50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Vier­und­neunzig

Erst am Sonntag, drei Tage nach dem Gemetzel bei Sainte-Roure, zogen die Truppen wieder durch Plassans. Der Präfekt und der Oberst, die Herr Garçonnet zum Essen geladen hatte, kamen allein in die Stadt. Die Soldaten umgingen die Wälle und lagerten sich in der Vorstadt, auf der Nizzaer Straße. Die Nacht senkte sich herab; am Himmel, der seit dem Morgen bewölkt war, zeigte sich ein seltsamer gelber Widerschein, der ein fahles Licht auf die Stadt warf gleich den kupferschimmernden Lichtern bei Gewitterschwüle. Der Empfang seitens der Bürger war ein zurückhaltender; die noch bluttriefenden Soldaten, die müde und stumm in dem schmutzigen Abenddunkel durch die Stadt zogen, widerten die sauberen Kleinbürger an der Promenade Sauvaire an; die Herren wichen zurück und erzählten sich halblaut Schauergeschichten von Erschießungen, grausamen Vergeltungen, deren Erinnerung das Land bewahrt hatte. Es begann der Schrecken, den der Staatsstreich verbreitete, eine wahnsinnige, niederschmetternde Furcht, die den Süden des Landes Monate hindurch zittern ließ. In ihrem Entsetzen und ihrem Haß gegen die Aufständischen hatte die Stadt Plassans die Truppen bei ihrem ersten Durchzug mit Begeisterung aufnehmen können; zu dieser Stunde aber, angesichts dieses Unheil kündenden Regiments, das auf einen Wink seines Befehlshabers feuerte, fragten sich die Rentenbesitzer und selbst die Notare der Neustadt beklommen, ob sie nicht irgendein politisches Vergehen auf dem Gewissen hätten, das sie vor die Gewehrläufe bringen könnte.

Seit gestern waren auch die Behörden wieder da; zwei Wagen hatten sie von Sainte-Roure zurückgebracht. Ihre unerwartete Rückkehr war keineswegs ein Triumphzug. Rougon überließ ohne große Betrübnis dem Bürgermeister seinen Lehnsessel wieder. Der Streich war gelungen; er erwartete mit Ungeduld aus Paris den Lohn für seinen Bürgersinn. Am Sonntag erhielt er von seinem Sohn Eugen einen Brief, den er erst für den nächsten Tag erwartet hatte. Felicité war schon am Donnerstag darauf bedacht gewesen, ihrem Sohne die Nummern der »Zeitung« und des »Unabhängigen« einzusenden, die in einer zweiten Ausgabe die nächtliche Schlacht und die Rückkehr des Präfekten erzählten. Eugen antwortete mit der nächsten Post, daß die Ernennung seines Vaters für eine Einnehmerstelle bevorstehe; aber er wolle ihm sogleich eine gute Nachricht übermitteln: er habe für ihn das Band der Ehrenlegion erlangt. Felicité weinte vor Freude. Ihr Mann dekoriert! In ihren stolzesten Träumen war sie nicht so weit gegangen. Blaß vor Freude sagte Rougon, man müsse noch am selben Tage ein großes Essen geben. Er rechnete nicht mehr; er war bereit, um diesen schönen Tag zu feiern, seine letzten Hundertsousstücke zum Fenster hinauszuwerfen.

Höre, sagte er seiner Frau, du wirst Sicardot einladen; lange genug ärgert er mich schon mit seiner Rosette im Knopfloche. Ferner Granoux und Roudier, denen ich es gern zu verstehen geben möchte, daß ihr Reichtum ihnen niemals zu einer Auszeichnung verhelfen wird. Vuillet ist ein Wucherer; aber der Triumph soll ein vollständiger sein, lade ihn ein, ebenso die ganze Brut … Den Marquis wirst du persönlich verständigen; wir werden ihn zu deiner Rechten setzen, er wird an unserem Tische eine sehr gute Figur machen. Der Oberst und der Präfekt sind bei Herrn Garçonnet zu Gaste. Er will mir damit zu verstehen geben, daß ich nichts mehr bin. Aber ich mache mir nichts aus seiner Bürgermeisterei; sie bringt ihm nicht einen Sou ein. Er hat mich eingeladen; aber ich werde sagen, daß ich selbst Gäste habe. Sie sollen morgen vor Neid bersten … Und karge heute nicht, laß alles aus dem Hotel de Provence bringen. Das Essen des Bürgermeisters muß ganz zurücktreten.

