50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Tekst
Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Sie küßten sich noch einmal und schliefen dann ein. Der Lichtkreis an der Decke glich einem entsetzten Auge, das lange Zeit den Schlaf dieses bleichen, spießbürgerlichen Ehepaares beobachtet, das in seinem Bette über Verbrechen nachsann und in seinen Träumen einen Blutregen niedergehen sah, dessen Tropfen sich am Boden in Goldstücke verwandelten.

Am anderen Morgen, vor Tagesanbruch, begab sich Felicité nach dem Bürgermeisteramte, ausgerüstet mit den Weisungen Peters, um zu Macquart zu gelangen. Sie brachte in einem Tafeltuche die Nationalgardistenuniform ihres Gatten mit. Übrigens sah sie nur einige Leute, die auf ihren Posten schliefen. Der Pförtner, der den Auftrag hatte, den Gefangenen die Nahrung zu bringen, ging hinauf, um ihr das zu einer Zelle umgewandelte Ankleidezimmer zu öffnen.

Macquart war dort seit zwei Tagen und zwei Nächten eingeschlossen. Er hatte Muße gehabt, seinen Gedanken nachzuhängen. Nachdem er sich ausgeschlafen, galten die ersten Stunden dem Zorne, der ohnmächtigen Wut. Bei dem Gedanken, daß sein Bruder sich in dem Nebenraume befinde, überkam ihn eine Anwandlung, die Türe einzurennen. Er nahm sich vor, ihn mit eigenen Händen zu erwürgen, wenn die Aufständischen kommen würden, ihn zu befreien. Doch als es am Abend zu dunkeln begann, ward er ruhiger und hörte auf, mit wütenden Schritten das Zimmer zu messen. Er sog einen milden Geruch von Behagen ein, der seine Nerven besänftigte. Herr Garçonnet, der sehr reich war und auf sein Äußeres viele Sorgfalt verwendete, hatte diesen Raum in einer sehr eleganten Weise einrichten lassen. Das Sofa war weich und warm; wohlriechende Parfüms, Salben und Seifen zierten die Marmorplatte des Waschtisches, und das matte Tageslicht fiel mit wollüstiger Weiche von der Decke herab gleich dem Schein einer Ampel in einem Schlafzimmer. In dieser scharf duftenden, faden und dumpfen Luft, wie sie in den Ankleidezimmern zu finden ist, schlief Macquart ein, indem er sich dachte, daß diese verrückten Reichen »denn doch ein feines Leben führen«. Er hatte sich mit einer Bettdecke zugedeckt, die man ihm gegeben hatte. Bis zum Morgen wälzte er sich auf dem Sofa herum, Kopf, Rücken und Arme auf die Polster stützend. Als er die Augen öffnete, fiel ein dünner Sonnenstrahl durch den Spalt der Fensterläden herein. Er verließ das behagliche warme Sofa nicht und gab sich seinen Gedanken hin, während er das Zimmer musterte. Er sagte sich, daß er niemals einen so herrlichen Ort besitzen werde, um sich zu waschen. Der Waschtisch interessierte ihn ganz besonders; es sei leicht, sich sauber zu halten, meinte er, wenn man so viel Töpfchen und Fläschchen zur Verfügung habe. Dies führte ihn zu bitteren Gedanken über sein verfehltes Leben. Er dachte sich, daß er vielleicht einen falschen Weg eingeschlagen; bei dem Umgang mit dem Bettelvolke sei nichts zu gewinnen; er habe nicht bösartig sein und sich mit den Rougon verständigen sollen. Dann wies er diesen Gedanken wieder von sich. Die Rougon seien Bösewichte, die ihn bestohlen hatten. Allein, in der behaglichen Wärme des Sofas ward er doch wieder sanfter, und abermals hatte er eine Regung von Reue. Schließlich sei er von den Aufständischen doch verlassen; sie ließen sich schlagen, die erbärmlichen Tröpfe. Er kam zu dem Schlusse, daß die Republik nichts als Betrug sei. Diese Rougon haben Glück. Und er erinnerte sich seiner nutzlosen Bosheiten, seines verbissenen Kampfes; niemand in der Familie habe ihn unterstützt, weder Aristide, noch Silvères Bruder, noch Silvère selbst, der ein Narr war, daß er sich für die Republikaner begeisterte; er werde niemals zu etwas kommen. Seine Frau war jetzt tot, seine Kinder hatten ihn verlassen, einsam wird er sterben, in einem Winkel ohne Sou wie ein Hund. Entschieden hätte er sich der Reaktion verkaufen sollen. Unter solchen Gedanken schielte er nach dem Waschtische, von starker Begierde erfaßt, sich die Hände mit einem gewissen Seifenpulver zu waschen, das in einer Büchse von Kristall enthalten war. Wie alle Taugenichtse, die sich von Frau und Kinder aushalten lassen, hatte Macquart gewisse Haarkünstlergelüste. Obgleich er geflickte Hosen trug, liebte er es, sich mit duftigen Ölen zu salben. Ganze Stunden brachte er bei seinem Barbier zu, bei dem von Politik gesprochen wurde und der zwischen einer Kannegießerei und der anderen ihm den Kopf zurecht machte. Die Versuchung wurde zu stark; Macquart begab sich zu dem Waschtische. Er wusch sich Hände und Gesicht; er kämmte und parfümierte sich, machte vollständige Toilette. Er benützte alle Fläschchen, alle Seifen, alle Pulver. Sein größter Genuß aber war, sich mit den Tüchern des Bürgermeisters abzutrocknen; sie waren geschmeidig und dicht. Er bettete sein feuchtes Gesicht hinein und sog da alle Düfte des Reichtums ein. Als er gewaschen und gesalbt war, als er duftete vom Kopfe bis zu den Füßen, streckte er sich wieder auf dem Sofa aus, verjüngt und zur Versöhnlichkeit neigend. Seitdem er die Nase in die Flaschen des Herrn Garconnet gesteckt, fühlte er noch mehr Verachtung gegen die Republik. Er kam auf den Gedanken, daß es vielleicht noch Zeit sei, mit seinem Bruder Frieden zu machen. Er erwog, welchen Preis er für einen Verrat fordern könne. Die Erbitterung gegen die Rougon nagte ihm noch immer am Herzen; aber er war in einer jener Stimmungen, wo man, in stiller Einsamkeit auf dem Rücken liegend, geneigt ist, sich harte Wahrheiten zu sagen, und wo man sich Vorwürfe darüber macht, daß man nicht – selbst mit Aufopferung seiner teuersten Vergeltungsgelüste – sich ein warmes Nest gebaut habe, um sich, feig an Leib und Seele, behaglich darin auszustrecken. Gegen Abend entschloß sich Antoine, am nächsten Tage seinen Bruder rufen zu lassen. Als er aber am folgenden Tage Felicité eintreten sah, begriff er, daß man seiner bedürfe, und war auf seiner Hut.

