50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
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Als Peter so seine Hoffnungen schwinden sah, dachte er an die wenigen Stützen, auf die er bei Gelegenheit noch zählen zu können glaubte.

Sollte nicht Aristide heute abend kommen, um seinen Frieden mit uns zu machen? fragte er.

Ja, erwiderte Felicité. Er hatte mir einen schönen Artikel versprochen. Der »Unabhängige« ist nicht erschienen…

Doch ihr Gatte unterbrach sie mit den Worten:

Ei, kommt er nicht gerade dort aus der Unterpräfektur heraus?

Die alte Frau warf nur einen Blick auf die Straße.

Er hat seine Binde wiedergenommen! rief sie.

In der Tat verbarg Aristide seine Hand wieder in seinem Seidentuche. Mit dem Kaiserreiche ging es schief, ohne daß die Republik triumphierte; und er hatte es für gut erachtet, seine Rolle als Verstümmelter wieder aufzunehmen. Er huschte über den Platz, ohne aufzublicken. Als er ohne Zweifel die gefährlichen und kompromittierenden Worte hörte, die in den Gruppen gesprochen wurden, beeilte er sich, an der Ecke der Banne-Straße zu verschwinden.

Laß, er wird nicht heraufkommen, sagte Felicité bitter… Wir sind zugrunde gerichtet… Selbst unsere Kinder verlassen uns.

Und sie schloß hastig das Fenster, um nichts mehr zu sehen und zu hören. Dann zündete sie die Lampen an, und sie aßen, aber entmutigt und ohne Hunger; es wollte nicht recht schmecken, und sie ließen die Hälfte auf dem Teller stehen. Es blieben ihnen nur wenige Stunden übrig, um einen Entschluß zu fassen. Es galt, am nächsten Morgen Plassans zu ihren Füßen und um Verzeihung flehend zu sehen, wenn sie nicht auf ihren Glückstraum verzichten wollten. Der vollständige Mangel an bestimmten Nachrichten war die einzige Ursache ihrer Angst und Unentschlossenheit. Felicité mit ihrem Scharfsinn sah dies bald ein. Hätten sie das Ergebnis des Staatsstreiches wissen können, sie hätten ihren Mut eingesetzt und trotz alledem ihre Retterrolle weitergespielt; oder sie hätten sich beeilt, nach Möglichkeit ihren unglücklichen Feldzug in Vergessenheit zu bringen. Aber sie wußten nichts Genaues: sie verloren den Kopf und der Angstschweiß trat ihnen auf die Stirne, wenn sie daran dachten, daß bei ihrer völligen Unkenntnis der Ereignisse ihr Glück auf dem Spiele stehe.

Und dieser vertrackte Eugen schreibt mir auch nicht! rief Rougon in einer verzweifelten Aufwallung, ohne zu bedenken, daß er das Geheimnis seines Briefwechsels preisgab.

Doch Felicité tat, als habe sie nichts gehört. Der Ausruf ihres Gatten hatte sie im Innersten getroffen. In der Tat: warum schrieb Eugen seinem Vater nicht? Nachdem er ihn über die Erfolge der bonapartistischen Sache so getreulich auf dem laufenden gehalten, hätte er sich jetzt beeilen müssen, ihn von dem Triumph oder der Niederlage des Prinzen Louis zu benachrichtigen. Die einfachste Vorsicht mußte ihm raten, dem Vater diese Nachricht mitzuteilen. Wenn er schwieg, so bedeutete dies, daß die siegreiche Republik ihn zu dem Thronprätendenten in die Gefängnisse von Vincennes sandte. Felicité fühlte ihr Blut erstarren; das Stillschweigen ihres Sohnes tötete ihre letzte Hoffnungen.

In diesem Augenblicke brachte man die Zeitung; das Blatt war noch ganz feucht.

Wie? rief Peter sehr überrascht; Vuillet hat sein Blatt erscheinen lassen?

Er zerriß die Adreßschleife, las den Leitartikel und beendete ihn, bleich wie sein Hemd und kraftlos in seinem Sessel zurücksinkend.

Da, lies, hauchte er, das Blatte Felicité überreichend.

