50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
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Er trieb seinen Spott mit ihr; eine wilde Freude durchloderte ihn. Das Geld, das er in der Tasche hatte; der Verrat, den er vorbereitete, die Gewißheit, sich teuer verkauft zu haben: sie erfüllten ihn mit der Zufriedenheit der Bösewichte, die im Schlechten ihre natürliche Heiterkeit und ihre Spottsucht wiederfinden. Aber Tante Dide hörte aus all dem nur den Namen Silvère heraus.

Hast du ihn gesehen? fragte sie, endlich die Lippen öffnend.

Wen? Silvère? entgegnete Antoine. Er spazierte unter den Aufständischen umher mit einem großen, roten Mädchen am Arm. Wenn er eine blaue Bohne erwischt, wird ihm ganz recht geschehen.

Die Alte blickte ihn starr an.

Warum? fragte sie in ernstem Tone.

Ei, weil er ein Tölpel ist, erwiderte Antoine verlegen. Hat man je gehört, daß man für solche Sachen seine Haut riskiert? Ich habe meine Sache in Ordnung gebracht; ich bin kein Kind.

Doch Tante Dide hörte ihn nicht.

Er hatte schon die Hände voll Blut, murmelte sie. Man wird mir ihn töten wie man den andern getötet hat. Seine Oheime werden die Gendarmen nach ihm aussenden.

Was plappert Ihr da? sagte ihr Sohn, den Rest des Huhns verzehrend. Ich verlange, daß man es mir ins Gesicht sagt, wenn man etwas wider mich hat. Wenn ich manchmal mit dem Kleinen von der Republik sprach, so geschah es nur, um ihn auf vernünftigere Gedanken zu bringen. Er war rein närrisch. Ich liebe die Freiheit, aber ich will nicht, daß sie in Zügellosigkeit ausartet. Und Rougon hat meine Achtung; das ist ein Mann von Mut und Klugheit.

Er hatte die Flinte bei sich, nicht wahr? unterbrach ihn Tante Dide, deren trüber Geist dem fernen Silvère auf seinem Wege zu folgen schien.

Die Flinte? Ach ja, Macquarts Flinte, fuhr Antoine fort, nachdem er einen Blick auf den Kaminmantel geworfen, wo sonst die Waffe hing. Ich glaube, sie in seinen Händen gesehen zu haben. Ein nettes Ding, um mit einem Mädchen im Arm in Wald und Feld herumzustreifen. Welch ein Tor!

Er glaubte einige plumpe Späße machen zu sollen. Tante Dide ging jetzt wieder im Zimmer ab und zu. Sie sprach kein Wort mehr. Gegen den Abend entfernte sich Antoine, nachdem er eine Bluse angezogen und eine tiefe Mütze, die seine Mutter ihm gekauft, aufgesetzt und über die Augen herabgezogen hatte. Er betrat die Stadt, wie er sie verlassen, indem er den Nationalgardisten, die das römische Tor bewachten, irgendeine Geschichte vormachte. Dann begab er sich nach dem alten Stadtviertel, wo er verstohlen von Tür zu Tür schlich. Alle eifrigen Republikaner, alle Genossen, die den Aufständischen nicht gefolgt waren, fanden sich gegen neun Uhr in einem Winkelkaffeehause ein, wohin Macquart sie bestellt hatte. Als ihrer etwa fünfzig beisammen waren, hielt er ihnen eine Rede, in welcher er von einer persönlichen Rache sprach, die befriedigt, von einem Siege, der errungen, von einem Joche, das abgeschüttelt werden mußte; zum Schlusse machte er sich anheischig, ihnen binnen zehn Minuten das Rathaus in die Hände zu liefern. Er komme soeben von dort, und es sei leer, versicherte er; wenn sie wollten, würde noch diese Nacht die rote Fahne vom Giebel des Rathauses flattern. Die Arbeiter berieten untereinander; zu dieser Stunde liege die Reaktion in den letzten Zügen, die Aufständischen ständen vor den Toren der Stadt; die Ehre gebiete, sich der Gewalt zu bemächtigen, ehe sie zurückkehren; dies werde gestatten, sie als Brüder zu empfangen, mit offenen Toren und geschmückten Straßen und Häusern. Überdies hatte niemand Mißtrauen gegen Macquart; sein Haß gegen die Rougon, die persönliche Rache, von der er sprach, bürgten für seine Aufrichtigkeit. Es wurde vereinbart, daß alle jene, die zu jagen pflegten und eine Flinte besaßen, ihre Waffen holen sollten und daß man sich um Mitternacht auf dem Rathausplatze treffen werde. Es gab allerdings ein kleines Hindernis, das sie stutzig machte: sie hatten keine Kugeln; doch sie beschlossen, ihre Gewehre mit Schrot zu laden, was schließlich auch überflüssig sei, da sie doch nicht auf einen Widerstand stoßen würden.