Die Unterhandlung währte lange und ward von beiden Seiten mit vieler Schlauheit und zahllosen Kniffen geführt. Zuerst tauschten sie unbestimmte Klagen aus. Felicité war überrascht, Antoine fast höflich zu finden nach der rohen Szene, die er ihr am Sonntag abend gemacht hatte, und darum sprach sie in einem Tone sanften Vorwurfes zu ihm. Sie beklagte die Gehässigkeiten, die die Familien entzweiten. Aber er habe seinen Bruder verleumdet und verfolgt mit einer Verbissenheit, die Rougon außer sich gebracht habe.

Ei, mein Bruder hat sich gegen mich niemals als Bruder betragen, erwiderte Macquart mit verhaltener Heftigkeit. Ist er mir zu Hilfe gekommen? Seinethalben hätte ich in meiner Höhle zugrunde gehen können. Als er sich besser benahm, zurzeit, da er mir zweihundert Franken gab, konnte mir niemand vorwerfen, daß ich ihm Übles nachgesagt hätte. Ich wiederholte überall, er habe ein gutes Herz.

Dies bedeutete klar:

Wenn ihr fortgefahren wäret, mich mit Geld zu versorgen, wäre ich euch ergeben gewesen und würde euch geholfen haben, anstatt euch zu bekämpfen. Es ist eure Schuld. Ihr hättet mich erkaufen sollen.

Felicité begriff dies so gut, daß sie erwiderte:

Ich weiß, Sie haben uns der Hartherzigkeit angeklagt, weil man glaubt, wir seien wohlhabend. Aber man irrt, lieber Bruder: wir sind arme Leute; wir haben niemals so an Ihnen handeln können, wie unser Herz es gewünscht hätte.

