50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
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Peter, der aus der Ferne die Unterredung seiner Frau und seines Sohnes sah, begriff und wechselte mit ihnen einen Blick des Einverständnisses, in welchem er um Stillschweigen bat. Es war gleichsam ein letzter Hauch des Schreckens unter den Rougon inmitten der geräuschvollen Freude dieser Tafel. Als Felicité an ihren Platz zurückkehrte, sah sie auf der anderen Seite der Straße, hinter einer Fensterscheibe eine Wachskerze brennen; es war die Nachtwache an der Leiche des Herrn Peirotte, die man am Morgen von Sainte-Roure gebracht hatte. Sie setzte sich und hatte das Gefühl, als werde diese Kerze ihr den Rücken brennen. Doch neues Lachen erklang; der Nachtisch erschien und ward mit Ausrufen der Begeisterung begrüßt.

Zur nämlichen Stunde zitterte noch die ganze Vorstadt unter dem Eindrucke des blutigen Ereignisses im Saint-Mittre-Felde. Der Rückmarsch der Truppen nach dem Gemetzel in der Ebene von Nores ward durch grausame Akte der Rachevergeltung gekennzeichnet. Männer wurden hinter einer Mauer mit Kolbenschlägen niedergemacht, andere wurden in den Straßengräben von den Gendarmen erschossen. Um überall Schrecken zu verbreiten, streuten die Soldaten Leichen auf der Heerstraße aus. Man hätte ihnen auf den blutigen Spuren folgen können, die sie zurückließen. Es war ein langes Würgen. Bei jeder Rast wurden einige Aufständische ermordet, zwei in Sainte-Roure, drei in Orchères, einer in Béage. Als die Truppe in Plassans auf der Straße nach Nizza lagerte, wurde beschlossen, noch einen Gefangenen, den am meisten schuldigen, zu erschießen. Die Sieger fanden es für gut, dieses neue Opfer hinter sich zurückzulassen, um der Stadt Achtung vor dem neuen Kaiserreich einzuflößen. Aber die Soldaten waren des Mordens schon müde; keiner meldete sich zu dieser traurigen Verrichtung. Die Gefangenen, die man zwei und zwei an den Handgelenken zusammengebunden, auf die Balken des Zimmerplatzes wie auf ein Feldbett geworfen hatte, hörten mit ergebenem Stumpfsinn alles an und harrten ihres Schicksals.

In diesem Augenblicke drängte sich der Gendarm Rengade durch die Menge der Neugierigen. Kaum hatte er erfahren, daß die Truppe mit mehreren hundert Gefangenen zurückkehrte, als er vom Fieberfrost geschüttelt, in der bösen Dezemberkälte sein Leben aufs Spiel setzend, sich erhob. Draußen brach seine Wunde wieder auf; die Binde, die seine leere Augenhöhle verbarg, färbte sich mit Blut, das in dünnen Fäden auch auf seine Wangen und seinen Schnurrbart herunter rann. Greulich in seinem stummen Zorne und mit seinem bleichen Gesichte, das ein blutiges Linnen einhüllte, eilte er herbei, um jedem Gefangenen lange ins Gesicht zu schauen. So schritt er die Balkenhaufen ab, sich bückend, bald da, bald dort erscheinend und durch sein plötzliches Auftauchen selbst die Stumpfsinnigsten in Schrecken versetzend. Plötzlich rief er aus:

Ha, der Bandit! Ich habe ihn!

Er hatte Silvère bei der Schulter erfaßt. Der Knabe hockte auf einem Balken, mit leblosen Antlitz, mit sanftem, blödem Ausdruck ins Leere, in die fahle Abenddämmerung hinausstarrend. Seit dem Aufbruch von Sainte-Roure hatte er diesen leeren Blick. Auf dem ganzen Wege, während vieler Meilen und als die Soldaten den Marsch durch Kolbenstöße beschleunigten, hatte er sich folgsam wie ein Kind betragen. Mit Staub bedeckt, erschöpft von Durst und Müdigkeit, marschierte er wortlos dahin, wie eines jener gefügigen Tiere, die von der Peitsche der Kuhhirten getrieben, herdenweise dahintrotten. Er dachte an Miette. Er sah sie in die Fahne gehüllt, unter den Bäumen, mit offenen Augen da liegen. Seit drei Tagen sah er nur sie. Und zur Stunde, in den Schatten des zunehmenden Dunkels sah er nur immer noch sie.