Es war ein prächtiger Artikel von unerhörter Heftigkeit gegen die Aufständischen; niemals war so viel Galle, so viel Lüge, so viel heuchlerischer Unflat aus einer Feder geflossen. Vuillet begann mit einer Schilderung des Eindringens der Bande in die Stadt Plassans. Die Schilderung war meisterhaft. Man sah darin, wie »diese Banditen, diese Galgengesichter, dieser Abschaum der Galeeren die Stadt überschwemmten, berauscht von Schnaps, Ausschweifungen und Plünderung«; dann zeigte er sie, wie sie »ihre Gemeinheit in den Straßen zur Schau trugen, die Bevölkerung durch ihr wildes Geheul in Schrecken versetzten, nur auf Mord und Notzucht ausgingen«. Dann folgte das schauerliche Drama der Szene im Rathause und der Verhaftung der Behörden. »Sie packten die ehrwürdigsten Männer an der Gurgel und der Bürgermeister, der tapfere Kommandant der Nationalgarde, der Postdirektor, dieser so wohlwollende Beamte: sie wurden wie der Heiland von diesen Elenden mit Dornen gekrönt angespien.« Der Absatz, der Miette und ihren roten Mantel behandelte, war in eine ganz lyrische Stimmung getaucht. Vuillet hatte zehn, zwanzig blutrünstige Dirnen gesehen. »Wer hat nicht unter diesen Ungeheuern infame, rot gekleidete Geschöpfe bemerkt, die sich sicherlich im Blute der Märtyrer gewälzt haben, die von den Räubern und Mördern unterwegs hingeschlachtet worden sind? Sie schwangen Fahnen, sie überließen sich auf offener Straße den scheußlichen Liebkosungen der ganzen Horde.« Und Vuillet fügte mit religiösem Eifer hinzu: »Die Republik findet stets nur bei Mord und Prostitution ihr Gedeihen.« Das war nur der erste Teil des Artikels. Am Schlusse dieser Schilderung fragte der Buchhändler in einem heftigen Aufrufe, ob das Land noch länger »die Schmach dieser wilden Tiere, die weder Leben noch Eigentum schonten«, dulden wolle. Er wandte sich an alle guten Bürger und meinte, eine fernere Duldsamkeit wäre gleichbedeutend mit einer Ermutigung, und die Aufständischen würden dann »die Tochter aus den Armen der Mutter, die Gattin aus den Armen des Gatten reißen«. Zum Schlusse, nach einer frommen Redensart, in der er erklärte, daß Gott die Ausrottung der Bösen wolle, stieß er in die Posaune: »Man sagt, daß diese Elenden abermals vor unseren Toren erscheinen werden; wohlan, jeder von uns ergreife ein Gewehr, und man töte sie wie die Hunde. Mich wird man in der vordersten Reihe sehen und ich werde mich glücklich preisen, die Erde von diesem Gewürm zu befreien.«

Dieser Artikel, in dem die Schwerfälligkeit des Provinzjournalismus unflätige Umschreibungen aneinander reihte, hatte Rougon in die größte Bestürzung versetzt. Als Felicité die Zeitung auf den Tisch hinlegte, murmelte er:

Ach, der Unglückliche! Er gibt uns den Gnadenstoß; man wird glauben, ich hätte diese Diatribe ihm eingegeben.

Aber, sagte seine Frau nachdenklich, hast du mir nicht heute morgen angekündigt, daß er sich weigere, die Republikaner anzugreifen? Die Nachrichten sollten ihn erschreckt haben und du behauptest, daß er bleich wäre, wie ein Toter.

Freilich, ja; ich begreife auch nichts von der Sache. Da ich in ihn drang, ging er so weit, mir Vorwürfe zu machen, weil ich nicht alle Aufständischen getötet hatte. Gestern hätte er seinen Artikel schreiben müssen; heute wird er damit ein Gemetzel über uns bringen.

Felicité verlor sich völlig in ihrem Erstaunen. Was hat denn diesen Vuillet angefochten? Dieser verdorbene Mesner mit einer Flinte in der Hand und auf den Stadtmauern nach den Aufständischen schießend: das war die drolligste Sache, die man sich vorstellen konnte. Dahinter mußte etwas stecken, das ihr entging. Vuillet verriet da einen frischen Mut und eine Keckheit der Schmähungen, die bewiesen, daß die Aufständischen doch nicht hart vor den Toren der Stadt stehen konnten.

Das ist ein böser Mensch, ich habe es immer gesagt, fuhr Rougon fort, nachdem er den Artikel noch einmal gelesen. Er hat vielleicht nur uns einen Streich versetzen wollen. Ich war vielleicht zu gut, daß ich ihm die Postverwaltung überließ.

Dies war ein Lichtblick. Felicité erhob sich hastig wie von einem plötzlichen Gedanken erhellt; sie setzte eine Haube auf und legte einen Schal um ihre Schultern.

