50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Tekst
Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

10. Das Hamaïl (Karl May)

Zwischen Bir el asuad und Ain tajib schwebte einer jener Sakrfalken, welche von den Beduinen vorzugsweise gern zur Jagd abgerichtet werden, hoch oben in der Luft.Seinen scharfen Augen wurde es nicht schwer, zwei Reiterzüge zu erkennen, welche in wohl stundenweiter Entfernung voneinander dem gleichen Ziele zuzustreben schienen.

Der im Osten sich südwärts bewegende Zug schien eine Kafila, eine Handelskarawane zu sein. Sie bestand aus vielleicht zwanzig Packkamelen und zehn berittenen Hedschahn. Acht der Reiter waren auf orientalische und zwei auf europäische Weise bewaffnet. Die ersteren trugen außer ihren dünnschaftigen Flinten noch lange Lanzen, deren breite, scharfe Stahlspitzen im Lichte der untergehenden Sonne glänzten. Der Schech el dschemali, welcher als Führer voranritt, war der dunkelste von ihnen und hatte fast negerartige, keineswegs vertrauenerweckende Gesichtszüge. Die letzteren beiden hätte man für Europäer halten können, und wenn sie das nicht waren, so stammten sie gewiß wenigstens aus dem Gharb, einem der nordafrikanischen Gestadeländer.

Der Falke stieß hoch oben in der Luft einen lauten schrillen Schrei aus. Als der Führer denselben vernahm, glitt ein befriedigtes Lächeln über seine bisher unbewegten Züge.

»Chabir - Führer, hast du den Vogel gehört?« rief ihm einer der beiden zu.

»Na'm, Sihdi - ja, Herr,« antwortete er.

»Wäre der Falke ein zahmer, so müßten Menschen in der Nähe sein. Ich halte ihn für einen wilden.«

»Hehk - so ist's!« antwortete der Führer kurz, indem es wie Schadenfreude um seine aufgeworfenen Lippen zuckte.

»Wann kommen wir zum Ruheplatz?«

»'an kharihb - bald.«

» Und werden wir dort sicher sein?«

» S'lon bilamahn - wie in Allahs Schoß« -

Der im Westen sich fast parallel bewegende Zug war jedenfalls eine Kafilat et tayyara, eine fliegende Karawane. Sie bestand aus vierzehn wohlbewaffneten dunkelfarbigen Männern, welche alle sehr gute Reitkamele ritten. Eins derselben war ein kostbares graues Bischarihnhedschihn. Derjenige, den es trug, schien der Anführer zu sein. Er hatte die Kapuze seines weißen Haïk zurückgeschlagen. Er war, wie seine Begleiter, ein Tedetu vom Stamme der Kra-an; doch zeigte sein kurzes wolliges Haar, daß Negerblut in seinen Adern floß, ein Umstand, dessen sich unter den Tibbu niemand zu schämen pflegt.

Auch er hörte den Schrei des Falkens.

» Ikh, ikh!« rief er, und auf diesen Befehl hielt sein Hedschihn an. Die anderen sammelten sich um ihn: »Hamdulillah - Allah sei Dank!« meinte er. »El Asward führt sie uns in die Hände. Es ist ihm gelungen, sie zu täuschen. Wenn wir uns nun gerade nach Osten wenden, werden wir ihre Darb (Spur) erreichen und dieselbe lesen können. Ich werde den Sakr rufen.«

Er steckte einen Finger in den Mund und stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Der Falke hörte ihn trotz der großen Entfernung und schwebte nach wenigen Augenblicken über den Reitern.

»Ta' ahl - komm her!« befahl der Reiter.

Der Vogel ließ sich gehorsam auf den hohen Knopf des Sattels nieder, wurde dort an einer Kette befestigt und erhielt eine lederne Haube aufgesetzt. Dann bogen die Reiter in einem rechten Winkel von ihrer bisherigen Richtung ab und hielten langsam gerade nach Osten zu, der Anführer immer an der Spitze des Zuges.