Wieder einmal sah Plassans bewaffnete Männer in den vom Monde erhellten Straßen die Häuser entlang huschen. Als die Bande vor dem Rathause versammelt war, trat Macquart kühn, aber vorsichtig offenen Auges hervor. Er klopfte an das Tor und als der Pförtner, der von Rougon abgerichtet worden, fragte, was man wolle, stieß der andere solche furchtbare Drohungen aus, daß der Pförtner ganz erschreckt tat und sogleich öffnete. Langsam taten sich die beiden Torflügel auf. Leer und hohl klaffte das weite Torgewölbe.

Da rief Macquart mit lauter Stimme:

Kommt, ihr Freunde!

Dies war das Signal. Er selbst trat rasch zur Seite und während die Republikaner hereinstürzten, blitzten vom finsteren Hofe her Flammen auf und krachten Schüsse, die unter der Torwölbung dumpf widerhallten. Das Tor spie den Tod. Erbittert durch das lange Warten, nach Erlösung von dem Alp lechzend, der in diesem finsteren Hofe sie bedrückte, hatten die Nationalgardisten in fieberhafter Hast alle zugleich ihre Flinten abgeschossen. Der Blitz war so hell, daß Macquart in dem fahlen Scheine des Schießpulvers deutlich sah, wie Rougon zu zielen suchte. Er glaubte den Lauf seines Gewehres auf sich gerichtet, erinnerte sich des Errötens Felicités und flüchtete, indem er brummte:

Nur keine Dummheiten! Der Schuft wäre imstande mich zu töten; er schuldet mir achthundert Franken.

Indes war in dem nächtlichen Dunkel ein Geheul entstanden. Die überraschten Republikaner schrien Verrat und schossen auch ihrerseits. Ein Nationalgardist fiel unter der Torwölbung; die Republikaner hatten drei Tote. Über die Leichen stolpernd ergriffen sie in tollem Schreck die Flucht und schrien durch die stillen Gassen: »Man tötet unsere Brüder!« – mit einer verzweifelten Stimme, die keinen Widerhall fand. Die Verteidiger der Ordnung hatten Zeit gefunden, ihre Gewehre wieder zu laden, stürmten wütend auf den leeren Platz hinaus und sandten Kugeln nach allen Straßenecken, nach allen Punkten, wo das Dunkel einer Pforte, der Schatten einer Laterne, der Vorsprung eines Ecksteines sie Aufständische vermuten ließ. Das währte etwa zehn Minuten, bis sie ihre Flinten in das Leere abgeschossen hatten.

Der Hinterhalt wirkte wie ein Donnerschlag in der schlafenden Stadt. Durch die höllische Schießerei aus dem Schlafe geweckt, hatten die Bewohner der benachbarten Straßen sich zähneklappernd in ihren Betten aufgesetzt. Um keinen Preis der Welt würden sie sich ans Fenster gewagt haben. Inmitten der Flintenschüsse, die durch die Nachtluft krachten, ertönte langsam das Sturmläuten einer Glocke der Kathedrale in einem so unregelmäßigen, seltsamen Rhythmus, daß es klang wie das Hämmern auf einen Amboß, oder wie ein riesiger Kessel, auf den ein zorniges Kind lospaukt. Diese heulende Glocke, welche die Bewohner nicht erkannten, entsetzte sie noch mehr als die Flintenschüsse; manche glaubten eine endlose Reihe von Kanonen über das Straßenpflaster rollen zu hören. Sie legten sich wieder nieder, streckten sich unter ihren Bettdecken aus, als sei es gefährlich gewesen, im Bett aufrecht zu sitzen; bis zum Kinn zugedeckt, den Atem zurückhaltend, machten sie sich ganz klein, während die Zipfel ihrer Kopftücher ihnen auf die Augen herabfielen und ihre Gattinnen an ihrer Seite angstvoll den Kopf in den Kissen vergruben.