Rengade wandte sich zu dem Offizier, der unter seiner Mannschaft die zum Erschießen notwendigen Leute nicht hatte finden können.

Dieser Halunke hat mir das Auge ausgestoßen, sagte er zu ihm und zeigte auf Silvère. Überlassen Sie mir ihn, und die Sache ist für Sie abgetan.

Ohne zu antworten ging der Offizier mit gleichgültiger Miene und mit einer unbestimmten Gebärde weiter. Der Gendarm begriff, daß man ihm den Mann überlasse.

Auf! Erhebe dich! sagte er, ihn schüttelnd.

Silvère hatte, gleich allen anderen Gefangenen, einen Genossen an der Fessel. Er war mit dem Arm an einen Bauer aus Poujols namens Mourgue gebunden, an einen Mann von etwa fünfzig Jahren, den die Sonnenhitze und die harte Feldarbeit vertiert hatten. Sein Rücken war schon gekrümmt, seine Hände steif, sein Gesicht gemein; er blinzelte mit den Augen und schaute blöde drein, mit dem eigensinnigen und argwöhnischen Ausdruck der geprügelten Tiere. Mit einer eisernen Gabel bewaffnet war er aufgebrochen, weil das ganze Dorf ging; aber er hätte nicht zu sagen vermocht, weshalb er sich auf den Heerstraßen herumtrieb. Seitdem man ihn zum Gefangenen gemacht, begriff er die Sache noch weniger; er vermutete, man bringe ihn nach Hause. Das Erstaunen darüber, sich gefesselt zu sehen, der Anblick der vielen Leute, die ihn betrachteten, machten ihn noch dümmer. Da er nur die Bauernsprache redete und verstand, konnte er nicht erraten, was der Gendarm wolle. Mühsam erhob er sein dickes Gesicht zu ihm, weil er meinte, daß man ihn um seinen Namen befragte, sagte er mit seiner rauhen Stimme:

Ich bin von Poujols.

Ein Gelächter ging durch die Menge; mehrere Stimmen riefen:

Macht den Bauer los!

Bah, erwiderte Rengade, je mehr man von diesem Gewürm zertritt, desto besser. Da sie beisammen sind, sollen sie auch beisammen abfahren.

Es entstand ein Murren in der Menge.

Der Gendarm mit seinem schrecklichen, blutbefleckten Gesicht wandte sich um und die Neugierigen wichen zurück. Ein säuberlich gekleideter Spießbürger ging weiter, indem er erklärte, er könne nicht zu Mittag essen, wenn er noch länger dableibe. Einige Gassenjungen, die Silvère erkannten, sprachen von dem roten Mädchen. Da kam der Spießbürger noch einmal zurück, um den Liebhaber der Fahnenträgerin besser zu sehen, dieser Kreatur, von welcher in dem Berichte der Zeitung die Rede gewesen.

Silvère sah nichts und hörte nicht; Rengade mußte ihn am Kragen fassen. Da erhob er sich und zwang so auch den Bauer Mourgue, sich zu erheben.

Kommt, sagte der Gendarm, wir wollen's kurz machen.

Jetzt erkannte Silvère den Einäugigen. Er lächelte; er schien zu begreifen. Dann wandte er den Kopf weg. Der Anblick des Einäugigen, seines Schnurrbartes, den das gestockte Blut zu einem unheimlichen, roten Klumpen machte, verursachte ihm tiefes Leid. Er hätte in seinem süßen Dahinbrüten, seinen Gedanken an Miette vergehen wollen. Er vermied es, dem einzigen Auge Rengades zu begegnen, das unter dem bleichen Linnen funkelte. Der junge Mensch wandte sich von selbst nach dem Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes zu dem schmalen Gange zwischen den Bretterhaufen. Mourgue folgte.