Sie zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort:

Wenn es sein müßte, unter ernsten Umständen könnten wir ein Opfer bringen; aber wahrhaftig, wir sind so arm, so arm! …

Macquart spitzte die Ohren. Ich halte sie fest – dachte er. Er tat, als habe er das verhüllte Anerbieten seiner Schwägerin überhört und verbreitete sich in klagendem Tone über sein Elend, erzählte von dem Tode seiner Frau, von der Flucht seiner Kinder. Felicité ihrerseits sprach von der Krise, die das Land durchmache. Sie behauptete, die Republik habe sie vollends zugrunde gerichtet. Allmählich kam sie so weit, eine Zeit zu verwünschen, die den Bruder zwinge den Bruder gefangen zu halten. Das Herz werde ihnen bluten, wenn die Justiz ihre Beute nicht herausgeben wolle! Und sie ließ das Wort »Galeeren« fallen.

Laßt es nur darauf ankommen, sagte Macquart ruhig.

Doch sie entgegnete energisch:

Mit meinem Blute möchte ich lieber die Ehre der Familie erkaufen. Ich spreche mit Ihnen nur, um Ihnen zu zeigen, daß wir Sie nicht verlassen werden … Ich komme, um Ihnen die Mittel zur Flucht zu bieten, mein lieber Antoine.

Sie schauten einander eine Sekunde in die Augen, um sich gegenseitig mit den Blicken zu prüfen, ehe sie den Kampf aufnahmen.

Ohne Bedingung? fragte er endlich.

Ohne jede Bedingung, erwiderte sie.

Sie setzte sich zu ihm auf das Sofa und fuhr mit entschlossener Stimme fort:

Ja, wenn Sie vor Überschreiten der Grenze noch einen Tausendfrankenschein erwerben wollen, kann ich Ihnen auch dazu verhelfen.

Neues Stillschweigen.

Wenn es ein sauberes Geschäft ist, murmelte Antoine nachdenklich, warum nicht? … Aber in eure Machenschaften mag ich mich nicht einmengen.

Da gibt es keinerlei Machenschaften, fuhr Felicité fort, indem sie die Skrupel des alten Gauners belächelte. Nichts ist einfacher: Sie verlassen sogleich dieses Zimmer, verstecken sich bei ihrer Mutter, versammeln heute abend Ihre Anhänger und nehmen das Rathaus wieder ein.

Macquart konnte seine große Überraschung nicht unterdrücken. Er begriff die Sache nicht.

Ich dachte, ihr wäret die Sieger, bemerkte er.

Ich habe keine Zeit, Ihnen jetzt alles zu erzählen, erwiderte die Alte ungeduldig. Nehmen Sie an, oder nehmen Sie nicht an?

Nein, ich nehme nicht an … Ich will mir die Sache überlegen. Es wäre doch sehr dumm von mir, für tausend Franken vielleicht ein Vermögen auf das Spiel zu setzen.

Felicité erhob sich.

Wie Sie wollen, mein Lieber, sprach sie kühl. Sie übersehen wirklich nicht das Gefährliche Ihrer Lage. Sie sind zu mir gekommen und haben mich eine alte Gaunerin genannt; jetzt, da ich so gutmütig bin, Ihnen die Hand zu reichen, um Ihnen aus der Grube zu helfen, in die Sie törichterweise gestürzt sind, machen Sie Umstände und wollen nicht gerettet werden. Gut, bleiben Sie da und warten Sie, bis die Behörden zurückkehren. Ich wasche meine Hände.

 

Sie stand schon an der Türe.

Aber geben Sie mir doch einige Aufklärungen, bat er. Ich kann doch in Unkenntnis der Dinge keinen Handel mit Ihnen abschließen. Ich weiß nicht, was seit zwei Tagen geschehen ist. Kann ich wissen, ob Sie mich nicht betrügen?

Sie sind ein Einfaltspinsel, sagte Felicité, die dieser Herzensschrei Antoines bewog, von der Schwelle zurückzukommen. Sie taten sehr unrecht, sich nicht blindlings auf unsere Seite zu stellen. Tausend Franken sind eine schöne Summe und man wagt sie nur für eine gewonnene Sache. Ich rate Ihnen, sie anzunehmen.

Er zögerte noch immer.

Wenn wir erscheinen, um von dem Rathause Besitz zu ergreifen, wird man uns ruhig einziehen lassen?

Das weiß ich nicht, erwiderte sie mit einem Lächeln. Es wird vielleicht Flintenschüsse geben.

Er blickte sie fest an.

Ei, sagen Sie doch, Mütterchen, fuhr er mit rauher Stimme fort, haben Sie etwa die Absicht, mir eine Kugel in den Kopf senden zu lassen?