Die auf den Wällen verbliebenen Nationalgardisten hatten ebenfalls die Schüsse gehört. Sie eilten in regellosen Haufen herbei, in der Meinung, daß die Aufständischen durch irgendeinen unterirdischen Gang in die Stadt eingedrungen seien. Mit dem Getöse ihres wilden Laufes störten sie die nächtliche Stille der Straßen. Roudier kam als einer der ersten an. Allein Rougon sandte sie auf ihre Posten zurück, indem er streng bemerkte, man dürfe nicht in solcher Weise die Tore einer Stadt verlassen. Betroffen von diesem Vorwurfe – denn in ihrem Schrecken hatten sie tatsächlich die Tore ohne Verteidiger gelassen – kehrten sie in vollem Laufe mit noch größerem Getöse auf ihren Posten zurück. Eine Stunde lang mochte Plassans glauben, daß eine Armee in wütendem Kriegsgetümmel durch die Stadt rase. Das Schießen, das Sturmläuten, das Hinundherlaufen der Nationalgardisten, ihre Waffen, die sie schleppten wie die Knüttel, ihre Schreckensrufe im nächtlichen Dunkel: all dies verursachte ein betäubendes Getöse, daß man glauben mochte, in einer überrumpelten und geplünderten Stadt zu sein. Dies gab den unglücklichen Bewohnern, die da wähnten, die Aufständischen seien wieder da, den Gnadenstoß; sie hatten ja gesagt, dies werde die letzte Nacht sein und Plassans werde noch vor Tagesanbruch in der Erde versinken oder in Rauch aufgehen. Wahnsinnig vor Angst harrten sie in ihren Betten der Katastrophe und wähnten Jeden Augenblick, daß ihre Häuser wankten.

Granoux bearbeitete noch immer die Sturmglocke. Als in der Stadt wieder Stille eingetreten war, klang dieses Läuten schauerlich. Rougon, der in fieberhafter Aufregung war, geriet durch dieses ferne Gebimmel außer sich. Er eilte zur Kathedrale, deren Türe er offen fand. Der Mesner stand auf der Schwelle.

Genug! Genug! schrie er dem Manne zu. Es klingt, als ob ein Mensch heult; es geht einem an die Nerven.

Es ist nicht meine Schuld, entgegnete der Küster mit verzweifelter Miene. Herr Granoux selbst ist in den Glockenturm hinaufgegangen. Ich hatte auf Befehl des Herrn Pfarrers den Klöppel entfernt, damit nicht Sturm geläutet werden könne, allein Herr Granoux wollte keine Vernunft annehmen und ist dennoch hinaufgestiegen; ich weiß wahrhaftig nicht, womit er den höllischen Lärm macht.

Rougon eilte die Stiege hinauf, die zu den Glocken führte, und schrie:

Genug! Genug! Um Gottes willen, hören Sie auf.

Oben angelangt sah er im Lichte eines Mondstrahles, der durch das Zackenwerk eines Fensterbogens hereinfiel, Granoux, wie er ohne Hut, wütend mit einem großen Hammer losschlug. Mit allen Kräften widmete er sich diesem Geschäfte. Er warf sich zurück, nahm einen Anlauf und stürzte sich auf die Bronze, als wollte er sie spalten. Seine ganze dicke Gestalt zog sich zusammen; wenn er sich auf die große, unbewegliche Glocke gestürzt hatte, ließen die Tonschwingungen ihn zurückweichen, und er warf sich mit erneuerter Wut auf die Glocke. Man glaubte einen Schmied zu sehen, der auf ein glühendes Eisen loshämmert, aber einen Schmied im Leibrock, kurz und kahl, in ungeschickter, drohender Haltung.

 

Vor Überraschung stand Rougon einen Augenblick vor diesem verteufelten Spießbürger, der im Mondenschein mit einer Glocke kämpfte. Jetzt verstand er das Kesselgetöse, mit welchem dieser seltsame Glöckner die Stadt erfüllte. Er mußte ihn bei den Rockschößen fassen, und als Granoux ihn erkannte, rief er in triumphierendem Tone:

Habt ihr gehört? Anfänglich versuchte ich mit den Fäusten auf die Glocke einzuhauen, aber das tat mir weh. Glücklicherweise fand ich diesen Hammer. Noch einige Schläge, nicht wahr?