Wohin gehst du? fragte ihr Gatte erstaunt. Neun Uhr ist vorüber.

Du wirst dich schlafen legen, erwiderte sie einigermaßen rauh. Du bist leidend und mußt ausruhen. Schlafe, bis ich zurückkomme; wenn es nötig ist, werde ich dich wecken und dann wollen wir weiter sprechen.

Sie verließ mit eiligen Schritten das Haus und begab sich nach dem Postamte. Hier betrat sie plötzlich das Zimmer, wo Vuillet noch arbeitete. Als er ihrer ansichtig ward, machte er eine verdrießliche Gebärde.

Niemals war Vuillet glücklicher gewesen als in diesen Tagen. Seitdem er mit seinen dünnen Fingern in den Postpaketen wühlen konnte, genoß er die tiefe Wollust des neugierigen Priesters, der sich anschickt, die Geständnisse der Büßerinnen zu hören. Alle listigen Indiskretionen, alle unbestimmten Geschwätze der Sakristeien umsummten seine Ohren. Er näherte seine lange, bleiche Nase den Briefen, betrachtete mit seinen schielenden Augen begierig die Adresse und prüfte die Umschläge, wie die kleinen Abbés in den Seelen der Jungfrauen forschen. Es waren unendliche Freuden und prickelnde Versuchungen. Die tausende Geheimnisse von Plassans waren da; er betastete die Ehre der Frauen, das Vermögen der Männer; er brauchte nur die Siegel zu erbrechen, um ebensoviel davon zu erfahren, wie der Großvikar der Kathedralkirche, der Beichtvater der vornehmen Leute der Stadt. Vuillet gehörte zu jenen furchtbaren, kalten, mörderisch schneidigen Fraubasen, die alles wissen, sich alles sagen lassen und die Gerüchte nur wiedererzählen, um die Leute damit zu töten. Darum hatte er gar oft davon geträumt, den Arm bis zur Schulter in den Briefkasten zu stecken. Für ihn war das Arbeitszimmer des Postverwalters seit dem gestrigen Tage ein großer Beichtstuhl, erfüllt von Schatten und religiösem Geheimnis, wo er schwelgte, indem er die verschleierten Geflüster, die bebenden Geständnisse einsog, die den Briefschaften entströmten. Der Buchhändler betrieb übrigens dieses Geschäft mit vollendeter Schamlosigkeit. Die Krise, die das Land durchmachte, sicherte ihm Straflosigkeit. Wenn einzelne Briefe zu spät kamen, andere in Verlust gerieten, so war es die Schuld dieser republikanischen Räuber, die den Verkehr unsicher machten. Das Schließen der Stadttore hatte ihn einen Augenblick geärgert; allein er hatte sich mit Roudier dahin verständigt, daß die Post eingelassen und mit Umgehung des Bürgermeisteramtes direkt zu ihm gebracht wurde.

 

In Wahrheit hatte er nur einige Briefe entsiegelt, und zwar die guten, d. h. die, welche seine Küsterwitterung ihm als solche bezeichnete, deren Inhalt vor allen anderen Leuten zu erfahren von Nutzen sein könne. Er hatte sich dann damit begnügt, bis zu späterer Verteilung die Briefe in einem Schubfache zurückzubehalten, welche die Leute beunruhigen und ihm das Verdienst rauben könnten, Mut zu haben, während die ganze Stadt zitterte. Dieser fromme Herr hatte mit dem Eintritt in die Postverwaltung die Lage in seltsamer Weise erfaßt.

Als Madame Rougon eintrat, traf er eben seine Auswahl in einem großen Haufen von Briefen und Zeitungen, ohne Zweifel unter dem Vorwande, sie ordnen und einteilen zu wollen.

Er erhob sich mit seinem untertänigen Lächeln und schob einen Sessel näher; seine geröteten Augenlider zuckten in beängstigender Weise. Allein Felicité setzte sich nicht.

Ich will den Brief haben! sprach sie in schroffem Tone.

Vuillet riß die Augen auf und spielte den Unschuldigen.

Welchen Brief, liebe Frau? fragte er.

Den Brief, den Sie heute morgen für meinen Mann erhalten haben … Rasch, rasch, Herr Vuillet, ich habe Eile.

Und da er stammelte, daß er nichts wisse, nichts gesehen habe und daß die ganze Sache sehr verwunderlich sei, fuhr Felicité mit leiser Drohung in der Stimme fort:

Ein Brief aus Paris, von meinem Sohne Eugen; Sie wissen wohl, was ich sagen will, nicht wahr? Ich werde selbst suchen.