Als sie ungefähr eine halbe Stunde geritten waren, hielt er an, deutete in die Ferne und sagte nur das eine Wort:

» Hunahk - dort!«

Aus der Richtung, in welche er zeigte, sah man Lanzenspitzen schimmern. Die Vierzehn zogen sich vorsichtig hinter die Sanddünen, zwischen denen sie hielten, zurück und setzten erst nach einer Weile ihren Ritt fort. Bald erreichten sie die Spur der anderen Karawane. Der Anführer ließ sein Tier niederknieen und stieg ab, um die Fährte zu untersuchen.

» Dreißig Hawawihn (Tiere),« sagte er. »Es sind die, welche wir verfolgen. Am Bir Fetna wird Allah sie in unsere Hände geben, und dann werden wir die Beute teilen und reicher sein als je zuvor. Laßt uns ihnen jetzt langsam folgen, damit El Aswad uns nicht so lange zu suchen hat!«

Es war klar: die vierzehn Reiter bildeten eine Gum, eine Raubkarawane, und El Aswad, der Führer der Handelskarawane, war ihr heimlicher Verbündeter. Er wollte diejenigen, welche sich ihm anvertraut hatten, in die Hände der Wüstenräuber liefern. Er hatte sich nur zu diesem Zwecke von den nichts ahnenden Reisenden als Chabir engagieren lassen. Daß die Räuber arabisch sprachen und nicht ihren Tedagadialekt, war ein Zeichen, daß sie ihre unheimlichen Züge weit über die Grenzen ihres Stammes hinaus zu unternehmen pflegten.

Während sie den Spuren folgten, erreichte die Sonne den Horizont; aber den Reitern fiel es gar nicht ein, anzuhalten, um das Abendgebet zu sprechen. Es wurde sehr schnell dunkel; dann stieg das Kreuz des Südens auf, und beim Scheine der Sterne wurde der Ritt fortgesetzt, bis die Kamele von selbst ihre Schritte beschleunigten; das deutete darauf hin, daß das Wasser der Oase in der Nähe sei. Der Anführer ließ halten. Seine Leute stiegen ab und lagerten sich im Sande. Da warteten sie mehrere Stunden lang, bis sich ganz in der Nähe das leise Bellen eines Fennek, eines Wüstenfüchschens, hören ließ. Der Anführer beantwortete dasselbe, und bald tauchte der Führer der anderen Karawane aus dem Dunkel auf. Der erstere empfing ihn mit den Worten:

» Seit einer Woche habe ich deine Stimme nicht vernommen, obgleich wir stets in deiner Nähe gewesen sind. Heute sind wir am Bir el amwat (Brunnen der Toten) angelangt, an welchem wir schon viele den Tod haben trinken lassen. Nun werden wir endlich erfahren, wer die Herren deiner Kafila sind.«

» Es sind zwei reiche Tuggar (Kaufleute) aus Tarabulos el Gharb (Tripolis), welche Waffen, Seide und andere Kostbarkeiten nach Bornu bringen wollen. Sie sind begleitet von sieben Beni Riah, welche wir nicht zu töten brauchen, weil sie sich nicht verteidigen werden. Von Temissa habe ich sie über Wau gerade in die Wüste geführt und dir nach dem Duar (Lager) Nachricht geben lassen. Jetzt schlafen sie am Bir Fetna (Brunnen der Akazien), und ich werde euch zu ihnen führen.«

» Welchen Namen tragen sie?«

» Der eine wird nur Abu el Hamaïl genannt, weil er zwei Kurans am Halse hängen hat, und der andere heißt Halef Ben Dschubar.«

Hamaïl ist ein Kuran, welchen man sich in Mekka kauft und dann zum Zeichen, daß man ein Hadschi ist, sichtbar am Halse trägt.