Doch Rougon schleppte ihn fort. Granoux strahlte von Stolz. Er trocknete sich den Schweiß von der Stirne und nahm seinem Genossen das Versprechen ab, in der Stadt zu verlautbaren, daß er mit einem bloßen Hammer den Höllenlärm hervorgebracht habe. Welche Bedeutung mußte dieses wütende Geläute ihm künftig verleihen!

Gegen Tagesanbruch dachte Rougon daran, Felicité zu beruhigen. Auf seinen Befehl hatten die Nationalgardisten sich im Rathause eingeschlossen; er hatte verboten, die Toten vom Straßenpflaster aufzulesen, unter dem Vorwande, daß der Bevölkerung des alten Stadtviertels ein Beispiel geliefert werden müsse. Als er, um nach der Banne-Straße zu eilen, wo er wohnte, über den Rathausplatz schritt, trat er auf die Hand einer Leiche, die zusammengeballt am Rande des Bürgersteiges lag. Er wäre dabei schier hingefallen. Diese weiche Hand, die sein Stiefelabsatz zerquetschte, verursachte ihm ein unerklärliches Gefühl des Ekels und Abscheues. Mit großen Schritten eilte er durch die öden Straßen und er glaubte hinter seinem Rücken eine blutige Faust zu fühlen, die ihn verfolgte.

Vier liegen am Boden, sagte er zu Hause angekommen.

Sie betrachteten einander, gleichsam erstaunt über ihr Verbrechen. Das Lampenlicht verlieh ihrer Blässe die Farbe des Wachses.

Hast du sie liegen lassen? fragte Felicité. Man muß sie da liegen lassen, wo sie gefallen sind.

Ich habe sie nicht aufgelesen, sie liegen auf dem Rücken, erwiderte er. Ich bin auf etwas Weiches getreten …

Er betrachtete seinen Stiefel. Der Absatz war voll Blut. Während er die Schuhe wechselte, sagte Felicité:

Ganz recht so; nun wird man doch nicht sagen, daß du in die Spiegel schießest.

Die Schießerei, welche die Rougon ersonnen hatten, um endgültig als die Retter von Plassans anerkannt zu werden, legte ihnen die entsetzte und dankbare Stadt zu Füßen. Düster und trübselig wie die Wintertage sind, brach der Morgen an. Die Bürger, die nichts mehr hörten und es müde geworden waren, in ihren Betten zu zittern, wagten sich heraus. Es kamen ihrer zehn, fünfzehn zum Vorschein; hernach, als ruchbar wurde, daß die Aufständischen die Flucht ergriffen und in allen Gassen Tote zurückgelassen hatten, erhob sich ganz Plassans und strömte auf dem Marktplatz zusammen. Den ganzen Vormittag machten die Neugierigen die Runde um die vier Toten. Sie waren furchtbar verstümmelt, besonders einer, der drei Kugeln im Kopfe hatte; hob man den Schädel auf, so konnte man das Gehirn bloßliegen sehen. Am furchtbarsten war der Nationalgardist anzuschauen, der unter der Torwölbung gefallen war. Er hatte eine ganze Ladung Schrot ins Gesicht bekommen; dieses Gesicht war voll mit Löchern und triefte von Blut. Die Menge weidete sich lange an diesen Scheußlichkeiten mit der Neugierde der Feiglinge für widrige Schauspiele dieser Art. Man erkannte den Nationalgardisten; es war der Wurstmacher Dubruel, den Roudier am Montag morgen beschuldigt hatte, besonders heftig geschossen zu haben. Von den drei anderen Toten waren zwei Hutmacher, der dritte blieb unbekannt. Vor den roten Pfützen, die das Pflaster beschmutzten, standen Gruppen, gaffend und zitternd, von Zeit zu Zeit argwöhnisch hinter sich blickend, als ob diese summarische Justiz, die im Finstern mit Gewehrschüssen die Ordnung hergestellt hatte, sie beobachtete, ihre Worte und Gebärden erspähte, bereit auch sie niederzustrecken, wenn sie nicht mit Begeisterung die Hand küssen wollten, die sie aus der Gewalt der Volksherrschaft errettet hatte.