Und sie machte Miene, die verschiedenen Bündel zu ergreifen, die auf dem Pulte lagen. Da beeilte er sich und sagte, er wolle nachsehen; der Dienst sei jetzt notgedrungen so schlecht versehen und es sei immerhin möglich, daß ein Brief da sei. In diesem Falle werde man ihn schon finden. Er selbst schwor, keinen Brief gesehen zu haben. Indem er so sprach, machte er die Runde im Arbeitszimmer und durchstöberte alle Papiere. Dann öffnete er alle Schubfächer und Kasten. Felicité wartete ruhig.

Meiner Treu, Sie haben recht, da ist ein Brief für Sie, rief er endlich, indem er einige Papiere aus einem Kasten hervorzog. Diese vertrackten Beamten benutzen die Lage, um alles verkehrt zu machen.

Felicité nahm den Brief und prüfte aufmerksam das Siegel, völlig unbekümmert darum, daß dieser Vorgang für Vuillet verletzend sein müsse. Sie sah deutlich, daß der Umschlag geöffnet war; der Buchhändler, in diesem Geschäfte noch ungeschickt, hatte ein dunkleres Wachs genommen, um den Brief wieder zu versiegeln. Sie schnitt den Umschlag an der Seite auf, um das Siegel unberührt zu lassen, das bei Gelegenheit als Beweismittel dienen konnte. Eugen kündete in wenigen Worten den vollständigen Erfolg des Staatsstreiches an; er stimmte einen Siegesgesang an, Paris war bezwungen, die Provinz rührte sich nicht, und er riet seinen Eltern eine feste Haltung angesichts der teilweisen Erhebung im Süden an. Zum Schlusse sagte er ihnen, ihr Glück sei begründet, wenn sie nicht wankten.

Frau Rougon schob den Brief in ihre Tasche und setzte sich langsam, wobei sie Vuillet ins Gesicht schaute. Dieser hatte, als sei er sehr beschäftigt, sich fieberhaft wieder an das Aussuchen gemacht.

Hören Sie mich an, Herr Vuillet, sagte sie ihm.

Als jener die Ohren spitzte, fuhr sie fort:

Wir wollen offen miteinander reden. Sie tun unrecht, daß Sie Verrat treiben; es könnte Ihnen ein Unglück zustoßen. Wenn Sie, anstatt Briefe zu erbrechen …

Da fuhr er auf und tat beleidigt; doch sie fuhr in ruhigem Tone fort:

Ich weiß; ich kenne Ihre Schule, Sie werden niemals gestehen. Nur keine überflüssigen Worte … Welches Interesse können Sie daran haben, dem Staatsstreiche zu dienen?

Da er noch immer von seiner vollkommenen Ehrenhaftigkeit sprach, verlor sie schließlich die Geduld.

Halten Sie mich denn für albern? rief sie. Ich habe Ihren Artikel gelesen … Sie täten besser, sich mit uns zu verständigen.

Ohne etwas zu gestehen, sagte er jetzt rundheraus, daß er die Kundschaft des Kollegiums haben wolle. Ehemals hatte er der Anstalt klassische Bücher geliefert. Aber man hatte in Erfahrung gebracht, daß er im geheimen den Schülern Schmutzliteratur in solcher Menge verkaufte, daß die Pulte mit gemeinen Büchern und Bildern vollgestopft waren. Bei dieser Gelegenheit war er nahe daran, vor der Zuchtpolizei zu erscheinen. Seither war es der ewige Gegenstand seiner neidischen Träume, das Wohlwollen der Verwaltung des Kollegiums zu erlangen.

Felicité schien erstaunt über die Bescheidenheit seines Ehrgeizes; ja, sie gab es ihm sogar zu verstehen. Briefe erbrechen, das Bagno riskieren, um einige Wörterbücher verkaufen zu dürfen!

Ei, sagte er mit herber Stimme, es handelt sich um einen gesicherten Absatz von vier- bis fünftausend Franken jährlich. Ich träume nichts Unmögliches wie gewisse Leute.

Sie tat, als überhöre sie das Wort. Von den erbrochenen Briefen war nicht mehr die Rede. Sie schlossen ein Bündnis, kraft dessen Vuillet sich verpflichtete, keine Nachricht in Umlauf zu bringen und sich nicht in den Vordergrund zu drängen unter der Bedingung, daß die Rougon ihm die Kundschaft des Kollegiums verschaffen würden. Als sie ihn verließ, riet ihm Felicité, sich nicht weiter zu kompromittieren. Es genüge, daß er die Briefe behalte und erst am zweitnächsten Tage austeilen lasse.