Wüst und trostlos dehnte das Feld unter dem bleichen Himmel sich aus, beleuchtet von einem grellen Widerschein der kupferroten Wolken. Niemals hatte dieses öde Feld, dieser Werkplatz, wo die Balken, wie von der Kälte erstarrt dalagen, einen so trostlosen Anblick langsamen, ergreifenden Dämmerns geboten. Die Gefangenen, die Soldaten, die Menge am Straßensaume: sie verschwanden im Dunkel der Bäume. Das Feld allein, die Eichenbohlen, die Bretterhaufen waren in dem ersterbenden Tageslichte, in verschwommenen Farben sichtbar; das Ganze sah aus wie ein ausgetrocknetes Flußbett. In einem Winkel standen die Sägeböcke beisammen wie Gerüste eines Schafotts. Nichts Lebendes war da als drei Zigeuner, die ihre erschreckten Köpfe aus ihren Karren hervorstreckten: ein Alter, eine Alte und ein großes Mädchen mit krausem Haar, dessen Augen funkelten wie Wolfsaugen.

Ehe Silvère den schmalen Weg erreichte, blickte er um sich. Er erinnerte sich eines fernen Sonntags, an dem er bei schönem Mondschein den Werkplatz durchschritten hatte. Wie lieblich war es in dem silberhellen Lichte, das die Bohlen entlang herniederfloß! Göttliche Stille senkte sich von dem winterlichen Himmel nieder. In dieser Stille sang die junge Zigeunerin mit dem krausen Haar mit leiser Stimme in einer unbekannten Sprache. Dann erinnerte sich Silvere, daß dieser ferne Sonntag vor acht Tagen gewesen. Acht Tage waren es her, daß er gekommen war, um Mietten Lebewohl zu sagen. Wie lange war das schon! Ihm war, als habe er seit Monaten keinen Fuß auf den Werkplatz gesetzt. Aber als er den schmalen Weg betrat, ward er schwach. Er erkannte den Duft der Gräser wieder, den Schatten der Bretterstöße, die Löcher in der Mauer. Eine Klagestimme schien aus allen diesen Gegenständen aufzusteigen; traurig und leer dehnte der Weg sich dahin; er schien ihm jetzt länger als sonst, er fühlte einen leisen Wind hinstreichen. Der ganze Winkel hatte furchtbar gealtert. Er fand die Mauer vom Moose zerfressen, den Rasenteppich vom Froste verdorrt, die Bretter vom Wasser verfault. Es war ein trostloser Anblick. Die fahle Dämmerung fiel wie ein feiner Morast auf die Erinnerungen an diesen ihm so teuren Ort. Er mußte die Augen schließen, und jetzt sah er den Weg wieder grün und die glücklichen Tage wieder, die er hier verlebt. Es war wieder warm, und er lief mit Miette im Freien herum. Dann kamen die endlosen Dezemberregengüsse; sie kamen aber dennoch hierher, verbargen sich unter den Bretterstößen und hörten aus ihrem Versteck entzückt den Regen rauschen. Wie im flammenden Lichte eines Blitzes zog sein Leben, zogen alle seine Freuden an ihm vorüber. Miette sprang über die Mauer und eilte herbei, von hellem Lachen geschüttelt. Sie war da; er sah im Schatten ihr weißes Antlitz und ihr reiches, schwarzes Haar. Sie erzählte ihm von den Elsternestern, die so schwer auszuheben sind, und zog ihn fort. Er vernahm aus der Ferne das sanfte Murmeln der Viorne, das Zirpen der Heimchen, den Wind, der durch die Pappeln der Klarawiese rauschte. Wie hatten sie sich da getummelt! Er erinnerte sich sehr wohl; sie hatte in vierzehn Tagen schwimmen gelernt; sie war ein wackeres Mädchen und hatte nur einen großen Fehler: sie stahl Obst, wenn sie im Freien herumstrichen. Aber er würde sie davon geheilt haben. Die Erinnerung an ihre ersten Liebkosungen führte ihn wieder auf den schmalen Weg zurück. Sie waren immer wieder zu diesem Versteck zurückgekehrt. Er glaubte den leisen Gesang der Zigeunerin zu hören, das Zuklappen der letzten Fensterläden, die dumpfen Schläge der Turmuhren. Dann kam der Augenblick des Scheidens; Miette stieg wieder auf die Mauer und sandte ihm Kußhändchen zu. Dann sah er sie nicht mehr; eine schreckliche Angst schnürte ihm die Kehle zu: er wird sie nie, nie wiedersehen.

 

Wie du willst, rief jetzt der Einäugige höhnisch; geh, suche dir dein Plätzchen aus.