Der Schrecken der Nacht steigerte noch den furchtbaren Eindruck, den am Morgen der Anblick der vier Leichenhervorgebracht hatte. Die wahre Geschichte dieses kleinen Nachtgefechtes wurde nie bekannt. Die Schüsse der Kämpfenden, Granoux' Glockenschläge, der tolle Lauf der Nationalgardisten durch die Straßen: sie hatten die Ohren mit so fürchterlichem Lärm erfüllt, daß die meisten noch immer von einer Riesenschlacht träumten, die einer unermeßlichen Anzahl von Feinden geliefert war. Als die Sieger in unbewußter Prahlerei die Zahl ihrer Gegner vergrößernd, von ungefähr fünfhundert Mann sprachen, ward dies heftig bestritten und es gab Bürger, die da behaupteten, von ihrem Fenster eine Stunde hindurch die Menge der Flüchtigen beobachtet zu haben. Übrigens wollten alle den wilden Lauf der Banditen unter ihren Fenstern gehört haben. Unmöglich hätten fünfhundert Mann eine ganze Stadt so plötzlich aus ihrer Ruhe aufscheuchen können. Es war eine Armee, eine vollständige und große Armee, durch die tapfere Bürgerwehr von Plassans hinweggefegt. Das Wort »hinweggefegt« fand man sehr zutreffend; denn die mit der Verteidigung der Stadtwälle betrauten Posten schworen bei allen großen Göttern, daß kein einziger Mann herein- noch hinausgekommen sei. Dieser Umstand verlieh der Waffentat noch einen Schimmer von Geheimnis; man dachte an gehörnte Teufel, die sich in die Flammen stürzten; kurz, die Geister gerieten vollends auf Abwege. Allerdings schwiegen die Posten von ihrem wütenden Galopp durch die Stadt. Darum hielten sich selbst die vernünftigsten Leute an den Gedanken, daß eine Aufrührerbande bei einer Bresche oder durch irgendein Loch eingedrungen sein müsse. Später munkelte man von Verrat, von einem Hinterhalte; die Leute, die Macquart auf die Schlachtbank geführt, konnten die grause Wahrheit allerdings nicht erfassen; aber es herrschte noch ein solcher Schrecken, der Anblick des Blutes hatte der Reaktion eine solche Anzahl von Feiglingen zugeführt, daß man diese Gerüchte der Wut der besiegten Republikaner zuschrieb. Von anderer Seite wurde behauptet, daß Macquart der Gefangene Rougons sei, daß dieser ihn in einem feuchten Verlies gefangen halte und daselbst eines langsamen Hungertodes sterben lasse. Diese Schreckensmär bewirkte, daß Rougon mit ehrerbietigsten Bücklingen begrüßt wurde.

So kam es, daß dieser plumpe, schlappe, bleiche, dickwanstige Spießbürger in einer Nacht zu einem furchtbaren Herrn wurde, über den niemand zu lachen wagte. Er hatte im Blute gewatet. Die Bevölkerung der Altstadt blieb angesichts der Toten stumm vor Entsetzen. Doch gegen zehn Uhr, als die vornehmeren Leute aus der Neustadt kamen, hörte man auf dem Rathausplatze halblaute Gespräche, unterdrückte Ausrufe. Man sprach von dem anderen Angriff, von jener Einnahme des Rathauses, bei der bloß ein Spiegel zertrümmert worden war; und jetzt scherzte man nicht mehr über Rougon, man nannte seinen Namen mit ehrerbietigem Schreck; er war wirklich ein Held, ein Retter. Die Leichen starrten mit ihren offenen Augen auf die Herren Advokaten und Rentenbesitzer, die zusammenschauerten, indem sie sich sagten, daß der Bürgerkrieg seine traurigen Notwendigkeiten habe. Der Notar, der gestern die Abordnung der Bürger nach dem Rathause geführt hatte, ging von Gruppe zu Gruppe und erzählte von dem »Ich bin bereit« des energischen Mannes, dem man das Heil der Stadt verdankte. Alle hatten sich ergeben. Die sich über die Einundvierzig am grausamsten lustig gemacht, besonders die, die Rougon Ränkestifter und Feiglinge genannt hatten, die nur in die Luft schießen, sprachen zuerst davon, einen Lorbeerkranz »dem großen Manne zu widmen, der Plassans zu ewigem Ruhme gereichen werde«. Denn die Blutlachen trockneten auf dem Straßenpflaster; die Toten kündeten durch ihre Wunden, bis zu welcher Kühnheit die Partei der Unordnung, der Plünderung, des Mordes gediehen war, und welcher starken Hand es bedurfte, um den Aufstand zu unterdrücken.