Welch ein Gauner! murmelte sie auf der Straße, ohne zu bedenken, daß sie selbst soeben den Postbeutel in Beschlag genommen hatte.

Mit langsamen Schritten und nachdenklich kehrte sie heim. Sie machte sogar einen Umweg, ging über die Promenade Sauvaire, wie um länger und bequemer nachdenken zu können. Unter den Bäumen der Wandelbahn begegnete sie dem Herrn von Carnavant, der die Nacht dazu benutzte, in der Stadt herumzuspüren, ohne sich zu kompromittieren. Die Geistlichkeit von Plassans, der jede Tätigkeit widerstrebte, beobachtete seit der Kunde vom Staatsstreiche die vollkommenste Neutralität. Für sie war das Kaiserreich eine vollendete Tatsache, und sie harrte nur der Stunde, um in einer neuen Richtung ihre hundertjährigen Ränke wiederaufzunehmen. Der Marquis, fortan ein überflüssiger Agent, war nur mehr von einer Neugierde geplagt: zu erfahren, wie der Trubel enden und wie die Rougon ihre Rolle zu Ende führen würden.

Bist du es Kleine? sprach er, als er Felicité erkannte. Ich wollte dich besuchen. Deine Angelegenheiten verwirren sich.

Nein, alles geht gut, erwiderte sie nachdenklich.

Um so besser. Du wirst mir die Sache erzählen. Ach, ich muß es dir beichten: ich habe die vorige Nacht deinem Gatten und seinen Genossen eine wahnsinnige Furcht eingejagt. Wenn du gesehen hättest, wie drollig sie waren auf der Terrasse, während ich sie in jedem Baumdickicht des Tales eine Bande Aufständische sehen ließ! … Du vergibst es mir, nicht wahr?

Ich danke Ihnen, erwiderte Felicité lebhaft. Sie hätten sie vor Angst sterben lassen sollen. Mein Mann ist ein plumper Schlaumeier. Kommen Sie doch nächstens an einem Vormittag, wenn ich allein bin.

Sie eilte davon und ging mit raschen Schritten dahin, als habe die Begegnung mit dem Marquis sie zu einer Entscheidung gedrängt. Ihre ganze kleine Person drückte einen unerbittlich festen Willen aus. Endlich wird sie sich rächen wegen Peters Geheimtuerei, endlich wird sie ihn unterkriegen und für immer ihre Herrschaft im Hause sichern. Es war dies eine notwendige kleine Szene, eine Komödie, deren tiefen Spott sie im voraus genoß und deren Plan sie mit dem Scharfsinn einer verletzten Frau zeitigte.

Sie fand Peter zu Bette, in tiefem Schlafe; sie brachte einen Augenblick eine Kerze herbei und betrachtete mitleidig sein schwerfälliges Gesicht, über das von Zeit zu Zeit ein leichtes Zittern flog: dann setzte sie sich an das Kopfende des Bettes, legte die Haube ab, löste ihr Haar und begann mit verzweifelter Miene bitterlich zu schluchzen.

Was ist's? Warum weinst du? fragte Peter, der plötzlich erwachte.

Sie antwortete nicht und weinte nur noch heftiger.

So antworte doch um Gottes willen! fuhr ihr Mann fort, den diese stumme Verzweiflung entsetzte. Wo warst du? Hast du die Aufständischen gesehen?

Sie verneinte stumm; dann flüsterte sie mit erstickter Stimme:

Ich komme aus dem Hotel Valqueyras; ich wollte Herrn von Carnavant zu Rate ziehen. Ach, mein armer Mann, alles ist verloren!

Peter setzte sich ganz blaß im Bette auf. Sein Stierhals, den sein offenes Hemd sehen ließ, sein schlaffes Fleisch war von der Angst aufgedunsen. Bleich und jämmerlich hockte er da in dem zerwühlten Bette wie eine chinesische Götzenfigur.

Der Marquis glaubt, Prinz Louis Napoleon sei unterlegen, fuhr Felicité fort. Wir sind zugrunde gerichtet, wir bekommen niemals einen Sou!

Da geriet Peter in Zorn, wie es bei Feiglingen zuweilen vorkommt. Es sei die Schuld des Marquis, die Schuld seines Weibes, die Schuld seiner ganzen Familie. Habe er an Politik gedacht, als Herr von Carnavant und Felicité ihn in diese Dinge hineindrängten?