Felicité machte sich ans Werk. Peter hatte inmitten seines Entzückens doch eine stille Sorge. Der Staatsstreich sollte seine Schulden bezahlen, sein Sohn Aristide bereute seine Fehler; auch wurde er, Peter, endlich Macquart los. All dies war sehr erfreulich; aber er fürchtete irgendeine Torheit von seiten seines Sohnes Pascal. Auch war er um das Schicksal Silvères besorgt; nicht als ob er ihn im geringsten bedauert hätte; er fürchtete bloß, daß die Sache mit dem Gendarm vor das Strafgericht kommen könne. Ach, wenn eine gescheite Kugel ihn von diesem Schlingel befreit hätte! Wie seine Frau schon am Morgen bemerkt hatte, waren die Hindernisse vor ihm gefallen; diese Familie, die ihn entehrte, hatte im letzten Augenblick an seiner Erhebung gearbeitet. Seine Söhne, Eugen und Aristide, die ihn kahl gegessen hatten und deren Schulgeld er so oft beklagt hatte, bezahlten endlich die Zinsen des Kapitals, das er an ihren Unterricht gewendet hatte. Jetzt mußte der Gedanke an diesen erbärmlichen Silvère ihm diese Stunde des Triumphes verbittern!

Während Felicité sich um die Zurüstungen zu dem Essen kümmerte, erfuhr Peter die Ankunft der Truppe und entschloß sich, Erkundigungen einzuholen. Sicardot, den er bei seiner Rückkehr befragte, wußte nichts; Pascal schien zur Pflege der Verwundeten zurückgeblieben zu Sein, und was Silvère betrifft, so hatte ihn der Major, der ihn nur oberflächlich kannte, nicht gesehen. Rougon begab sich nach der Vorstadt; er wollte bei dieser Gelegenheit Macquart die achthundert Franken geben, die er mit vieler Mühe soeben zusammengescharrt hatte. Doch als er sich unter der lagernden Menge befand, als er aus der Ferne die Gefangenen sah, die in langen Reihen auf den Balken des Saint-Mittre-Feldes saßen, von den Soldaten mit dem Gewehr im Arm bewacht, fürchtete er sich zu kompromittieren und eilte verstohlen zu seiner Mutter, mit der Absicht, die alte Frau um Nachrichten auszusenden.

Als er die Hütte betrat, war es fast vollständige Nacht. Er sah anfänglich nur Macquart, der sich mit Rauchen und Trinken die Zeit vertrieb.

Du bist's? Du kommst gerade recht, sagte Antoine, seinen Bruder wieder duzend. Ich werde hier alt und grau vor Langweile. Hast du das Geld?

Doch Peter antwortete nicht. Er hatte seinen Sohn Pascal wahrgenommen, der über das Bett gebeugt stand. Er befragte ihn lebhaft. Überrascht von dieser Besorgtheit, die er anfänglich der väterlichen Zärtlichkeit zuschrieb, erwiderte der Arzt ruhig, die Soldaten hätten ihn ergriffen und würden ihn erschossen haben ohne die Dazwischenkunft eines wackeren Mannes, den er nicht kenne. Durch seinen Doktortitel gerettet, sei er mit der Truppe zurückgekehrt. Dies war für Rougon eine große Erleichterung. Wieder einer, der ihn nicht kompromittieren wird. Er bekundete seine Freude durch wiederholte Händedrücke, als Pascal mit trauriger Stimme schloß:

Du hast keinen Grund, dich zu freuen, ich finde meine arme Großmutter in einem sehr schlimmen Zustande. Ich habe ihr diesen Karabiner wiedergebracht, der ihr so teuer ist; aber ich habe sie regungslos daliegend gefunden. Schau selbst!

Peters Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Im letzten Scheine des sinkenden Tages sah er Tante Dide tot und starr auf dem Bette liegen. Dieser arme Leib, den seit der Wiege Nervenanfälle unterwühlten, war einer letzten heftigen Krise erlegen. Die Nerven hatten gleichsam das Blut aufgezehrt. Die geheime Arbeit dieses erregten Fleisches, das in später Keuschheit sich selbst verzehrte und erschöpfte, ging zu Ende und machte aus der Unglücklichen einen Leichnam, den nur noch elektrische Zuckungen galvanisierten. Zur Stunde schien ein furchtbarer Schmerz die langsame Auflösung ihres Wesens beschleunigt zu haben. Ihr bleiches Nonnengesicht, dieses Gesicht eines durch das Dunkel und die klösterlichen Entsagungen mürbe gemachten Weibes, färbte sich mit roten Flecken. Mit verzerrtem Gesichte, schrecklich weit offenen Augen, auswärts gekehrten und gekrümmten Händen, lag sie ausgestreckt da in ihren Röcken, die in dürren Linien die Magerkeit ihrer Glieder zeichneten. Die Lippen zusammengekniffen bot sie in dieser dunklen Stube das furchtbare Bild eines stummen Todeskampfes. Rougon machte eine unmutige Gebärde. Dieses ergreifende Schauspiel war ihm sehr unangenehm; er hatte Gäste zum Essen und wäre trostlos gewesen, müßte er traurig sein. Daß seine Mutter doch immer etwas Neues fand, um ihm Verlegenheiten zu bereiten! Sie hätte doch wohl einen andern Tag wählen können. Er nahm denn auch eine ruhige Miene an und sagte:

Es wird nichts sein. Ich habe sie hundertmal so gesehen. Man muß ihr Ruhe gönnen, das ist die einzige Arznei.

Pascal schüttelte den Kopf.

Nein; diese Krise gleicht nicht den anderen, murmelte er. Ich habe sie oft beobachtet und niemals solche Anzeichen wahrgenommen. Betrachte ihre Augen: sie sind von einer seltsamen Flüssigkeit, von einer sehr beunruhigenden Klarheit. Und die Maske! Welch eine furchtbare Verzerrung aller Muskel!

Dann beugte er sich noch mehr vor, prüfte die Züge aus unmittelbarer Nähe und fuhr mit leiser Stimme fort, als spreche er mit sich selbst:

Solche Gesichter habe ich nur bei Ermordeten gesehen, die im größten Entsetzen starben … Sie muß eine furchtbare Aufregung gehabt haben.

Aber wie ist denn der Anfall gekommen? fragte Rougon ungeduldig, weil er nicht mehr wußte, wie er die Stube verlassen sollte.

Pascal wußte es nicht. Macquart erzählte, indem er sich ein frisches Gläschen einschenkte, daß er Durst gehabt und die Alte um eine Flasche Kognak gesandt habe. Sie war nur kurze Zeit fort gewesen; als sie heimgekehrt, war sie starr und wortlos zu Boden gesunken; er selbst habe sie zum Bett tragen müssen.

Mich wundert, sagte er zum Schlusse, daß sie in ihrem Falle die Flasche nicht zerbrach. Der junge Arzt sann nach. Nach kurzem Stillschweigen fuhr er fort:

Auf dem Wege hierher vernahm ich zwei Schüsse. Vielleicht haben diese Elenden wieder einige Gefangene erschossen. Wenn sie in jenem Augenblicke durch die Reihen der Soldaten schritt, kann der Anblick des Blutes sie in diese Krise gestürzt haben … Sie muß fürchterlich gelitten haben.

 

Glücklicherweise hatte er seinen kleinen Rettungskasten, den er seit dem Aufbruch der Aufständischen stets bei sich trug. Er versuchte, einige Tropfen einer rosafarbenen Flüssigkeit der Alten zwischen den zusammengepreßten Zähnen einzuflößen. Inzwischen fragte Macquart seinen Bruder abermals:

Hast du das Geld?

Ja, ich habe es mitgebracht, wir wollen ein Ende machen, erwiderte Rougon, froh über diese Abschweifung.

Als Macquart sah, daß er bezahlt werden solle, begann er zu ächzen. Zu spät hatte er die Folgen seines Verrates erfaßt; sonst würde er eine zwei- und dreifach so große Summe gefordert haben. Er beklagte sich. Wahrhaftig, tausend Franken seien nicht genug. Seine Kinder hätten ihn verlassen, er sei allein in der Welt und müsse fort aus Frankreich. Von der Verbannung redend, brach er schier in Tränen aus.

Wollt Ihr die achthundert Franken? fragte Rougon, den es drängte, dieses Haus zu verlassen.

Nein, wahrhaftig, du mußt das Doppelte geben. Deine Frau hat mich herumgekriegt. Hätte sie mir gerade herausgesagt, was sie von mir erwartete, ich würde mich um so wenig niemals kompromittiert haben.

Rougon legte die achthundert Franken in Gold auf den Tisch hin.

Ich schwöre Euch, daß ich nicht mehr habe, sprach er. Ich werde später an Euch denken. Aber jetzt geht, um Gottes willen! Macht Euch fort noch heute abend! .