» Zwei Hamaïls? So war er zweimal in der Stadt des Propheten und ist ein sehr frommer Mann. Aber er wird dennoch heute sterben müssen, denn wir brauchen seine Sachen. Allah wird ihm das ewige Leben geben, und ich werde ihm einen Ihram weihen, wenn ich selbst nach Mekka komme. Auch mein Vater war zweimal dort. Er hatte zwei Hamaïls. Eins davon hat er einem Manne geschenkt, welcher ihm das Leben rettete, als die Tuareg-Kel-Tinalkuhm ihn töten wollten. Allah danke es ihm im siebenten Himmel. Jetzt macht euch bereit, ihr Männer! El Aswad wird uns führen.«

Die Männer hatten nicht nur einmal einen Ueberfall ausgeführt. Sie wußten, was sie zu thun hatten. Sie entledigten sich ihrer weißen Haïks, durch deren schimmernde Farbe das Anschleichen erschwert gewesen wäre, und ließen auch die Schußwaffen zurück. Nur die breiten, scharfen, dolchartigen Sekakihn nahmen sie zu sich. Dann folgten sie dem voranschreitenden Verbündeten nach der nahen Oase.

Da, wo der Brunnen aus der Erde quoll, war er von einem Gebüsch ägyptischer Akazien beschattet, daher sein Name Bir Fetna. Die Reisenden hatten sich von ihren Kamelpaketen eine Art Umwallung gebaut, innerhalb deren sie schliefen. Das von trockenem Kamelsmist genährte Feuer war fast am Verlöschen. Alle schliefen nach dem anstrengenden Ritte fest. Sogar die Wache, welche in einer Ecke kauerte, zwei Lanzen in der Hand, war vor Müdigkeit eingeschlafen. Der eben hinter den beweglichen Sanddünen aufgehende Vollmond beleuchtete die Scene mit südlicher Intensivität, vor welcher das Licht der Sterne verschwand. Er sollte den zwei Kaufleuten zum letztenmal leuchten.

Die Mitglieder der Raubkarawane legten sich zur Erde, von welcher ihre halb nackten, dunklen Leiber nicht zu unterscheiden waren, und schlichen sich unhörbar näher. Sie erreichten die Umwallung. Die Köpfe erhebend, blickten sie vorsichtig über dieselbe hinweg. Der Anführer wählte sich diejenige Stelle, an welcher die beiden Kaufleute lagen. Der eine derselben lag schnarchend auf dem Rücken in seinen Haïk gehüllt. Der andere lag auf der linken Seite und hielt selbst im Schlafe sein Gewehr fest in der Hand. Da bog sich der Anführer über die Umwallung und erhob seine Waffe zum tödlichen Stoße. Diesen Stoß erwarteten rundum seine Genossen, um dann unter fürchterlichem Geheul das übrige zu vollbringen.

Aber was war das? Der Tedetu hielt die Hand starr erhoben, stieß aber nicht zu. Sein Blick war auf ein Gepäckstück gerichtet, welches zu Häupten des Kaufmannes lag. Auf diesem wohlverschnürten Pack lagen zwei Bücher - zwei Hamaïls, welche der Schläfer vom Halse genommen hatte, um bequemer liegen zu können. Sie lagen nebeneinander, und dasjenige zur rechten Hand war an der Schnittseite des Buches mit einem starken, metallenen Schlosse versehen, dessen eigenartige Arbeit im hellen Mondenscheine deutlich zu erkennen war.

» Essuwal 'an ehsch - was gibt's denn?« fragte leise einer der beiden, welche hinter dem Zögernden kauerten. »Stoß doch zu!«

» Allah akbar - Gott ist groß!« antwortete er, indem er den Arm sinken ließ. »Das ist das Hamaïl meines Vaters. Allah hat verhüten wollen, daß ich den Retter meines Vaters töte.«

» Waih! Willst du die große Beute fahren lassen? Ist er auch der Retter?«

 

» Ich werde es sogleich erfahren. Wenn er es ist, so Wehe einem jeden von euch, der es wagen sollte, einem dieser Leute ein Haar zu krümmen oder ihnen das kleinste Stäubchen ihres Eigentums zu rauben!«

Dann rief er laut:

» Hadschi Omar Ben Kuwwad Ibn Hanßari!«

Im Nu sprang der Schläfer auf.