Ich wasche mir die Hände, rief er. Ihr beide habt die Dummheit gemacht. Ist es nicht vernünftiger, in aller Ruhe seine kleine Rente zu verzehren? Du hast immer herrschen wollen. Nun siehst du, wohin es uns geführt hat.

Er verlor den Kopf; er vergaß, daß er sich ebenso habgierig gezeigt hatte wie sein Weib. Er empfand nur das unbändige Verlangen, sich selbst zu erleichtern, indem er die anderen wegen seiner Niederlage beschuldigt.

Konnten wir denn mit Kindern wie den unserigen überhaupt Erfolge haben? Eugen läßt uns im entscheidenden Augenblick im Stich; Aristide hat uns in den Schmutz gezogen und selbst der alte Einfaltspinsel Pascal kompromittiert uns, indem er als großer Menschenfreund hinter den Aufständischen einherzieht … Und wenn man bedenkt, daß wir uns zugrunde gerichtet haben, um sie ihre Studien machen zu lassen! …

In seiner Erbitterung gebrauchte er Worte, wie er sie früher nie gesprochen. Als Felicité ihn Atem schöpfen sah, bemerkte sie sanft:

Du vergißt Macquart.

Ach ja, den vergaß ich, fuhr er noch heftiger fort. Auch einer, an den ich nur denken muß, um außer mir zu geraten! … Doch das ist nicht alles. Der kleine Silvère … Du weißt ja … Ich sah ihn neulich abends bei meiner Mutter mit blutbedeckten Händen… Er hat einem Gendarm ein Auge ausgeschlagen. Ich habe es dir noch nicht erzählt, um dich nicht zu erschrecken. Ich sehe schon den Tag, an dem einer meiner Neffen vor dem Strafgerichte stehen wird … Macquart ist uns dermaßen im Wege, daß ich neulich, als ich meine Flinte hatte, Lust verspürte, ihm den Schädel zu zerschmettern … Jawohl, das habe ich tun wollen.

Felicité ließ diese Redeflut vorübergehen. Sie hatte die Vorwürfe ihres Gatten mit engelgleicher Geduld aufgenommen, das Haupt gesenkt wie eine Sünderin, was ihr ermöglichte, im stillen zu jubilieren. Durch ihre Haltung trieb sie Peter zum äußersten. Als dem armen Manne die Stimme versagte, seufzte sie schwer und heuchelte tiefe Reue. Dann wiederholte sie mit trostloser Stimme:

Mein Gott! Was werden wir anfangen? … was werden wir anfangen? … Die Schulden erdrücken uns …

Es ist deine Schuld! schrie Peter mit dem letzten Aufgebote seiner Kräfte.

In der Tat hatten die Rougon auf allen Seiten Schulden. Die Hoffnung auf den nahen Erfolg hatte sie alle Vorsicht vergessen lassen. Seit Beginn des Jahres 1851 waren sie so weit gegangen, den Gästen des gelben Salons allabendlich Fruchtsaft, Punsch und kleinen Kuchen vorzusetzen, förmliche Mahlzeiten, bei denen man auf den baldigen Untergang der Republik anstieß. Überdies hatte Peter den vierten Teil seines Vermögens der Reaktion zur Verfügung gestellt um zum Ankauf von Gewehren und Schießbedarf beizutragen.

Die Rechnung des Pastetenbäckers beträgt mindestens tausend Franken, fuhr Felicité in ihrem süßlichen Tone fort; der Likörhändler hat vielleicht das Doppelte zu fordern. Dann kommt der Metzger, der Bäcker, der Obsthändler …

Peter glaubte vergehen zu müssen; da versetzte Felicité ihm den letzten Streich, indem sie hinzufügte:

Ich spreche gar nicht von jenen zehntausend Franken, die du für die Waffen hingegeben hast.

Ich? … ich? … stammelte er. Man hat mich betrogen, man hat mich bestohlen. Der Tölpel Sicardot hat mich in die Patsche gebracht, indem er mir schwor, daß die Napoleons Sieger bleiben werden. Ich glaubte nur einen Vorschuß zu geben … Doch der alte Esel muß mir mein Geld zurückgeben.

