und man sprach von den Glocken, die von selbst in die trübe Luft hinaus Sturm läuteten und man behauptete, die Aufständischen hätten die Wälder ringsumher in Brand gesetzt und die ganze Landschaft stehe in Flammen.

Es war just Dienstag, der Markttag zu Plassans. Roudier hatte geglaubt, die Stadttore weit öffnen lassen zu sollen, um die wenigen Bäuerinnen einzulassen, welche Gemüse, Butter und Eier brachten. Die Gemeindevertretung, die nunmehr bloß fünf Mitglieder zählte – den Präsidenten mit inbegriffen – erklärte dies für eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit. Obgleich die auf der Terrasse des Hotel Valqueyras zurückgelassene Schildwache nichts gesehen, solle die Stadt dennoch geschlossen bleiben. Da beschloß Rougon, der öffentliche Ausrufer solle, von einem Trommler begleitet, in den Straßen verkünden, daß die Stadt im Belagerungszustande sei; wer sie verlasse, könne nicht zurückkehren. Die Tore wurden am hellen Mittag von Amts wegen geschlossen. Diese zur Beruhigung der Bevölkerung getroffene Maßregel steigerte den Schreck bis zum Gipfelpunkte. Man konnte sich nichts Seltsameres denken, als diese Stadt, die mitten im neunzehnten Jahrhundert sich am hellen Mittag verrammelte.

Als Plassans den abgenutzten Gürtel seiner Wälle geschlossen und sich verriegelt hatte wie eine belagerte Festung bei der Annäherung eines Sturmes, strich eine tödliche Angst über die düsteren Häuser hinweg. Vom Mittelpunkte der Stadt glaubte man jede Stunde Gewehrgeknatter in den Vorstädten losbrechen zu hören. Man wußte nichts mehr; man war wie in einem Keller, wie in einem vermauerten Loche, in der beklommenen Erwartung, durch eine gnädige Fügung erlöst zu werden. Aufständische Scharen, die das Land durchzogen, hatten seit zwei Tagen jeden Verkehr unterbrochen. In der Sackgasse eingepfercht, wo sie erbaut worden, war die Stadt Plassans von dem übrigen Frankreich getrennt. Sie hatte das Gefühl, sich mitten in einem aufrührerischen Lande zu befinden; rings um sie her tönten die Sturmglocken, grollte die Marseillaise mit dem Tosen eines Stromes, der seine Ufer überschwemmt hat. Die verlassene und zitternde Stadt war wie eine den Siegern preisgegebene Beute und die Spaziergänger von der Promenade gingen vom Schrecken zur Hoffnung über, je nachdem sie vor dem großen Tore die Blusen von Aufständischen oder die Uniformen von Soldaten zu bemerken glaubten. Noch nie hatte eine Unterpräfektursstadt inmitten des Gepolters ihrer sinkenden Mauern eine schmerzlichere Todesangst zu überstehen gehabt.

Gegen zwei Uhr verbreitete sich das Gerücht, daß der Staatsstreich mißglückt sei. Der Prinzpräsident sitze im Turm von Vincennes gefangen, Paris befinde sich in der Gewalt der fortgeschrittensten Demagogie, Marseille, Toulon, Draguignan, der ganze Süden gehöre der siegreichen Aufstandsarmee. Die Aufständischen sollten abends eintreffen und ganz Plassans über die Klinge springen lassen.

Da begab sich eine Abordnung der Bürger nach dem Rathause, um der Stadtvertretung wegen der Schließung der Tore Vorstellungen zu machen; diese Maßregel, hieß es, könne nur dazu führen, die Aufständischen noch mehr gegen die Stadt zu erbittern. Rougon, der den Kopf verlor, verteidigte seine Weisung mit der äußersten Energie; diese sorgfältige Abschließung der Stadt schien ihm einer der scharfsinnigsten Akte seiner Verwaltung zu sein; er fand zu ihrer Rechtfertigung Worte der innigsten Überzeugung. Allein man brachte ihn in Verwirrung mit der Frage, wo die Soldaten seien, das Regiment, das er versprochen. Da log er; er habe nichts versprochen, sagte er rundheraus. Das Ausbleiben dieses fabelhaften Regiments, das die Einwohner dermaßen herbeisehnten, daß sie von seiner Annäherung träumten, war die große Ursache der Angst. Die gut unterrichteten Leute nannten genau den Ort, wo die Soldaten niedergemetzelt worden.