»Wer ruft mich?«

»Bist du der, den ich nannte?«

Erst jetzt sah der Kaufmann, daß sein Lager von fremden Gestalten umringt war. Er nahm schnell sein Gewehr empor, antwortete aber:

» Ich bin es, wer seid Ihr?«

» Hast du dieses Hamaïl geschenkt erhalten?«

» Ja, von einem Scheik der Tibbu, Namens Arun es Saleta.«

» Das war mein Vater. Ich bin Nowad Ben Arun es Saleta. Der Engel des Todes streckte bereits seine Hand nach dir aus und da - - -«

» Allah kerihm - Gott ist gnädig!« rief der Kaufmann erschrocken.

» Ja. Allah ist gnädig. Er hat dich errettet. Wir sind die Gum, und du befindest dich am Brunnen des Todes. Bereits schwebte mein Messer über dir, da erblickte ich das Hamaïl. Jetzt nun bist du bei uns so sicher wie unter den Zelten der Seligen, du, deine Begleiter und dein Eigentum. Und wir werden dich begleiten über die Berge und durch die jenseitige Hammada. Sag' nur das Wort, welches du zu sagen hast!«

Die Angreifer standen draußen vor und die erschrockenen Glieder der Handelskarawane innerhalb der Umwallung. Der Kaufmann erkannte die Gefahr, aus welcher ihn nur dieses Wort erretten konnte. Er sagte es:

» Dakilah ya Scheik - ich bin der Beschütze, o Herr!«

» Dakilah ya Scheik!« - riefen auch alle seine Gefährten.

»Ja, ihr seid die Beschützten!« antwortete der Räuber. »Ihr seid unsere Brüder. Das Hamaïl hat euch vom Tode errettet, und nun sagen wir euch den Gruß: Allah wa sahla wa marhaba - ihr sollt uns alle willkommen sein! - - -«

11. Das Paradies der Damen (Emile Zola)

Inhalt

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel Fünf­und­neunzig

Denise kam mit ihren beiden Brüdern zu Fuß vom Bahnhof Saint-Lazare. Sie waren eben erst von Cherbourg angekommen und hatten die ganze Nacht auf der harten Bank eines Eisenbahnwagens dritter Klasse zugebracht. Sie führte den kleinen Pépé an der Hand, während Jean ihr folgte; alle drei waren müde von der Reise und fühlten sich wie verloren in dieser ungeheuren Stadt Paris. Ihre erstaunten Blicke irrten über die hohen Häuser hinweg; bei jeder Straßenkreuzung erkundigten sie sich nach der Rue de la Michodière, wo ihr Onkel wohnte. Als sie endlich auf der Place Gaillon ankamen, blieb das Mädchen überrascht stehen.

»Schau einmal, Jean!« rief sie.

Wie angewurzelt standen sie da und schmiegten sich fest aneinander in ihren abgetragenen schwarzen Kleidern; sie waren in Trauer um den Tod ihres Vaters. Denise, ein für seine zwanzig Jahre recht schmächtiges Mädchen, trug in der einen Hand ein bescheidenes Bündel, während auf der anderen Seite ihr kleiner Bruder, der fünfjährige Pépé, an ihrem Arm hing. Hinter ihr stand Jean, ein sechzehnjähriger Bursche, der strotzte vor Kraft und Gesundheit.

»Ist das ein Geschäft!« fügte sie nach einer Weile bewundernd hinzu.