 

Ach, man gibt dir gar nichts zurück, sprach seine Frau, mit den Achseln zuckend. Wir werden das Kriegsgeschick zu tragen haben. Wenn wir alles bezahlt haben, bleibt uns nicht so viel übrig, daß wir Brot essen können. Ach, es ist ein sauberer Feldzug! Wir müssen künftig in einer Hütte des alten Stadtviertels hausen.

Dieser letztere Satz klang unheilvoll; er war das Totengeläute ihres Daseins. Peter sah schon die erbärmliche Hütte im alten Stadtviertel, von der seine Frau sprach. Dort also sollte er auf einem ärmlichen Strohsack enden, nachdem er sein Leben lang nach reichlichen und leichten Genüssen gestrebt! Er sollte vergebens seine Mutter bestohlen, sich in die schmutzigsten Ränke eingemengt, jahrelang gelogen haben! Das Kaiserreich sollte seine Schulden nicht bezahlen, dieses Kaiserreich, das allein ihn von dem Ruin retten konnte. Er sprang aus dem Bette, im Hemde wie er war, und schrie:

Nein, ich werde ein Gewehr ergreifen; es ist mir lieber, daß die Aufständischen mich töten.

Das kannst du morgen oder übermorgen tun, entgegnete Felicité mit großer Ruhe; denn die Aufständischen sind nicht fern. Es ist ein Mittel wie ein anderes, um ein Ende zu machen.

Peter war erstarrt. Ihm war, als gieße man plötzlich einen großen Kübel kalten Wassers ihm über die Schultern. Langsam ging er wieder zu Bette und als er sich in den warmen Bettüchern befand, begann er zu weinen. Dieser dicke, schwerfällige Mensch brach leicht in Tränen aus, in sanfte, unversiegbare Tränen, die ohne Anstrengung aus seinen Augen flossen. Es vollzog sich in ihm eine verhängnisvolle Reaktion. Sein Groll stürzte ihn in eine Entmutigung, in ein kindisches Wehklagen. Felicité, dieser Krise gewärtig, frohlockte innerlich, als sie ihn so weich, so hohl, so platt sah.

Sie bewahrte ihre stumme Haltung, ihre verzweiflungsvolle Ergebung. Diese Ergebenheit, der Anblick dieses in seinem stummen Schmerze versunkenen Weibes trieb den in Tränen aufgelösten Peter zum äußersten.

Aber so sprich doch! flehte er; laß uns zusammen einen Ausweg suchen. Gibt es denn wirklich keinen Rettungsanker?

Nein es gibt keinen, du weißt es wohl, entgegnete sie; du selbst hast ja die Lage soeben geschildert. Wir haben von niemandem Hilfe zu erwarten. Unsere Kinder selbst haben uns betrogen.

Nun, was dann? … Wollen wir noch diese Nacht Plassans verlassen?

Fliehen? Aber mein armer Freund! Morgen wären wir in aller Leute Munde … Hast du schon vergessen, daß du die Stadttore schließen ließest?

Peter wand und krümmte sich und spannte seine Einbildungskraft ganz außerordentlich an; dann murmelte er, wie besiegt, in flehendem Tone:

Ich bitte dich, finde einen Gedanken; du hast noch nichts gesagt.

Felicité erhob das Haupt und tat sehr überrascht; dann erwiderte sie mit einer Gebärde vollständigen Unvermögens:

Ich bin in diesen Dingen eine Törin; ich verstehe nichts von Politik. Du hast es mir oft genug gesagt.

Da ihr Mann verlegen und gesenkten Blickes schwieg, fuhr sie langsam, jeden Ton des Vorwurfs vermeidend, fort:

Du hast mich in deinen Geschäften nicht auf dem laufenden erhalten; ich weiß nichts, ich kann dir nicht einmal einen Rat geben. Du hast übrigens recht gehandelt; die Frauen sind zuweilen geschwätzig, und es ist weit besser, wenn die Männer allein das Steuer handhaben.

Sie sagte dies mit einem so feinen Spott, daß ihr Mann den Stachel nicht herausfühlte. Er empfand nur schwere Gewissensbisse. Und jetzt beichtete er plötzlich. Er sprach von Eugens Briefen, erläuterte ihr seine Pläne und sein Verhalten mit der Redseligkeit eines Menschen, der sich vor seinem Beichtiger befindet und nach einem Retter fleht. JedenAugenblick unterbrach er sich, um sie zu fragen: »Was würdest du an meiner Stelle getan haben?« oder er rief aus: »Nicht wahr, ich hatte recht? Ich konnte nicht anders handeln.« Felicité blieb unempfindlich und ließ sich nicht einmal zu einem Kopfnicken herbei. Sie hörte mit der strengen Schroffheit eines Richters zu. Im Grunde fühlte sie sich überglücklich; endlich hatte sie ihn in ihrer Gewalt, diesen plumpen Schlaumeier; sie spielte mit ihm wie eine Katze mit einer papiernen Kugel und er streckte ihr die Hände hin, damit sie ihm Fesseln anlege.