Unter halblautem Klagen und Schelten trug Macquart den Tisch zum Fenster, um da, bei dem schwindenden Tageslichte die Goldstücke zu zählen. Er ließ die Münzen auf den Tisch fallen; sie kitzelten ihm wonnig die Fingerspitzen und klangen so hell in der dunklen Stube. Er unterbrach sich einen Augenblick, um zu sagen:

Du hast mir eine Stelle versprechen lassen, vergiß nicht. Ich will nach Frankreich zurückkehren. Eine Feldhüterstelle in einer schönen Gegend, die ich selbst mir wählen würde, wäre mir gerade recht …

Ja, ja, abgemacht, erwiderte Rougon. Habt Ihr achthundert Franken gezählt?

Macquart begann von neuem zu zählen. Die letzten Louisdors klangen, als ein grelles Gelächter ihn zwang, den Kopf zu wenden. Tante Dide stand aufrecht vor ihrem Bette, mit offenem Kleide, die weißen Haare lose herabfällend, das bleiche Gesicht rote Flecke zeigend. Pascal hatte vergebens versucht, sie zurückzuhalten. Die Arme ausstreckend, von einem gewaltigen Fieberfrost geschüttelt bewegte sie im Fieberwahn den Kopf.

Das Blutgeld! Das Blutgeld! rief sie wiederholt. Ich habe das Gold gehört … Und sie sind es, die ihn verkauft haben! … Ha, die Mörder, die Wölfe! …

Sie warf die Haare zurück und strich mit der Hand über die Stirne, wie um darin zu lesen. Dann fuhr sie fort:

Ich sah ihn seit langer Zeit, die Stirne von einer Kugel durchlöchert. In meinem Kopfe gab es immer Leute, die mit Flinten in der Hand ihm auflauerten. Und sie winkten mir, daß sie schießen wollen … Es ist abscheulich! … Ich fühle, wie sie mir die Glieder brechen und den Schädel aushöhlen. Oh, Gnade, Gnade! Ich bitte euch! Er soll sie nicht mehr sehen, nicht mehr lieben! Ich will ihn einsperren … ich will ihn verhindern, an ihren Röcken zu hängen … Gnade, Gnade! … Schießet nicht! … Es ist nicht meine Schuld … wenn ihr wüßtet …

Sie war fast in die Knie gesunken, weinte und flehte und streckte die zitternden Hände gegen irgendein schauerliches Bild aus, das ihr im Schatten auftauchte. Plötzlich richtete sie sich auf, ihre Augen erweiterten sich noch mehr, ihrer zusammengepreßten Brust entfuhr ein fürchterlicher Schrei, wie wenn ein ihr allein sichtbares Schauspiel sie mit wahnsinniger Furcht erfüllt hätte.

Oh, der Gendarm! rief sie erstickend, zurückweichend, auf ihr Lager sinkend, wo sie sich in langen, wilden Lachkrämpfen wälzte.

Pascal folgte der Krise mit aufmerksamen Blicken. Die beiden entsetzten Brüder, die nur unzusammenhängende Sätze erfaßten, hatten sich in einen Winkel der Stube geflüchtet. Als Rougon das Wort Gendarm hörte, glaubte er zu verstehen; seit der Ermordung ihres Liebhabers an der Grenze, nährte Tante Dide einen tiefen Haß gegen die Gendarmen und die Zollwächter, die sie in ihren Rachegedanken miteinander verwechselte.

Sie erzählt uns da die Geschichte des Wilderers, brummte er.

Pascal winkte ihm zu schweigen. Die Sterbende richtete sich mühsam wieder auf. Verstört und blöde schaute sie um sich. Einen Augenblick blieb sie stumm, suchte dann die Gegenstände zu erkennen, als befinde sie sich an einem unbekannten Orte. Dann fragte sie plötzlich in unruhigem Tone:

Wo ist die Flinte?

Der Arzt legte den Karabiner in ihre Hände. Sie stieß einen schwachen Freudenschrei aus, betrachtete lange die Waffe und sagte leise, mit der singenden Stimme eines jungen Mädchens:

Das ist sie … ich erkenne sie … Sie ist voll mit Blut … Heute sind es frische Flecke … Seine blutigen Hände haben an dem Kolben rote Spuren zurückgelassen … Ach arme, arme Tante Dide! …

Von neuem begann sie den wirren Kopf hin und her zu wenden und verharrte eine Weile in stillem Brüten.

Der Gendarm ist tot, brummte sie dann, und ich habe ihn gesehen, er ist wiedergekommen … Diese Halunken sterben nie!