Felicité errötete. Sie dachte in der Tat eben daran, daß eine Kugel, die beim Angriff auf das Rathaus sie von Antoine befreien würde, ihnen einen großen Dienst erweisen würde. Die tausend Franken wären gewonnen. Doch tat sie sehr gekränkt und erwiderte:

Welcher Einfall! … Wahrhaftig, es ist unmenschlich, solche Gedanken zu haben.

Dann fügte sie ruhiger hinzu:

Nehmen Sie an? … Sie haben begriffen, nicht wahr?

Macquart hatte vollkommen begriffen. Was man ihm vorschlug, war ein Hinterhalt. Er begriff die Beweggründe nicht, noch die Folgen, und dies bestimmte ihn zu feilschen. Nachdem er von der Republik wie von einer Geliebten gesprochen, die er zu seinem Leidwesen nicht mehr lieben könne, rückte er mit den Gefahren heraus, die er lief, und forderte schließlich zweitausend Franken. Allein Felicité blieb fest, und sie unterhandelten so lange, bis sie ihm versprochen hatte, daß er bei seiner Rückkehr nach Frankreich eine Stelle erhalten solle, die ihm nichts zu arbeiten gebe und ein schönes Einkommen sichere. Dann erst wurde der Handel abgeschlossen. Sie ließ ihn die mitgebrachte Nationalgardistenuniform anlegen. Er solle sich bei Tante Dide ruhig im Versteck halten und gegen Mitternacht alle Republikaner, die er finden werde, nach dem Marktplatze führen und ihnen versichern, daß das Rathaus verlassen sei und daß es genüge, die Türe zu öffnen, um sich seiner zu bemächtigen. Antoine verlangte Vorschuß und erhielt zweihundert Franken; die übrigen achthundert Franken verpflichtete sie sich am nächsten Tage zu bezahlen. Die Rougon setzten ihr letztes verfügbares Geld ein.

Als Felicité wieder hinabgegangen war, verweilte sie einen Augenblick auf dem Marktplatze, um Macquart weggehen zu sehen. Er kam, sich schneuzend, ruhig an dem Posten vorüber. Vor seinem Abgang hatte er in dem Arbeitszimmer des Oberbürgermeisters die Oberlichtscheibe zertrümmert, um glauben zu machen, daß er da hinausgeflüchtet sei.

Es ist abgemacht, sagte Felicité ihrem Gatten, als sie heimgekehrt war. Um Mitternacht wird es geschehen … Aber mich kümmert es nicht weiter; ich möchte sie alle erschossen sehen. Sie sind gestern in der Straße unbarmherzig genug mit uns umgesprungen.

Du warst zu gutmütig, daß du noch zögertest; jedermann an unserer Stelle würde so handeln, erwiderte Peter, der sich eben rasierte.

Diesen Morgen – es war an einem Mittwoch – machte er ganz besonders sorgfältig Toilette. Seine Frau kämmte ihn und ordnete ihm die Halsbinde. Sie drehte ihn hin und her wie ein Kind, das sich zur Schulprüfung schmückt. Als er fertig war, betrachtete sie ihn und erklärte, daß er sehr gut aussehe und er eine sehr gute Figur machen werde inmitten der ernsten Ereignisse, die sich vorbereiteten. Sein breites, fahles Antlitz hatte in der Tat einen Ausdruck großer Würde und heldenhafter Entschlossenheit. Sie gab ihm das Geleite bis zum ersten Stockwerke und erteilte ihm dabei ihre letzten Ratschläge; er solle seine mutige Haltung bewahren, wie groß auch der Schrecken sein werde; die Stadttore müßten fester denn je geschlossen, die Bewohner innerhalb ihrer Wälle der Todesangst überlassen werden, und es wäre ausgezeichnet, wenn er als einziger dastände, der bereit ist, für die Sache der Ordnung zu sterben.