Doch warte, sagte er, lebhaft aus dem Bette springend, ich will dich die Briefe Eugens lesen lassen. Du wirst dann die Lage besser beurteilen.

Vergebens versuchte sie, an einem Zipfel seines Hemdes ihn festzuhalten. Er breitete die Briefe auf dem Nachtkästchen aus, legte sich wieder ins Bett, las ganze Seiten und nötigte sie gleichfalls, mehrere zu lesen. Sie hielt ein Lächeln zurück und fühlte allgemach Mitleid mit dem armen Manne.

Nun, sagte er ängstlich, nachdem er zu Ende gelesen, jetzt weißt du alles; siehst du jetzt keine Möglichkeit, uns vor dem Ruin zu retten?

Sie antwortete noch immer nicht. Sie schien tief nachzudenken.

Du bist eine kluge Frau, fuhr er fort, um ihr zu schmeicheln; ich tat unrecht, die Sache vor dir geheim zu halten, ich erkenne es jetzt.

Reden wir nicht davon, erwiderte sie … Wenn du viel Mut hättest …

Da er sie mit gieriger Miene anblickte, unterbrach sie sich und sagte mit einem Lächeln:

Aber du versprichst mir, kein Mißtrauen mehr gegen mich zu haben. Du sagst mir alles und tust nichts, ohne mich zu fragen?

Er schwur und unterwarf sich den härtesten Bedingungen. Jetzt ging auch Felicité zu Bette; ihr war kalt, darum streckte sie sich an seiner Seite aus; mit leiser Stimme, als hätte man sie hören können, erläuterte sie ihm ausführlich ihren Feldzugsplan. Sie meinte, der Schrecken müsse heftiger durch die Stadt fahren und Peter müsse unter den bestürzten Bewohnern die Haltung eines Helden bewahren. Eine Ahnung sagte ihr, daß die Aufständischen noch fern seien. Übrigens werde früher oder später die Ordnungspartei den Sieg davon tragen und dann werden die Rougon belohnt. Nach der Rolle der Retter sei die Rolle der Märtyrer nicht zu verachten. Sie betrieb ihre Sache so geschickt, sie sprach mit so viel Überzeugung, daß ihr Gatte, anfänglich überrascht von der Einfachheit ihres Planes, der darin bestand, seinen Mut einzusetzen, schließlich ein wunderbares Geschick darin erblickte und versprach, sich dem Plane zu unterwerfen und allen möglichen Mut zu zeigen.

Und vergiß nicht, daß ich dich rette, flüsterte die Alte mit ihrer Schmeichelstimme. Du erweist dich dankbar?

Sie küßten sich und sagten einander »Gute Nacht!« Neue Hoffnung blühte den beiden Alten, die von der Habgier verzehrt wurden. Doch keiner von beiden konnte einschlafen. Peter blickte starr nach dem Lichtkreise, den die Nachtlampe auf die Decke warf und hing seinen Gedanken nach. Endlich wandte er sich um und teilte mit leiser Stimme seiner Frau einen Gedanken mit, der ihm durch den Kopf gegangen war.

Nein, nein, murmelte Felicité mit einem Frösteln. Das wäre zu grausam.

Du willst ja, daß die Bewohner der Stadt erschreckt werden! … Wenn das, was ich dir sage, geschehe, würde man mich ernst nehmen.

Dann fügte er, gleichsam zur Vervollständigung seines Planes, hinzu:

Man könnte Macquart dazu benützen … Das wäre ein Mittel, sich seiner zu entledigen.

Felicité wurde von diesem Gedanken gebannt. Sie sann nach, zögerte und sagte endlich mit stockender Stimme:

Du hast vielleicht recht. Wir wollen sehen… Schließlich wäre es dumm von uns, Gewissensbisse zu haben; es handelt sich für uns um Leben und Tod … Laß mich nur machen; ich werde morgen Macquart aufsuchen und will sehen, ob man sich mit ihm verständigen kann. Du würdest mit ihm in Streit geraten und alles verderben. Gute Nacht! Schlafe wohl, mein armer, guter Mann! Sei ruhig, unsere Not soll ein Ende haben.