Um vier Uhr begab sich Rougon, gefolgt von Granoux, nach dem Hotel Valqueyras. Kleine Banden, die in Orchères zu den Aufständischen stießen, durchzogen in der Ferne noch immer das Viornetal. Den ganzen Tag waren Straßenjungen auf den Mauern herumgeklettert und Spießbürger herbeigekommen, um bei den Schießscharten hinauszuspähen. Diese freiwilligen Schildwachen nährten das Entsetzen der Stadt, indem sie ganz laut die Banden zählten, welche für ebenso viele starke Bataillone gehalten wurden. Dieses feige Volk glaubte von der Höhe der Stadtmauern den Vorbereitungen zu irgendeinem allgemeinen Gemetzel beizuwohnen. Des Abends strich, wie am vorhergehenden Tage, die Furcht noch kälter über die Stadt hin.

 

Nach dem Bürgermeisteramte zurückkehrend begriffen Rougon und der von ihm unzertrennliche Granoux, daß die Lage unhaltbar war. Während ihrer Abwesenheit war abermals ein Mitglied der Vertretung verschwunden. Sie waren nur mehr ihrer vier. Sie fanden sich lächerlich, wie sie so mit bleichen Gesichtern sich stundenlang gegenseitig betrachteten, ohne ein Wort zu sagen. Dann kam eine grause Furcht über sie, daß sie noch eine zweite Nacht auf der Terrasse des Hotel Valqueyras zubringen müßten.

Rougon erklärte ernst, daß, nachdem die Lage unverändert, kein Grund vorhanden sei, dauernd auf dem Posten zu bleiben. Wenn ein großes Ereignis eintreten solle, werde man sie benachrichtigen. Durch einen Beschluß, der gebührendermaßen von der Kommission gefaßt wurde, übertrug er die Sorgen der Verwaltung auf Roudier. Der arme Roudier, der sich erinnerte, unter Louis Philipp Nationalgardist zu Paris gewesen zu sein, hielt mit Überzeugung am großen Tore die Nachtwache.

Peter kehrte kleinlaut heim, im Schatten der Häuser dahinschleichend. Er fühlte um sich her die Stadt ihm feindselig werden. Er hörte seinen Namen durch die Gruppen gehen, begleitet von Worten des Grolls und der Verachtung. Wankend und mit dem Angstschweiß auf der Stirne stieg er die Treppe seiner Wohnung empor. Felicité empfing ihn still, mit verstörter Miene. Auch ihr begann der Mut zu sinken. Ihr ganzer Traum zerflatterte. Sie saßen im gelben Salon einander gegenüber. Der Tag ging zur Neige, ein trüber Wintertag, der graue Farben auf das orangegelbe Papier der mit großen Zweigen gezierten Wandtapeten warf; nie war ihnen dieses Gemach verfallender, scheußlicher, beschämender vorgekommen. Sie waren jetzt allein und hatten nicht wie gestern eine Schar von Höflingen um sich, die sie beglückwünschten. Ein Tag hatte genügt, um sie zu besiegen, in dem Augenblicke, da sie schon Triumph schrien. Wenn am folgenden Tage die Lage sich nicht änderte, war das Spiel verloren. Felicité, die gestern beim Anblicke der Trümmer des gelben Salons an die Ebenen von Austerlitz dachte, erinnerte sich jetzt, als sie ihn so trübselig und verlassen sah, der verdammten Gefilde von Waterloo.

Als ihr Gatte gar nichts sagte, begab sie sich ans Fenster, an jenes Fenster, wo sie mit Wonne den Weihrauch einer ganzen Unterpräfektur eingeatmet hatte. Sie bemerkte zahlreiche Gruppen unten auf dem Marktplatze. Sie schloß die Vorhänge, als sie sah, daß Köpfe sich nach ihrem Hause wandten, weil sie fürchtete, daß sie verhöhnt werden könne. Sie ahnte, daß man von ihnen spreche.

Stimmen stiegen in der Dämmerung empor. Ein Advokat schrie im Tone eines triumphierenden Anklägers:

Ich hatte es ja gesagt; die Aufständischen sind allein fort und wenn sie wiederkommen wollen, holen sie nicht erst die Erlaubnis der Einundvierzig ein. Die Einundvierzig, Narrenspossen! Ich glaube, es waren ihrer wenigstens zweihundert.

Nein, nein, sagte ein dicker Kaufmann, der mit Öl und hoher Politik Handel trieb, es waren ihrer vielleicht nicht zehn. Denn schließlich haben sie sich doch nicht geschlagen; man würde am Morgen doch Blut gesehen haben. Ich, der ich hier zu euch spreche, bin auf das Rathaus gegangen, um nachzusehen; der Hof war rein wie meine Hand.

Ein Arbeiter, der sich schüchtern in die Gruppe geschlichen hatte, fügte hinzu:

Es gehörte nicht viel dazu, vom Rathause Besitz zu ergreifen; das Tor war nicht einmal geschlossen.