Welch ein Tag! Die Rougon erzählen heute noch davon, wie von einer ruhmvollen Entscheidungsschlacht. Peter begab sich geradeswegs nach dem Rathause, unbekümmert um die Blicke und Worte, die er unterwegs auffing. Er richtete sich da häuslich ein wie einer, der entschlossen ist, nicht mehr vom Platze zu weichen. Er sandte bloß ein kurzes Schreiben an Roudier, um diesen zu benachrichtigen, daß er wieder an die Spitze der Macht trete. Da er wußte, daß diese wenigen Zeilen in die Öffentlichkeit gelangen würden, schrieb er: Wachen Sie an den Stadttoren; ich will im Innern der Stadt wachen, um Leben und Eigentum zu schützen. In dem Augenblicke, da die bösen Leidenschaften erwachen und überhand zu nehmen drohen, müssen die guten Bürger sie unterdrücken und selbst ihr Leben daran wagen. Der Stil und die orthographischen Fehler verliehen diesem mit antiker Kürze abgefaßten Schreiben einen heldenmütigen Schwung. Kein einziges Mitglied der einstweiligen Kommission erschien. Die zwei letzten Getreuen und Granoux selbst blieben vorsichtigerweise zu Hause. Von dieser Kommission, deren Mitglieder sich in dem Maße verflüchtigten, in welchem der allgemeine Schrecken zunahm, blieb Rougon allein auf seinem Posten, auf seinem Präsidentenstuhl. Er ließ sich nicht herbei, eine Einberufung zu versenden. Er allein genügte. Er bot ein erhabenes Schauspiel, das ein Lokalblatt später mit den Worten kennzeichnete: Der Mut reichte der Pflicht die Hand.

Den ganzen Vormittag sah man Peter unablässig im Bürgermeisteramte kommen und gehen. Er war ganz allein in diesem großen, leeren Gebäude, dessen Säle von dem Geräusche seiner Schritte lange widerhallten. Übrigens waren alle Türen offen. Inmitten dieser Öde wandelte er wie ein von seinem Rate im Stiche gelassener Präsident einher mit einer von seinem Berufe dermaßen durchdrungenen Miene, daß der Pförtner, als er ihm einige Male auf den Gängen begegnete, ihn überrascht und respektvoll grüßte. Man konnte ihn hinter jedem Fenster sehen und trotz der großen Kälte erschien er wiederholt auf dem Balkon, mit Schriftenbündeln in der Hand wie ein vielbeschäftigter Mann, der wichtige Botschaften erwartet.

Gegen Mittag durcheilte er die Stadt; er besichtigte die Posten, sprach von der Möglichkeit eines Angriffes, gab zu verstehen, daß die Aufständischen nicht fern seien; doch zähle er auf die Tapferkeit der Nationalgardisten, fügte er hinzu; wenn nötig, müßten sie für die gute Sache sterben bis zum letzten Mann. Als er von diesem Rundgang zurückkehrte, langsam, ernst, mit der Haltung eines Helden, der die Angelegenheiten seines Vaterlandes in Ordnung gebracht hat und nunmehr dem Tode entgegensieht, konnte er auf seinem Wege eine wahrhafte Erstarrung sehen. Die Spaziergänger von der Promenade Sauvaire, die unverbesserlichen kleinen Rentiers, die keine Katastrophe hätte hindern können, zu gewohnter Stunde auf den Straßen Maulaffen feil zu haben, sahen mit verblüffter Miene ihn vorüberziehen, als kennten sie ihn nicht und als könnten sie nicht glauben, daß einer der Ihrigen, ein ehemaliger Ölhändler, den Mut habe, einer ganzen Armee Trotz zu bieten.

In der Stadt war die Angst auf ihrem Höhepunkte. Von einem Augenblick zum andern erwartete man die Bande der Aufständischen. Die Nachricht von der Flucht Macquarts wurde in einer schrecklichen Weise ausgelegt. Man behauptete, daß er durch seine Freunde, die »Roten«, befreit worden sei und daß er in irgendeinem Winkel die Nacht abwarte, um sich auf die Bewohner zu stürzen und die Stadt an allen vier Enden anzuzünden. Das eingeschlossene Plassans, das völlig den Kopf verloren und innerhalb seiner Mauern verging, wußte nicht mehr, was es erfinden solle, um Furcht zu haben. Angesichts der mutigen Haltung Rougons wurden die Republikaner von einem vorübergehenden Mißtrauen ergriffen. Die Neustadt, die Advokaten und Kaufleute im Ruhestande, die noch gestern gegen den gelben Salon losgegangen waren, waren dermaßen überrascht, daß sie es nicht wagten, einen Mann von solchem Mute offen zu bekämpfen. Sie begnügten sich zu sagen, daß es Wahnwitz sei, den siegreichen Aufständischen in dieser Weise Trotz zu bieten und dieser nutzlose Heldenmut das größte Unglück über Plassans bringen werde. Gegen drei Uhr entsandten sie eine Abordnung. Peter, der vor Begierde brannte, seinen Mitbürgern seinen Mut zu bekunden, hatte nicht gewagt, auf eine so schöne Gelegenheit zu hoffen.