Granoux nahm in der Menge Beglückwünschungen und Händedrücke entgegen. Die Geschichte mit dem Hammer war bekannt geworden. Vermöge einer harmlosen Lüge, an die er selbst bald zu glauben begann, gab er vor, daß er zuerst die Aufständischen gesehen und Sturm geläutet habe; sei er nicht gewesen, so wären die Nationalgardisten niedergemetzelt worden. Dies verdoppelte noch seine Wichtigkeit. Sein Auskunftsmittel wurde als wunderbar bezeichnet. Man nannte ihn nur mehr »Herr Isidor; der Herr, der mit dem Hammer Sturm geläutet hat«. Obgleich der Satz etwas lang war, würde Herr Granoux ihn gern als Adelstitel angenommen haben; man konnte fortan das Wort »Hammer« nicht vor ihm aussprechen, ohne daß er an eine zarte Schmeichelei glaubte.

In dem Augenblick, als man die Leichen fortschaffte, kam Aristide hinzu, um zu sehen. Er betrachtete die Leichen von allen Seiten, forschte und schnupperte herum, befragte alle Gesichter. Seine Miene war ruhig, seine Augen hell. Mit seiner gestern noch verbundenen, jetzt freien Hand hob er die Bluse eines der Toten in die Höhe, um die Wunde besser betrachten zu können. Diese Prüfung schien ihn zu überzeugen, ihm jeden Zweifel zu benehmen. Er kniff die Lippen zusammen und stand eine Weile wortlos da: dann ging er, um die Ausgabe des »Unabhängigen« zu beschleunigen, in dem er einen großen Artikel veröffentlichte. Während er die Häuser entlang dahinschritt, erinnerte er sich des Wortes seiner Mutter: »Morgen sollst du sehen.« Was er gesehen, war sehr stark; es schreckte ihn sogar ein wenig. Indes begann Rougon sich in seinem Siege unbehaglich zu fühlen. Im Kabinett des Herrn Garçonnet allein, das dumpfe Geräusch der Menge hörend, hatte er eine seltsame Empfindung, die ihn abhielt, sich auf dem Balkon zu zeigen. Das Blut, in dem er gewatet, machte ihm die Beine schwer. Er fragte sich, was er bis zum Abend anfangen solle. Sein armer, leerer Kopf, durch die Krise der Nacht völlig verstört, suchte verzweifelt eine Beschäftigung, eine Weisung, die er erteilen, eine Maßregel, die er ergreifen könne und die ihn zerstreuen werde. Aber er wußte nichts mehr. Wohin führte ihn Felicité? War es jetzt aus oder wird er noch mehr Leute töten müssen? Die Furcht erfaßte ihn wieder: schreckliche Zweifel tauchten in ihm auf; schon sah er die Stadtmauern auf allen Seiten von der rächenden Armee der Republikaner beschossen, als ein ungeheurer Schrei: »Die Aufständischen, die Aufständischen!« unter den Fenstern des Rathauses ertönte. Er fuhr auf und hob einen Vorhang in die Höhe. Da konnte er die Menge verzweifelt über den Platz rennen sehen. Bei diesem Donnerschlag sah er sich in weniger denn einer Sekunde ruiniert, geplündert, ermordet; er fluchte seiner Frau, er fluchte der ganzen Stadt. Als er einen Ausweg suchend, mißtrauisch um sich blickte, hörte er das Volk in einen Jubel ausbrechen, daß die Scheiben erzitterten. Er trat wieder ans Fenster; die Frauen ließen ihre Tücher flattern, die Männer sanken einander in die Arme; einige faßten sich bei den Händen und tanzten. Er war ganz blöde, begriff nichts von all dem, sein armer Kopf drehte sich im Kreise, er fühlte sich furchtbar geängstigt in diesem großen, öden, stillen Rathause.

Als Rougon später seiner Frau beichtete, vermochte er niemals zu sagen, wie lange seine Marter gedauert hatte. Er erinnerte sich bloß, daß laute Tritte, die in den weiten Sälen widerhallten, ihn aus seiner Bestürzung geweckt hatten. Er erwartete die mit Sensen und Knütteln bewaffneten Blusenmänner und sah die Gemeindevertretung eintreten, ehrsam, schwarz gekleidet, mit strahlender Miene. Nicht ein Mitglied fehlte. Eine glückliche Nachricht hatte alle die Herren mit einem Male geheilt. Granoux warf sich seinem teuren Präsidenten in die Arme.