Es war ein Modewarenhaus an der Ecke der Rue de la Michodière und der Rue Neuve-Saint-Augustin, dessen Auslagen im milden Licht dieses Oktobermorgens in hellen Farben erstrahlten. Vom Kirchturm von Saint-Roch schlug es eben acht; auf dem Bürgersteig sah man nur Leute, die ihrer Arbeit nachgingen: Beamte, die in ihre Büros hasteten, Hausmädchen, die in den Läden Einkäufe zu besorgen hatten. Vor dem Eingang des Warenhauses standen zwei Gehilfen auf einer Doppelleiter und waren dabei, verschiedene Wollwaren auszuhängen. In einer Auslage nach der Rue Neuve-Saint-Augustin kniete ein anderer Gehilfe mit dem Rücken zum Fenster und legte blauen Seidenstoff sorgfältig in Falten. Im Innern des Geschäfts, in dem noch keine Kunden zu sehen waren und wo auch das Personal erst nach und nach eintraf, summte es aber schon wie in einem erwachenden Bienenkorb.

»Donnerwetter!« rief Jean. »Da kann Valognes sich ja verstecken … Dein Geschäft war lange nicht so schön.«

Denise nickte zustimmend. Sie hatte bei Cornaille, dem ersten Modewarenhändler von Valognes, zwei Jahre gearbeitet. Als sie jetzt plötzlich vor diesem Haus, vor diesem großartigen Geschäft stand, vergaß sie in ihrem Staunen alles übrige. An der stumpfen Ecke, die auf die Place Gaillon ging, befand sich eine hohe Glastür, die bis zum Zwischenstock reichte, umrahmt von kunstvoll zusammengesetztem, reich vergoldetem Zierat. Zwei sinnbildliche Figuren, lachende Frauengestalten, entrollten ein Band, auf dem zu lesen war: » Zum Paradies der Damen«. Dann folgte die Reihe der Auslagen längs der Rue de la Michodière und der Rue Neuve-Saint-Augustin, wo sie außer dem Eckgebäude noch je zwei Häuser einnahmen, die zu Erweiterungszwecken angekauft und vor kurzem erst eingerichtet worden waren. Das Geschäft erschien fast endlos mit seinen Schaufenstern im Erdgeschoß und seinen Spiegelscheiben im Zwischenstock, hinter denen man geschäftiges Treiben beobachten konnte.

»Zum Paradies der Damen«, las Jean und lachte vor sich hin. Er war ein hübscher Junge, der in Valognes schon seine kleinen Weibergeschichten gehabt hatte. »Das zieht die Leute an!«

Doch Denise stand immer noch versunken vor der Auslage zu seiten des Haupteingangs. Hier lag, sozusagen auf dem Gehsteig, ein ganzer Haufen von billigen Waren, Gelegenheitsartikel, welche die Kunden im Vorbeigehen anziehen sollten. Lange Bahnen der verschiedensten Stoffe ergossen sich aus dem Zwischenstock herab und flatterten wie Fahnen in allen Farben, schiefergrau, meerblau, olivgrün. Daneben hingen gleichsam als Umrahmung des Eingangs schmale Pelzstreifen als Kleiderbesatz herab. Unten schließlich waren in Fächern und auf Tischen mitten unter Stößen von Stoffresten Berge von Waren aufgestapelt, die für eine Kleinigkeit zu haben waren: gewirkte Handschuhe und Schals, Kopftücher, Leibchen, eine förmliche Ausstellung von Wintersachen in bunten, scheckigen, gestreiften Mustern. Es war ein riesiger Jahrmarkt; das Geschäft schien vor Überfülle bersten und seinen Überfluß auf die Straße ausschütten zu wollen.

Onkel Baudu war vergessen. Selbst der kleine Pépé, der keinen Augenblick die Hand seiner Schwester losließ, riß erstaunt die Augen auf. Ein rollender Wagen zwang sie alle drei, die Mitte des Platzes, wo sie bisher gestanden hatten, zu verlassen; unwillkürlich wandten sie sich der Rue Neuve-Saint-Augustin zu, folgten den Schaufenstern und blieben vor jeder Auslage stehen. Die letzte aber übertraf alles, was sie bisher gesehen hatten. Hier war eine Ausstellung von Seiden-, Atlas- und Samtstoffen in den prächtigsten Farben gezeigt: ganz oben die Samte, vom tiefsten Schwarz bis zum zarten Milchweiß; weiter unten die Atlasstoffe in Rosa, in Blau, in weichen Farbtönen; noch tiefer schließlich die Seidenstoffe, eine ganze Skala des Regenbogens, da ein Stück zu einer Schleife aufgebauscht, dort ein anderes in Falten gelegt, wie zum Leben erwacht unter den geschickten Händen der Dekorateure. Zu beiden Seiten aber waren in ungeheuren Stößen jene beiden Seidenarten aufgehäuft, die eine ausschließliche Spezialität des Hauses bildeten: »Pariser Glück« und »Goldhaut«, zwei Artikel, die eine Umwälzung im Modehandel hervorrufen sollten.