Silvère tat noch einige Schritte. Er näherte sich jetzt dem Ende des Weges; er sah nur mehr einen schmalen Streifen des Himmels, an dem das rostfarbige Tageslicht langsam erstarb. Hier waren zwei Jahre seines Lebens verflossen. Das langsame Herankommen des Todes erfüllte ihn mit unaussprechlicher Seligkeit auf diesem Pfade, der so lange Zeit der Schauplatz seines Herzensglücks gewesen. Er verlangsamte seine Schritte und freute sich des Abschiedes von allem, was er liebte, von den Gräsern, von den Hölzern, von den Steinen der alten Mauer, von all den Dingen, denen Miette Leben verliehen hatte. Abermals verirrten sich seine Gedanken. Sie warteten, bis sie das Alter erreichten, um Mann und Frau zu werden. Tante Dide würde bei ihnen geblieben sein. Ach, wären sie doch geflohen, weit, weit, in ein fremdes Dorf, wo die Gassenjungen der armen Chantegreil nicht das Verbrechen ihres Vaters nachgerufen hätten! Welch glücklicher Friede wäre das gewesen! Er würde an einer Heerstraße eine Stellmacherei eröffnet haben. Er war bescheiden in seinem Arbeiterehrgeiz; er wollte keine prunkvollen Kutschen mit breiten gefirnisten Feldern machen, die da glänzten wie ein Spiegel. In seiner dumpfen Verzweiflung konnte er sich nicht erinnern, weshalb sein Glückstraum sich nicht verwirklichen durfte. Warum war er nicht mit Miette und Tante Dide fortgezogen? Und als er sein Erinnerungsvermögen besser anspannte, hörte er das scharfe Prasseln eines Gewehrfeuers und sah eine Fahne sinken: der Schaft war gebrochen, der Stoff fiel herab wie der Flügel eines zu Tode getroffenen Vogels. Mit Miette schlief die Republik, eingehüllt in einen Zipfel des roten Banners. Oh, Jammer! Beide waren tot! Sie hatten ein blutendes Loch in der Brust und das verleidete ihm nunmehr das Leben: die Leichen der beiden, die er geliebt! Er besaß nichts mehr, er konnte nun sterben. Das erfüllte seit Sainte-Roure ihn mit einer stumpfen, kindlichen Freude. Man hätte ihn prügeln können; er würde es nicht gefühlt haben. Er befand sich nicht mehr in seinem Körper; er war neben seinen vielgeliebten Toten geblieben unter den Bäumen, im scharfen Pulverrauch.

Doch der Einäugige ward ungeduldig; er stieß Mourgue vorwärts, der sich ziehen ließ, und schalt:

So geht doch, ich will nicht hier übernachten.

Silvère strauchelte. Er schaute zu seinen Füßen. Das Bruchstück eines Schädels bleichte im Grase. Er glaubte den engen Weg sich mit Stimmen füllen zu hören. Die Toten riefen ihn, die alten Toten, deren heißer Atem an den Juliabenden ihn so seltsam verwirrt hatte, ihn und seine Liebste. Er erkannte ihr leises Geflüster. Sie freuten sich und sagten ihm, er möge kommen; sie versprachen, ihm Miette wiederzugeben unter der Erde in einem noch besser verborgenen Winkel, als der am Ende des Weges gewesen. Der Leichenacker, der mit seinen scharfen Düften und seinem üppigen Wachstum dem Herzen der Kinder heiße Begierden zugeflüstert und das weiche Bett seiner wild wuchernden Gräser angeboten hatte, ohne sie einander in die Arme treiben zu können, träumte jetzt davon, Silvères Blut zu trinken. Seit zwei Sommern schon harrte er der jungen Gatten.

Soll's da sein? fragte der Einäugige.

Der junge Mensch blickte vor sich hin. Er war am Ende des Weges angekommen. Er bemerkte den Grabstein und fuhr zusammen. Miette hatte recht; dieser Stein war für sie. »Hier ruht … Marie … gestorben … « Sie war in der Tat gestorben; der Stein war über sie gewälzt. Er wankte und mußte sich auf den eisigen Stein stützen. Wie warm war doch der Stein ehemals, als sie an einer Ecke beisammen sitzend, ganze lange Abende da verplauderten. Sie kam von der Mauer herab und hatte ein Stück des Steines damit abgewetzt, daß sie da den Fuß aufsetzte, um herabzusteigen. In diesem Eindruck ihres Fußes war etwas von ihr, von ihrem geschmeidigen Leibe zurückgeblieben. Und er dachte, daß alle diese Dinge vom Schicksal bestimmt seien, daß dieser Stein an diesem Orte liege, damit er hierher sterben komme, nachdem er hier geliebt.