Er fand erhabene Worte. In dem Arbeitszimmer des Bürgermeisters empfing der Präsident der einstweiligen Kommission die Abordnung der Neustadt. Die Herren huldigten seinem Patriotismus, baten ihn jedoch, an einen Widerstand nicht zu denken. Er aber sprach mit erhobener Stimme von der Pflicht, vom Vaterlande, von der Ordnung, der Freiheit und anderen erhabenen Dingen. Übrigens zwinge er niemanden, seinem Beispiele zu folgen; er tue ganz einfach, was sein Gewissen, sein Herz ihm gebiete.

Sie sehen, meine Herren, ich bin allein, schloß er seine Rede. Ich will die ganze Verantwortlichkeit tragen, damit kein anderer außer mir kompromittiert sei. Wenn ein Opfer nötig sei, biete ich mich freiwillig an; ich wünsche, mit meinem Leben das meiner Mitbürger erkaufen zu können.

Ein Notar, der stärkste Kopf in der Gruppe, bemerkte, daß er dem sicheren Tode entgegengehe.

Ich weiß es und bin bereit, erwiderte er in ernstem Tone.

Die Herren schauten einander an. Dieses »Ich bin bereit« erfüllte sie mit Bewunderung. Fürwahr, dieser Mann war tapfer. Der Notar beschwor ihn, die Gendarmen an seine Seite zu nehmen; allein er erwiderte, das Blut dieser Soldaten sei kostbar, und er werde es nur im Falle der äußersten Not vergießen lassen. Langsam und in sehr bewegter Stimmung zog die Abordnung sich zurück. Eine Stunde später sah ganz Plassans in Rougon einen Helden; die Feigsten nannten ihn einen »alten Narren«.

Gegen Abend sah Peter zu seinem nicht geringen Erstaunen Granoux herbeieilen. Der ehemalige Mandelhändler warf sich in seine Arme, nannte ihn »großer Mann!« und sagte, er wolle »mit ihm sterben«. Die Worte »Ich bin bereit«, welche seine Magd von der Obsthändlerin mit heimbrachte, hatten diese große Begeisterung in ihm hervorgerufen. Dieser scheue, plumpe Mensch hatte solche kindliche Anwandlungen. Peter behielt ihn bei sich und dachte, die Sache habe weiter nichts zu bedeuten. Er war sogar gerührt von der Ergebenheit des armen Mannes und nahm sich vor, ihn öffentlich durch den Präfekten beloben zu lassen, worüber die anderen Spießbürger, die ihn so schmählich verlassen, vor Ärger bersten würden. Und jetzt erwarteten beide in dem verlassenen Rathause die Nacht.

Zur nämlichen Stunde ging Aristide zu Hause mit sehr unruhiger Miene hin und her. Vuillets Artikel hatte ihn überrascht. Die Haltung seines Vaters verblüffte ihn. Er hatte ihn an einem Fenster in schwarzem Rock und mit weißer Halsbinde gesehen, so ruhig bei der Annäherung der Gefahr, daß alle seine Gedanken in seinem armen Kopfe sich verwirrten. Die Aufständischen würden siegreich zurückkehren, dies war die Meinung der ganzen Stadt. Allein es tauchten Zweifel in ihm auf und er witterte irgendeinen schlimmen Streich. Da er nicht mehr wagte, sich bei seinen Eltern zu zeigen, hatte er seine Frau hingesandt. Als Angela zurückkehrte, sagte sie mit ihrer schleppenden Stimme:

Deine Mutter erwartet dich; sie ist keineswegs erzürnt, aber es scheint, daß sie sich über dich lustig macht. Sie sagte mir wiederholt, du könntest deine Schärpe wieder in die Tasche stecken.

Aristide war arg verlegen. Übrigens eilte er nach dem Hause seiner Eltern, zu jeder Unterwerfung bereit. Seine Mutter begnügte sich, ihn mit einem verächtlichen Lachen zu empfangen.

Ach, mein armer Junge, sprach sie, als sie ihn sah, du bist wahrhaftig nicht sehr klug.

Kann man denn wissen, was geschieht … in diesem Neste Plassans? rief er verdrossen. Ich werde ganz dumm, auf Ehre! Man hat keine Nachricht, und alle Welt zittert vor Angst. Das kommt davon, wenn man innerhalb seiner Wälle eingeschlossen ist. Ach! hätte ich doch mit Eugen nach Paris gehen können! …

Als er seine Mutter noch immer lachen sah, fügte er bitter hinzu:

Du warst nicht gut zu mir, Mutter. Ich weiß so manche Dinge … Mein Bruder hat euch von allen Vorgängen auf dem laufenden erhalten und niemals hast du mir einen Fingerzeig gegeben, der mir von Nutzen hätte sein können.