Diese Worte wurden mit einem Gelächter aufgenommen, und als der Arbeiter sich ermutigt sah, fuhr er fort:

Man kennt ja die Rougon; es sind Taugenichtse!

Dieser Schimpf traf Felicité im Herzen. Der Undank dieses Volkes kränkte sie, denn schließlich hatte sie selbst an die Sendung der Rougon zu glauben begonnen. Sie rief ihren Gatten herbei, denn sie wollte, daß er die Unbeständigkeit der Menge kennenlerne.

Es war gerade so wie mit ihrem Spiegel, fuhr der Advokat fort. Was haben sie nicht für einen Lärm mit dem unglückseligen, zerbrochenen Spiegel geschlagen! Ihr müßt wissen: dieser Rougon ist sehr wohl fähig, einen Flintenschuß nach dem Spiegel abzufeuern, um an eine Schlacht glauben zu machen.

Peter unterdrückte einen Schmerzensschrei. Man glaubte selbst an seinen Spiegel nicht mehr. Bald geht man so weit zu behaupten, daß er keine Kugel an seinem Ohre hat vorübersausen hören! Die Legende der Rougon wird verblassen, nichts wird von ihrem Ruhme übrig bleiben. Allein er war noch nicht am Ende seiner Leiden. Die Volksgruppen waren jetzt ebenso glühend in ihrer Verbitterung wie gestern in ihrer Begeisterung. Ein ehemaliger Hutmacher, ein Greis von siebenzig Jahren, dessen Fabrik einst in der Vorstadt gewesen, forschte in der Vergangenheit der Rougon. Er sprach ganz unbestimmt, mit den Vorbehalten eines schwindenden Gedächtnisses, von dem Krautgarten der Fouque, von Adelaide, von ihren Liebschaften mit einem Schmuggler. Er sagte genug, um dem Geschwätz neue Nahrung zu bieten. Die Sprecher näherten sich jetzt und die Worte: Hundsfötter, Diebe, schamlose Ränkeschmiede drangen deutlich bis zu den Fenstervorhängen empor, hinter denen Peter und Felicité standen und vor Furcht und Zorn schwitzten. Man ging so weit, Macquart zu beklagen. Das war der letzte Schlag. Gestern war Rougon ein Brutus, eine Heldenseele, die ihre Gefühle dem Vaterlande opferte; heute war Rougon nur mehr ein von niedrigem Ehrgeiz erfüllter Mensch, der seinen armen Bruder mit Füßen trat und sich seiner als Staffel bediente, um zum Glück emporzusteigen.

Hörst du? Hörst du? sagte Peter mit erstickter Stimme. Die Bösewichte töten uns! Niemals werden wir uns davon erholen!

Felicité trommelte mit gekrümmten Fingern wütend auf den Fensterläden herum und erwiderte:

Laß sie reden! Sind wir erst die Stärkeren, dann sollen sie sehen, aus welchem Holze ich geschnitzt bin. Ich weiß, woher der Wind weht. Die Neustadt ist uns übel gesinnt.

Sie vermutete richtig. Die plötzliche Unbeliebtheit der Rougon war das Werk einer Gruppe von Advokaten, die sehr ärgerlich waren über die Bedeutung, die ein ehemaliger, ganz ungebildeter Ölhändler, der nahe am Bankerott gewesen, erlangt hatte. Das Sankt Markusviertel war seit zwei Tagen wie ausgestorben. Das alte Viertel und die Neustadt blieben allein da. Die letztere hatte die allgemeine Panik dazu benutzt, um den gelben Salon in den Augen der Kaufleute und Handwerker zugrunde zu richten. Roudier und Granoux waren ausgezeichnete Männer, ehrenhafte Bürger, die von diesen Rougon, diesen Ränkeschmieden, getäuscht wurden. Aber man wird ihnen die Augen öffnen. An Stelle dieses dickwanstigen Bettlers, der keinen Heller besaß, hätte Isidor Granoux den Sitz des Bürgermeisters einnehmen müssen. Dies nahmen die Neider zum Ausgangspunkte, um Rougon alle Handlungen seiner Verwaltung vorzuwerfen, die ja erst seit gestern datierte. Er habe den früheren Gemeinderat nicht behalten wollen; er habe einen schweren Fehler begangen, als er die Tore schließen ließ; seine Schuld sei es, daß fünf Stadträte sich auf der Terrasse des Hotel Valqueyras einen bösen Schnupfen geholt hätten. Es wollte kein Ende nehmen. Auch die Republikaner erhoben die Häupter. Man sprach von der Möglichkeit eines Handstreiches der Vorstadtarbeiter gegen das Bürgermeisteramt. Die Reaktion lag in den letzten Zügen.