Von einer unheilkündenden Wut ergriffen, die Waffe schwingend, näherte sie sich ihren beiden Söhnen, die schreckensbleich an der Wand lehnten. Sie schleifte ihre losen Röcke hinter sich einher, ihr verkrümmter Leib richtete sich auf, halbnackt, durch das Alter schauerlich ausgedörrt.

Ihr habt geschossen! schrie sie. Ich habe das Gold gehört … Oh, ich Unglückliche habe nur Wölfe zur Welt gebracht. Eine ganze Familie, eine ganze Brut von Wölfen … Ein armes Kind war da, das haben sie gefressen; jeder hat darauf eingehauen, noch trieft das Blut von ihnen … Ha, die Verfluchten! Sie haben gestohlen, sie haben getötet und sie leben wie feine Herren. Verflucht! Verflucht! Verflucht!

Sie sang und lachte und schrie und wiederholte: Verflucht! in einem seltsamen Tönfall, der dem Prasseln einer Gewehrsalve glich. Mit Tränen in den Augen nahm Pascal sie in seine Arme und brachte sie wieder zu Bette. Sie setzte ihren Gesang fort, den Rhythmus beschleunigend und mit ihren dürren Händen auf der Bettdecke den Takt schlagend.

Sie ist wahnsinnig, sagte der Arzt; das befürchtete ich. Der Schlag war zu hart für ein armes Wesen, das wie sie heftigen nervösen Anfällen ausgesetzt war. Sie wird in einem Irrenhause sterben, wie ihr Vater.

Aber, was hat sie denn sehen können? fragte Rougon, aus dem Winkel hervortretend, in den er sich, geflüchtet hatte.

Ich habe eine furchtbare Ahnung, entgegnete Pascal. Ich wollte dir von Silvère sprechen, als du kamst. Er ist gefangen. Man muß bei dem Präfekten einen Schritt für ihn tun, um ihn zu retten. Noch ist es Zeit.

Der ehemalige Ölhändler sah erbleichend seinen Sohn an. Dann erwiderte er rasch:

Wache über sie; ich bin heute zu viel beschäftigt. Morgen wollen wir sie nach dem Irrenhause in Tulettes schaffen lassen. Ihr, Macquart, müßt noch heute nacht fort, Ihr schwört es mir. Ich werde Herrn von Blériot aufsuchen.

Er stammelte; es drängte ihn hinauszukommen in die nächtliche Kühle. Pascal heftete einen durchdringenden Blick auf die Irre, auf seinen Vater, auf seinen Oheim; der Egoismus des Gelehrten behielt die Oberhand; er studierte diese Mutter und diese Söhne mit der Aufmerksamkeit eines Naturforschers, der die Verwandlungen eines Insektes entdeckt. Er dachte an die Triebe einer Familie, einer Schichte, die verschiedene Zweige ansetzt und deren scharfer Saft die nämlichen Keime forttreibt in die entferntesten, je nach der Umgebung von Schatten und Sonne verschiedenartig gewundenen Äste. Er glaubte einen Augenblick, wie inmitten eines Blitzes die Zukunft der Rougon-Macquart zu sehen, eine Meute von zügellosen Begierden, die in einem Flammenschein von Blut und Gold Befriedigung, finden.

Indes hatte Tante Dide, als sie den Namen Silvère hörte, zu singen aufgehört. Sie lauschte beklommen einen Augenblick, dann begann sie ein schauerliches Geheul auszustoßen. Die Nacht war jetzt völlig hereingebrochen, und die Stube lag finster und unheimlich da. Die Schreie der Wahnsinnigen, die man nicht mehr sah, drangen aus der Finsternis hervor, wie aus einer geschlossenen Grube. Rougon hatte den Kopf verloren und eilte davon, verfolgt von diesem Lachgeheul, das in der Finsternis noch fürchterlicher klang.

Als er aus dem Saint-Mittre-Gäßchen trat, zögernd und sich fragend, ob es nicht gefährlich sei, bei dem Präfekten um Gnade für Silvère zu bitten, sah er Aristide, der um das Saint-Mittre-Feld herumstrich. Als dieser seinen Vater erkannte, lief er herbei und sagte ihm einige Worte ins Ohr. Peter erbleichte; er warf einen erschreckten Blick nach dem Hintergrunde des Feldes, nach jenem Dunkel, das nur durch das Lagerfeuer fahrender Zigeuner erhellt wurde. Dann verschwanden alle beide in der Rom-Straße, beschleunigten ihre Schritte, als ob sie gemordet hätten und stülpten den Rockkragen auf, um nicht gesehen zu werden.