 

Du weißt das? rief Felicité ernst und mißtrauisch. Dann bist du freilich weniger dumm, als ich gedacht. Entsiegelst du vielleicht Briefe wie ein Herr, den ich kenne?

Nein, aber ich horche an den Türen, erwiderte Aristide keck.

Diese Offenheit gefiel der alten Frau. Sie lächelte wieder und fragte in sanfterem Tone:

Wie kommt es dann, daß du dich nicht schon früher uns angeschlossen hast?

Weil ich wenig Vertrauen zu euch hatte, erwiderte der junge Mann verlegen. Ihr empfinget solche Dummköpfe wie meinen Schwiegervater, Granoux und andere … Auch wollte ich mich nicht zu weit vorwagen.

Er zögerte. Dann fuhr er mit unruhiger Stimme fort:

Seid ihr heute wenigstens des Erfolges des Staatsstreiches sicher?

Ich bin seiner Sache sicher, erwiderte Felicité, durch die Zweifel ihres Sohnes verletzt.

Du ließest mir doch sagen, ich möge die Schärpe ablegen?

Ja, weil die Herren sich über dich lustig machen.

Aristide blieb nachdenklich stehen und schien die Zeichnung der Tapete sehr aufmerksam zu betrachten. Seine Mutter ward, als sie ihn in dieser unschlüssigen Haltung sah, von einer plötzlichen Unruhe ergriffen.

Ich komme doch zu meiner ersten Meinung zurück, sprach sie. Du bist nicht recht gescheit. Und da sollte man dich die Briefe Eugens lesen lassen. Unglücklicher! Mit deinem ewigen Schwanken würdest du alles verdorben haben. Du zauderst jetzt noch immer …

Ich zaudere? unterbrach er seine Mutter mit einem kühlen, klaren Blick. Da kennst du mich schlecht. Ich würde die Stadt anzünden, wenn ich Lust hätte, mir die Füße zu wärmen. Aber begreife doch, daß ich keinen falschen Weg einschlagen will! Ich bin es müde, mein schweres Brot zu essen und will dem Glück ein Schnippchen schlagen. Ich werde nur sicher gehen.

Diese Worte hatte er mit einer solchen Erbitterung gesprochen, daß seine Mutter in diesem Heißhunger nach dem Erfolge die Stimme ihres Blutes erkannte.

Dein Vater ist ein Mann von Mut, murmelte sie.

Ja, ich habe es gesehen, entgegnete er höhnisch. Er macht eine gute Figur und erinnert an Leonidas in den Thermopylen. Hast du ihm diese Maske zurecht gemacht, Mutter?

Dann fügte er heiter und mit einer entschlossenen Gebärde hinzu:

Um so schlimmer! Ich bin Bonapartist … Papa wird sich gewiß nicht dem Tode aussetzen, wenn die Sache nicht sehr einträglich ist.

Du hast recht, sagte seine Mutter. Ich darf nicht reden, aber morgen wirst du mehr sehen.

Er drang nicht in sie, aber schwur, daß sie bald stolz auf ihn sein solle; dann ging er. Felicité blickte ihm vom Fenster aus nach; die alte Vorliebe für ihn erwachte wieder, und sie sagte sich, daß er einen verteufelten Verstand habe und sie nicht den Mut finden werde, ihn den unrichtigen Weg einschlagen zu lassen.

Zum dritten Male senkte sich die Nacht über Plassans herab, eine Nacht voll Angst und Schrecken. Die Stadt lag in den letzten Zügen. Die Bürger eilten nach Hause und verrammelten ihre Häuser mit einem lauten Geräusch von Riegeln und Eisenstangen. Die allgemeine Meinung war die, daß Plassans am nächsten Tage nicht mehr bestehen, daß die Stadt entweder in der Erde versunken oder in Dunst aufgegangen sein werde. Als Rougon zum Essen heimkehrte, fand er die Straße verödet. Diese Einsamkeit stimmte ihn traurig. Es überkam ihn denn auch bei Tische eine Anwandlung von Schwäche und er fragte seine Frau, ob es nötig sei, den durch Macquart vorbereiteten Aufstand vor sich gehen zu lassen.

Man kläfft nicht mehr gegen uns, sagte er. Wenn du gesehen hättest, mit welcher Ehrfurcht die Herren von der Neustadt mich begrüßt haben … Es scheint mir nunmehr unnötig, Leute zu töten. Wie denkst du? Wir werden unser Schäfchen auch so ins trockene bringen.