Der Einäugige lud seine Pistolen.

Sterben, sterben: der Gedanke entzückte Silvère. Hierher also führte man ihn auf der langen, weißen Straße, die von Sainte-Roure bis Plassans herabsteigt. Hätte er dies gewußt, so hätte er sich mehr beeilt. Sterben auf diesem Steine, sterben am Ende dieses schmalen Weges, sterben in dieser Luft, wo er noch den Atem Miettens zu spüren glaubte: niemals würde er einen solchen Trost in seinem Leide erhofft haben. Der Himmel war gütig. Er harrte mit einem Lächeln auf den Lippen.

Inzwischen hatte der Bauer Mourgue die Pistolen gesehen. Bis hierher hatte er in blöder Weise sich schleppen lassen, doch jetzt erfaßte ihn die Furcht und er wiederholte immerfort in jammerndem Tone:

Ich bin von Poujols, ich bin von Poujols!

Er warf sich zur Erde und wälzte sich flehend zu den Füßen des Gendarmen ohne Zweifel in der Meinung, daß er für einen andern gehalten werde.

Was kümmert es mich, daß du von Poujols bist, brummte der Gendarm.

Da der Erbarmungswürdige, zitternd und weinend vor Entsetzen, nicht begreifend, weshalb er sterben solle, seinebebenden Hände vorstreckte, diese armseligen, unförmigen und rauhen Arbeiterhände, wobei er in seiner Bauernsprache sagte, daß er nichts getan habe und daß man ihm vergeben müsse, ward der Einäugige ungeduldig, weil er dem sich heftig Bewegenden die Mündung der Pistole nicht an die Schläfe setzen konnte.

Wirst du schweigen! rief er.

Wahnsinnig vor Angst und nicht sterben wollend begann Mourgue jetzt ein tierisches Geheul auszustoßen, wie ein Schwein, das geschlachtet wird.

Schweig, Halunke! wiederholte der Gendarm.

Und er zerschmetterte ihm den Schädel. Der Bauer stürzte als tote Masse hin; sein Leichnam fiel bei einem Bretterhaufen nieder und lag da zusammengesunken. Durch die Gewalt des Sturzes riß die Leine, die ihn an seinen Genossen gefesselt hatte. Silvère sank vor dem Grabstein in die Knie.

Rengades Verlangen nach Rache steigerte sich nach dem Tode Mourgues. Er spielte mit seiner zweiten Pistole, hob sie langsam, um sich an der Todesangst Silvères zu weiden. Doch dieser sah ihn ruhig an. Der Anblick des Einäugigen, dessen wild funkelndes Auge ihn verbrennen zu wollen schien, verursachte ihm ein Unbehagen. Er wandte den Kopf ab, weil er fürchtete, feige zu sterben, wenn er noch länger diesen vom Fieber geschüttelten Mann sehen würde mit seiner besudelten Binde und seinem blutstarrenden Schnurrbart. Doch als er die Augen erhob, erblickte er den Kopf Justins auf der Mauer, an der Stelle, wo Miette herabzusteigen pflegte.

Justin hatte sich am römischen Tore unter der Menge befunden, als der Gendarm die beiden Gefangenen wegführte. Er begann zu laufen, was er konnte und nahm seinen Weg durch den Jas-Meiffren, denn er wollte das Schauspiel der Hinrichtung nicht versäumen. Der Gedanke, daß von allen Taugenichtsen der Vorstadt er allein das Drama bequem, wie von einem Balkon herab mit ansehen könne, trieb ihn zu solcher Eile an, daß er zweimal fiel. Trotz seines tollen Laufes kam er zu dem ersten Pistolenschuß zu spät. Verzweifelt erklomm er den Maulbeerbaum. Als er Silvère noch am Leben sah, lächelte er. Die Soldaten hatten ihm erzählt, daß seine Base getötet worden sei; die Ermordung des Stellmachers machte seine Freude zu einer vollständigen. Er erwartete den Schuß mit jener Wollust, die er empfand, wenn er andere leiden sah, aber noch zehnfach gesteigert durch das Schreckliche der Szene, gemengt mit einer köstlichen Furcht.