Dies erspart mir einen Weg, murmelte Peter. Gehen wir essen. Man erwartet uns.

Als sie ankamen, strahlte der gelbe Salon im Lichterglanze. Felicité hatte sich vervielfacht. Alle Welt war da: Sicardot, Granoux, Roudier, Vuillet, die Ölhändler, die Mandelhändler, kurz, die ganze Gesellschaft. Der Marquis allein war unter dem Vorwande eines Anfalles von Rheumatismus weggeblieben; er verreiste übrigens für eine kurze Zeit. Diese blutbefleckten Spießbürger verletzten sein Zartgefühl, und es schien, daß sein Verwandter, der Graf von Valqueyras, ihn gebeten hatte, sich einige Zeit auf sein Gut Corbière zurückzuziehen, um sich in Vergessenheit zu bringen. Die Absage des Herrn von Carnavant verdroß die Rougon; allein Felicité tröstete sich und gedachte einen um so größeren Prunk zu entfalten; sie entlieh zwei Armleuchter, bestellte zwei Vorspeisen und zwei Mittelgerichte mehr, um so das Gedeck des Marquis zu ersetzen. Um das Mahl feierlicher zu gestalten, wurde die Tafel im Salon gedeckt. Das Hotel de Provence hatte das Silberzeug, das Porzellan, die Trinkgläser geliefert. Um fünf Uhr wurde gedeckt, damit die Gäste gleich bei ihrer Ankunft sich an dem Anblick weiden konnten. An beiden Enden des weißen Tafeltuches standen Sträuße von künstlichen Rosen in Vasen von vergoldetem Porzellan.

Als die gewöhnliche Gesellschaft des gelben Salons versammelt war, vermochte sie ihre Bewunderung für ein solches Schauspiel nicht zu unterdrücken. Die Herren lächelten mit verlegener Miene und warfen einander heimliche Blicke zu, die deutlich besagen wollten: »Diese Rougon sind toll; sie werfen ihr Geld zum Fenster hinaus.« Die Wahrheit war, daß Felicité, als sie ihre Einladungen ausgehen ließ, ihre Zunge nicht hatte beherrschen können. Alle Welt wußte, daß Peter dekoriert worden und daß er ein Amt bekommen solle und dies »verwandelte die Nasen gar seltsam«, wie die alte Frau sich ausdrückte. Dann sagte Roudier: »Dieses schwarze Weib ist denn doch zu hochmütig«. Diese Gesellschaft von Spießbürgern, die über die sterbende Republik hergefallen waren und, einander beobachtend, einander an Fußtritten für die Republik zu überbieten suchten, fand jetzt am Zahltage, es sei nicht recht, daß ihre Wirte allen Ruhm der Schlacht einheimsten. Selbst jene, die aus bloßem Eifer geschrien hatten, ohne von dem erstehenden Kaiserreich etwas zu verlangen, waren arg verdrossen, weil sie sehen mußten, daß dank ihrer Haltung der Ärmste und Schäbigste von allen das rote Bändchen im Knopfloch haben sollte. Wenn noch der ganze gelbe Salon ausgezeichnet worden wäre!

Nichts als ob mir an der Auszeichnung etwas liegt, sagte Roudier zu Granoux, den er in eine Fensternische gezogen hatte. Ich habe sie zur Zeit Louis Philipps zurückgewiesen, als ich Hoflieferant war. Ach, Louis Philipp war ein guter König. Frankreich wird niemals einen gleichen finden!

Roudier war jetzt wieder Orleanist. Dann fügte er mit der schlauen Heuchelei des ehemaligen Schlafmützenhändlers von der Saint-Honoré-Straße hinzu:

Aber, mein lieber Herr Granoux, glauben Sie nicht, daß das Ordensbändchen in Ihrem Knopfloche sich gut ausnehmen wird? Schließlich haben Sie die Stadt ebenso gut gerettet wie Rougon. Man hat gestern in einer Gesellschaft sehr vornehmer Personen nicht glauben wollen, daß Sie mit einem bloßen Hammer einen solchen Heidenlärm machen konnten.

Granoux stammelte Dankesworte und errötend wie eine Jungfrau bei ihrem ersten Liebesgeständnisse, neigte er sich zum Ohre Roudiers und flüsterte:

Sagen Sie niemandem etwas davon, aber ich habe Grund anzunehmen, daß Rougon den Orden für mich verlangen wird. Er ist ein guter Junge.