Die Soldaten sind da! stammelte er; die Soldaten!

In der Tat war ein Regiment eingetroffen, das den Befehlen des Obersten Masson und des Bezirkspräfekten, Herrn von Blériot gehorchte. Die von den Wällen in der fernen Ebene wahrgenommenen Gewehre hatten anfänglich den Glauben erweckt, daß die Aufständischen sich näherten. Die Erregung Rougons war so groß, daß zwei schwere Tränen ihm über die Wangen rannen. Der große Bürger weinte! Die Gemeindevertretung sah mit respektvoller Bewunderung diese Tränen. Doch Granoux warf sich von neuem seinem Freunde an den Hals und rief:

 

Wie glücklich bin ich! Sie wissen, ich bin ein freier Mann. Nun denn: wir alle hatten Furcht; nicht wahr, meine Herren, wir alle? Sie allein waren groß, mutig, erhaben. Welche Energie mußten Sie besitzen! Ich sagte vorhin zu meiner Frau: Rougon ist ein großer Mann; er verdient eine Auszeichnung.

Jetzt schlugen die Herren vor, dem Präfekten entgegen zu gehen. Betäubt, fassungslos, an einen so plötzlichen Triumph nicht glauben wollend, stammelte Rougon wie ein Kind. Jetzt erst kam er wieder zu Atem. Ruhig, und mit der Würde, welche die feierliche Gelegenheit erheischte, ging er hinab. Doch die Begeisterung, mit der die Gemeindevertretung und deren Obmann auf dem Rathausplatze empfangen wurden, brachte diesen Würdenträger abermals in Verwirrung. Sein Name machte die Runde in der Menge, diesmal von den wärmsten Lobsprüchen begleitet. Er hörte ein ganzes Volk den Wunsch Granoux' wiederholen, ihn wie einen Helden zu feiern, der inmitten des allgemeinen Schreckens allein unerschütterlich aufrecht geblieben. Und bis zum Platze vor der Unterpräfektur, wo die Vertretung dem Präfekten begegnete, genoß er seine Volkstümlichkeit, seinen Ruhm mit der geheimen Wonne eines verliebten Weibes, dessen Begierden endlich befriedigt wurden.

Herr von Bleriot und der Oberst Masson kamen allein in die Stadt und ließen die Truppe auf der Lyoner Straße kampieren. Über die Richtung des Marsches der Aufständischen getäuscht, hatten sie erheblich Zeit verloren. Übrigens wußten sie jetzt, daß die Aufständischen in Orchères seien, und wollten sich nur eine Stunde in Plassans aufhalten, um die Bevölkerung zu beruhigen und die grausamen Befehle zu veröffentlichen, welche die Beschlagnahme des Vermögens der Aufständischen verfügten und allen jenen, die mit den Waffen in der Hand ergriffen würden, mit der Todesstrafe drohten. Der Oberst Masson lächelte, als der Kommandant der Nationalgarde die rostigen Riegel von dem römischen Tor unter lautem Knarren zurückschieben ließ. Der Posten gab dem Präfekten und dem Obersten als Ehrenwache das Geleite. Unterwegs über die ganze Promenade Sauvaire erzählte Roudier den Herren von der Heldentat Rougons, von den drei Schreckenstagen, die mit dem glanzvollen Siege der letzten Nacht endeten. Als dann die beiden Gruppen einander gegenüberstanden, schritt Herr von Blériot lebhaft auf den Obmann der Gemeindevertretung zu, drückte ihm die Hände, beglückwünschte ihn und bat ihn, noch bis zur Rückkehr der Behörden über die Stadt zu wachen. Rougon grüßte, während der Präfekt an dem Tore der Präfektur, wo er einen Augenblick ausruhen wollte, mit lauter Stimme versicherte, er werde es nicht unterlassen, in seinem Berichte der schönen und mutigen Haltung Rougons zu gedenken.