Ach, was bist du für ein Schwächling! rief Felicité wütend. Du hattest den Einfall, und jetzt weichst du selbst zurück. Ich sage dir, daß du ohne mich nie etwas ausführen wirst! … Geh deines Weges! Würden etwa die Republikaner deiner schonen, wenn sie dich in ihrer Gewalt hätten?

Auf dem Rathause ging Rougon daran, den Hinterhalt vorzubereiten. Granoux war ihm dabei sehr nützlich. Er sandte durch ihn seine Weisungen an die verschiedenen Posten, welche die Wälle bewachten. Die Nationalgardisten sollten sich in kleinen Gruppen und verstohlen nach dem Rathause begeben. Roudier, dieser nach der Provinz verschlagene Pariser Spießbürger, der die ganze Sache hätte verderben können, indem er Menschlichkeit predigte, wurde gar nicht benachrichtigt. Gegen elf Uhr war der Hof des Rathauses voll Nationalgardisten. Rougon jagte ihnen Entsetzen ein; er erzählte ihnen, daß die in Plassans gebliebenen Republikaner einen verzweifelten Handstreich versuchen würden; er schätzte sich glücklich, durch seine Geheimpolizei rechtzeitig Wind bekommen zu haben. Nachdem er ein bluttriefendes Bild von dem Gemetzel geliefert hatte, dessen Opfer die Stadt werde, wenn die Elenden sich der Gewalt bemächtigen würden, gab er den Befehl, kein Wort mehr zu sprechen und alle Lichter auszulöschen. Er selbst ergriff eine Flinte. Seit dem Morgen ging er wie in einem Traume umher; er erkannte sich selbst nicht mehr; er fühlte Felicité hinter sich, in deren Hände die Krise der Nacht ihn geschleudert hatte und würde sich haben hängen lassen mit den Worten: Tut nichts; meine Frau wird schon kommen, mich loszumachen. Um das Getöse zu verstärken und den Schrecken über der schlafenden Nacht zu verlängern, bat er Granoux, sich nach der Kathedrale zu begeben und bei den ersten Flintenschüssen Sturm läuten zu lassen. Der Name des Marquis sollte ihm die Türe des Mesners öffnen. Im Schatten und in der Stille des Hofes harrten die geängstigten Nationalgardisten, die Augen auf das Tor gerichtet und von Ungeduld gefoltert, ihre Gewehre abzuschießen, wie auf der Lauer nach Wölfen.

Inzwischen hatte Macquart den Tag bei Tante Dide zugebracht. Er hatte sich auf dem alten Koffer ausgestreckt und bedauerte, daß er nicht mehr auf dem weichen Sofa des Herrn Garçonnet liegen könne. Wiederholt überkam ihn ein wahnsinniges Verlangen, in ein benachbartes Kaffeehaus zu gehen und dort seine zweihundert Franken anzuzapfen. Dieses Geld, das er in eine Westentasche gesteckt hatte, brannte ihm die Seite; er benützte seine Muße dazu, es im Geiste auszugeben. Seine Mutter, die seit einigen Tagen ihre Kinder schreckensbleich in ihr Haus kommen sah, ohne deshalb aus ihrem Stillschweigen herauszutreten und die Unbeweglichkeit ihres Gesichtes zu verlieren, ging vor ihm hin und her mit ihren steilen, unbewußten Bewegungen und schien seine Anwesenheit nicht zu bemerken. Sie wußte nichts von dem Schreck, der die ganze verschlossene Stadt im Banne hielt; sie war tausend Meilen weit von Plassans, jenem steten Gedanken nachhängend, der ihre Augen weit offen, ihre Sinne leer erhielt. Und doch brachte in jener Stunde eine Unruhe, eine menschliche Sorge einen Augenblick ihre Wimpern zum Zucken. Antoine, der dem Verlangen, einen guten Bissen zu essen, nicht widerstehen konnte, sandte sie aus, um von einem Gastwirte der Vorstadt ein gebratenes Huhn zu holen. Als er bei Tische sitzend sich damit gütlich tat, sagte er zu der Alten:

Du ißt nicht oft Huhn, wie? Das ist für solche, die da arbeiten und ihr Geschäft verstehen. Du aber hast nur immer alles vergeudet … Ich wette, daß du deine Ersparnisse diesem frommen Rührmichnichtan Silvère gibst. Der Duckmäuser hat eine Geliebte. Hast du irgendwo etwas Geld verborgen, so wird er eines Tages sicher den Schatz heben.