 

Der ehemalige Schlafmützenhändler ward sehr ernst und bewies fortan große Höflichkeit. Als Vuillet sich zu ihm gesellte, um mit ihm von der wohlverdienten Belohnung zu sprechen, die ihr Freund empfangen hatte, erwiderte er sehr laut, um von Felicité gehört zu werden, die wenige Schritte von ihm saß, daß Männer wie Rougon, »die Ehrenlegion ehrten«. Alle stimmten dem Buchhändler zu; man hatte ihm am Morgen die förmliche Versicherung gegeben, daß er die Kundschaft des Kollegs wiedererhalten werde, Was Sicardot betrifft, so empfand er erst einigen Ärger darüber, daß er künftig nicht mehr der einzige Dekorierte in der Schar sein werde. Er war der Meinung, daß die Soldaten allein auf das Band der Ehrenlegion Anspruch hätten. Die Tapferkeit Peters überraschte ihn. Doch gutmütig wie er im Grunde war, erwärmte er sich schließlich und rief, daß die Napoleons die Männer von Herz und Mut auszuzeichnen wüßten.

Rougon und Aristide wurden mit Begeisterung empfangen; alle Hände streckten sich ihnen entgegen. Man ging so weit, daß man sie küßte. Angela saß auf dem Sofa, an der Seite ihrer Mutter; sie war glücklich und betrachtete die Tafel mit den gierigen Augen einer starken Esserin, die niemals so viele Schüsseln beisammen gesehen. Aristide näherte sich, und Sicardot beglückwünschte ihn zu dem herrlichen Artikel im »Unabhängigen«. Er schenkte ihm seine Freundschaft wieder. Auf seine väterlichen Fragen erwiderte der junge Mann, es sei sein Wunsch, mit Kind und Kegel nach Paris zu gehen, wo sein Bruder Eugen ihn fördern werde; aber es fehlten ihm dazu fünfhundert Franken. Sicardot versprach ihm dieses Geld; er sah schon im Geiste seine Tochter am Hofe Napoleons III.

Inzwischen hatte Felicité ihrem Gatten einen Wink gegeben. Peter, von seinen Freunden stark umworben und teilnahmvoll wegen seiner Blässe befragt, konnte nur eine Minute loskommen, gerade so lange, um seiner Frau zuzuflüstern, daß er Pascal gefunden habe und daß Macquart noch diese Nacht die Stadt verlassen werde. Indem er noch mehr die Stimme dämpfte, erzählte er ihr von dem Irrsinn seiner Mutter. Dabei legte er den Finger an die Lippen, als wollte er sagen: Kein Wort davon, sonst könnte unser Festabend verdorben werden. Felicité spitzte die Lippen. Sie tauschten einen Blick, in dem sie den gemeinsamen Gedanken lesen konnten: Jetzt wird die Alte sie nicht mehr genieren; man wird die Hütte des Wilderers niederreißen, wie man die Mauern der Krautgärtnerei der Fouque niedergerissen hat, und sie werden künftig die Achtung und die Wertschätzung von Plassans genießen.

Die Gäste betrachteten inzwischen die Tafel. Felicité lud die Herren ein, Platz zu nehmen. Es war ein Augenblick freudigen Wohlbehagens. Als man sich anschickte, zu den Löffeln zu greifen, erhob sich Sicardot, erbat sich einen Augenblick Geduld und sprach in ernstem Tone:

Meine Herren! Ich möchte im Namen der Gesellschaft unserem Wirte sagen, wie glücklich wir sind ob der Belohnungen, welche sein Mut und seine Vaterlandsliebe ihm eingetragen haben. Ich erkenne, daß Rougon eine Eingebung des Himmels hatte, als er in Plassans blieb, während diese Halunken uns auf den Heerstraßen herumschleppten. Darum beglückwünsche ich die Regierung zu ihren Entschließungen … Lassen Sie mich vollenden … Sie werden unseren Freunden nachher Ihre guten Wünsche darbringen … Erfahren Sie, daß unserem Freunde, der zum Ritter der Ehrenlegion ernannt wurde, außerdem noch eine Einnehmerstelle verliehen wurde.

Ein Ruf der Überraschung erklang. Man war nur auf die Verleihung eines kleinen, unbedeutenden Ämtchens gefaßt. Einige verzerrten das Gesicht zu einem Lächeln; doch der Anblick der Tafel ermutigte alle zu den herzlichsten Glückwünschen.

Sicardot erbat sich jetzt von neuem die Aufmerksamkeit der Gesellschaft. Warten Sie, meine Herren, ich bin noch nicht zu Ende … Nur ein Wort noch … Wir dürfen hoffen, unseren Freund unter uns zu behalten, nachdem Herr Peirotte mit dem Tode abgegangen.