Inzwischen stand trotz der schneidenden Kälte die ganze Bevölkerung an den Fenstern. Felicité, die sich soweit vorneigte, daß sie schier hinausfiel, war bleich vor Freude. Soeben war Aristide mit einer Nummer des »Unabhängigen« angekommen, in der er sich rundheraus für den Staatsstreich erklärte, den er als »die Morgenröte der Freiheit in der Ordnung und der Ordnung in der Freiheit« begrüßte. Auch hatte er eine leise Anspielung auf den gelben Salon gemacht, hatte sein Unrecht bekannt und gesagt: »die Jugend sei dünkelhaft, die großen Bürger aber schweigen, überlegen im stillen, lassen die Beschimpfungen über sich ergehen, um sich am Tage des Kampfes in ihrem Heldenmut aufzurichten.« Er war mit dem letzten Satze ganz besonders zufrieden. Seine Mutter fand den Artikel vorzüglich geschrieben. Sie küßte den lieben Sohn und wies ihm zu ihrer Rechten einen Platz an. Der Marquis von Carnavant, der müde der Einsamkeit und von der Neugierde getrieben ebenfalls zu Besuch gekommen war, lehnte sich zu ihrer Linken an das Fenster.

Als Herr von Blériot auf dem Marktplatze Peter die Hand reichte, brach Felicité in Tränen aus.

Ach schau nur, schau! sagte sie zu Aristide. Er hat ihm die Hand gedrückt. Schau, wieder ergreift er seine Hand.

Während sie nach den Fenstern ausblickte, wo die Leute Kopf an Kopf standen, fuhr sie fort:

Wie müssen sie sich ärgern. Schau nur die Frau des Herrn Peirotte: sie beißt ordentlich in ihr Taschentuch. Und dort die Töchter des Notars, und weiterhin Frau Massicot und die Familie Brunet: welche Gesichter! Wie ihre Nasen lang werden! Ach ja, jetzt ist unsere Zeit gekommen! Sie folgte der Szene am Tore der Unterpräfektur mit Wonne; ein Zucken ging durch ihren unruhigen Heuschreckenleib. Sie deutete die geringsten Gebärden; sie erfand die Worte, die sie nicht hören konnte; sie sagte, daß Peter sehr schicklich grüße. Einen Augenblick war sie verdrossen, als der Präfekt das Wort an den armen Granoux richtete, der nach einem Lobe lechzend ihn umkreiste. Ohne Zweifel kannte Herr von Blériot schon die Geschichte mit dem Hammer; der ehemalige Mandelhändler errötete wie ein Mädchen und schien zu sagen, daß er nur seine Pflicht getan habe. Was sie noch mehr ärgerte, war die übergroße Güte ihres Gatten, der Vuillet den Herren vorstellte; allerdings hatte sich Vuillet herangedrängt, und Rougon war gezwungen, ihn zu nennen.

Welch ein Ränkeschmied! brummte Felicité. Überall schleicht er sich ein … Mein armer Mann muß in arger Verlegenheit sein! … Jetzt spricht der Oberst mit ihm. Was er ihm wohl sagen mag?

Ei, Kleine, erwiderte der Marquis mit feiner Ironie, er macht ihm Komplimente, weil er die Stadttore so fest hatte schließen lassen.

Mein Vater hat die Stadt gerettet, bemerkte Aristide in trockenem Tone. Haben Sie die Leichen gesehen, mein Herr?

Herr von Carnavant antwortete nicht. Er trat vom Fenster zurück und setzte sich in einen Lehnstuhl, wobei er mit einer Miene des Verdrusses den Kopf schüttelte. Da der Präfekt inzwischen den Platz verlassen hatte, eilte jetzt auch Peter herbei. Er warf sich seiner Frau an den Hals und stammelte:

Ach, Beste! …

Mehr vermochte er nicht zu sagen. Felicité drängte ihn, daß er auch Aristide umarme; sie erzählte ihm von dem herrlichen Artikel des »Unabhängigen«. Peter würde in seiner tiefen Rührung auch den Marquis auf beide Wangen geküßt haben; allein seine Frau nahm ihn beiseite und gab ihm Eugens Brief, den sie wieder in den Umschlag gesteckt hatte. Sie behauptete, man habe den Brief soeben gebracht. Peter reichte ihn ihr, nachdem er ihn gelesen, mit triumphierender Miene und sagte lachend:

Du bist eine Zauberin. Du hast alles erraten. Welche Dummheit hätte ich ohne dich begangen! Künftig wollen wir unsere Angelegenheiten zusammen erledigen. Küsse mich, du bist eine wackere Frau.

Er schloß sie in seine Arme, während sie mit dem Marquis ein verstohlenes Lächeln tauschte.