Als Silvère den Kopf auf der Mauer erkannte, diesen schändlichen Kerl mit der bleichen, wonnegrinsenden Fratze und dem über die Stirne leicht gesträubten Haar, empfand er eine dumpfe Wut, ein Bedürfnis zu leben. Es war die letzte Aufwallung seines Blutes. Doch es währte nur eine Sekunde; er sank wieder auf die Knie und schaute vor sich hin. In der trübseligen Dämmerung schwebte ein letztes Bild an ihm vorüber: am Ende des Weges, am Eingange des Saint-Mittre-Feldes glaubte er Tante Dide zu sehen, die bleich und starr wie eine Heilige von Stein dastand und aus der Ferne seinen Todeskampf mit ansah.

In diesem Augenblicke fühlte er den kalten Lauf der Pistole an seiner Schläfe. Der bleiche Kopf Justins lachte. Silvère schloß die Augen; er hörte, wie die Toten ihn heftig riefen.

Er sah im Finstern nichts als Miette, die in die rote Fahne gehüllt, unter den Bäumen lag, und mit den offenen toten Augen in die Luft starrte. Dann schoß der Einäugige und es war aus; der Schädel des Knaben platzte, wie ein reifer Granatapfel; er fiel mit dem Antlitz auf den Steinblock, seine Lippen hefteten sich auf die von Miettens Füßen abgewetzte Stelle, auf jene noch warme Stelle, wo die Liebste seines Herzens gleichsam ein Stück ihres Leibes zurückgelassen hatte. – –

Bei den Rougon aber ging es in der schwülen Luft des Salons, bei den noch warmen Resten des Festmahles hoch her. Endlich genossen sie die Freuden der Reichen; nachdem sie dreißig Jahre lang ihre Begierden hatten niederhalten müssen, zeigten sie jetzt eine wilde Gier. Diese hungrigen, abgemagerten Raubtiere, denen erst gestern die Genüsse zugänglich gemacht worden, begrüßten mit lautem Jubel das erstehende Kaiserreich, die Herrschaft der wilden Treibjagd. Wie durch den Staatsstreich der Glücksstern der Bonaparte wieder aufgegangen, begründete er auch das Glück der Rougon.

Peter erhob sich, streckte seinen Gästen sein Glas entgegen und rief:

Ich trinke auf das Heil des Prinzen Ludwig, des Kaisers.

Die Herren, die ihren Neid in dem Schaumwein ertränkt hatten, erhoben sich sämtlich und stießen unter betäubendem Jubelgeschrei mit ihren Gläsern an. Es war ein schönes Schauspiel. Die Bürger von Plassans, Roudier, Granoux, Vuillet und die anderen weinten und umarmten sich über dem noch warmen Leichnam der Republik. Sicardot aber hatte einen glänzenden Gedanken. Er nahm aus dem Haar Felicités eine Schleife von rosa Satin, mit welcher die Hausfrau sich für den Festabend geschmückt hatte, schnitt mit einem Dessertmesser ein Stückchen davon ab und steckte es feierlich in das Knopfloch Rougons. Dieser spielte den Bescheidenen, wehrte ab und murmelte mit strahlender Miene:

Nein, ich bitte Sie, das ist zu viel. Man muß warten,. bis der Erlaß erschienen ist.

Sacrebleu, rief Sicardot, ob Sie es wohl behalten wollen; ein alter Soldat Napoleons dekoriert Sie!

Der ganze gelbe Salon klatschte Beifall. Felicité schwamm in Glückseligkeit. Der sonst so schweigsame Granoux bestieg in seiner Begeisterung einen Sessel, winkte heftig mit seiner Serviette und hielt eine Rede, die in dem allgemeinen Getümmel unterging. Der gelbe Salon triumphierte, raste.

Doch das Bändchen von rosa Satin im Knopfloche Peters war nicht der einzige rote Fleck in dem Triumphe der Rougon. Unter dem Bette des anstoßenden Zimmers vergessen, lag noch ein Schuh mit blutbeflecktem Absatz. Die Kerze an der Leiche des Herrn Peirotte auf der anderen Seite der Straße schimmerte blutigrot durch das Dunkel der Nacht wie eine offene Wunde. Und in der Ferne, im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes, auf dem Grabstein, stockte eine große Blutlache.