Während die Gäste Rufe des Erstaunens und der Überraschung vernehmen ließen, fühlte Felicité einen Stich im Herzen. Siccardot hatte ihr den Tod des Einnehmers bereits mitgeteilt; allein, als dieses plötzlichen und furchtbaren Todesfalles zu Beginn dieser Festtafel Erwähnung geschah, fühlte sie gleichsam einen kalten Hauch über ihr Gesicht streichen. Sie erinnerte sich ihres Wunsches; sie hatte diesen Mann getötet. Und jetzt hielten die Gäste beim hellen Geräusche des silbernen Eßgerätes ihr Festmahl. In der Provinz ißt man viel und geräuschvoll. Schon bei den Zwischengerichten sprachen alle Herren zugleich; sie traten die Besiegten mit Füßen, warfen sich gegenseitig Schmeicheleien an den Kopf und machten abfällige Bemerkungen über die Abwesenheit des Marquis. Es sei unmöglich, mit den Adeligen zu verkehren. Roudier ließ schließlich durchblicken, der Marquis habe sich entschuldigen lassen, weil er aus Furcht vor den Aufständischen die Gelbsucht bekommen habe. Bei dem zweiten Gange gab es schon eine wahre Treibjagd. Die Ölhändler und die Mandelhändler retteten Frankreich. Man stieß auf den Ruhm der Familie Rougon an. Granoux war schon sehr rot und begann zu stammeln; Vuillet hingegen war sehr blaß, aber völlig berauscht. Sicardot aber schenkte fortwährend ein, während Angela, die schon zu viel gegessen hatte, sich ein Glas Zuckerwasser nach dem andern zubereitete. Die Freude darüber, gerettet zu sein, nicht mehr zittern zu müssen, sich in diesem gelben Salon wiederzufinden, an dieser reichbestellten Tafel, im hellen Lichte der zwei Armleuchter und des Kronleuchters, den man zum ersten Male ohne seine vom Fliegenschmutz übersäte Decke sah, ließ den Frohsinn und die Torheit dieser Herren alle Zügel schießen. Breit und voll klangen ihre Stimmen in der heißen Luft, bei jeder Schüssel neues Lob verkündend, sich in Komplimenten verlierend und so weit gehend – ein ehemaliger Lohgerber hatte das schöne Wort gefunden – daß das Diner mit einem »wahren Festmahl des Lucullus« verglichen wurde. Peter strahlte; sein breites, blasses Gesicht schwitzte ordentlich vor Triumph. Felicité, wieder mutiger geworden, sagte, sie wollten einstweilen, bis sie ein kleines Haus in der Neustadt erwerben würden, die Wohnung des armen Herrn Peirotte mieten und entwarf auch schon den Plan, wie sie ihre künftigen Möbel in der Wohnung des verstorbenen Einnehmers verteilen werde. Sie hielt ihren Einzug in ihre Tuilerien. In einem Augenblicke, da das Geräusch der Stimmen betäubend wurde, schien eine plötzliche Erinnerung sie zu packen; sie erhob sich und neigte sich zu Aristide mit der Frage:

Was ist's mit Silvère?

Überrascht von dieser Frage fuhr der junge Mann zusammen.

Er ist tot, erwiderte er mit leiser Stimme. Ich war anwesend, als der Gendarm ihn mit einem Pistolenschusse niederstreckte.

Jetzt erbebte Felicité. Sie öffnete den Mund, um ihren Sohn zu fragen, warum er diesen Mord nicht verhindert, die Freilassung des Knaben nicht gefordert habe. Aber sie sagte nichts; sie blieb stumm sitzen. Aristide, der ihre Frage an ihren bebenden Lippen abgelesen, murmelte:

Du wirst begreifen … ich habe nichts gesagt … Um so schlimmer für ihn! … Wir sind ihn los; ich habe recht getan.

Dies rohe Aufrichtigkeit mißfiel Felicité. Aristide hatte jetzt auch seinen Toten, wie sein Vater und wie seine Mutter. Sicherlich würde er nicht mit solcher Offenheit gestanden haben, daß er in der Vorstadt herumgelungert und die Ermordung seines Vetters habe geschehen lassen, wenn nicht die Weine des Hotel de Provence und die Träume, die er auf seine baldige Ankunft in Paris baute, ihn seine gewohnte Verschlagenheit hätten vergessen lassen. Als er den Satz gesprochen hatte, wiegte er sich in seinem Sessel.