»Ach, diese Seide zu fünf Franken sechzig!« rief Denise, ganz hingerissen von dem »Pariser Glück«, aus.

Jean begann sich zu langweilen.

»Wo ist die Rue de la Michodière?« fragte er einen Vorübergehenden.

Man bezeichnete ihm die erste Straße rechts. Alle drei gingen denselben Weg zurück und um das Geschäft herum. Als sie in die Straße einbogen, wurde Denise durch ein anderes Schaufenster angelockt, in dem Damenkonfektionsartikel ausgestellt waren. So etwas hatte sie noch nie gesehen, sie blieb starr vor Bewunderung stehen. Da gab es Mäntel für jede Gelegenheit, vom einfachen Ballumhang zu neunundzwanzig Franken bis zum schweren Samtmantel, der mit achtzehnhundert Franken ausgezeichnet war. Auf den rundlichen Busen der Schaufensterpuppen bauschte der Stoff sich auf, die betonten Hüften ließen die zierliche Taille noch mehr hervortreten; der fehlende Kopf war durch eine große weiße Preistafel ersetzt, während die Spiegel zu beiden Seiten der Auslage in genau berechnetem Spiel die Figuren endlos vervielfältigten und so die Straße mit diesen schönen, verkäuflichen Frauen bevölkerten, die an Stelle des Kopfes eine große Tafel trugen, auf der in weithin sichtbaren Ziffern ihr Preis zu lesen war.

»Famos!« rief Jean, der keinen anderen Ausdruck für seine Bewunderung fand.

Auch er stand unbeweglich mit offenem Munde da. Beim Anblick all dieses weiblichen Luxus war er errötet vor Vergnügen. Er war hübsch wie ein Mädchen, von einer Schönheit, die er seiner Schwester geraubt zu haben schien, mit rosig schimmernder Haut, blondem, gelocktem Haar, verführerisch frischen Lippen und hellen Augen. Neben ihm erschien Denise noch unbedeutender mit ihrem schmalen Gesicht, der matten Farbe und dem fahlen Haar. Pépé mit dem hellblonden Kinderschopf drückte sich enger an sie, wie von einem unbestimmten Verlangen nach Liebkosungen getrieben. Sie bildeten eine so seltsame, reizende Gruppe, diese drei Blondköpfe in ihren abgenützten Trauerkleidern, das ernste Mädchen zwischen dem hübschen Kind und dem prächtigen Jüngling, daß die Vorübergehenden sich lächelnd nach ihnen umwandten.

Auf der Schwelle eines Ladens auf der anderen Seite der Straße stand seit einigen Augenblicken ein dicker, weißhaariger Mann mit breitem, gelblichem Gesicht und beobachtete die Gruppe. Mit zornfunkelnden Augen und zusammengekniffenen Lippen hatte er nach den Auslagen des »Paradieses der Damen« hinübergesehen, und der Anblick des Mädchens mit seinen beiden Brüdern erbitterte ihn noch mehr. Was hatten die Taugenichtse vor dieser marktschreierischen Auslage zu gaffen?

»Und der Onkel?« fragte Denise plötzlich, wie aus einem Traum auffahrend.

»Wir sind in der Rue de la Michodière«, sagte Jean. »Hier muß er wohnen.«

Sie hoben die Köpfe und blickten sich um. Da sahen sie gerade vor sich oberhalb der Tür, in welcher der dicke Mann stand, ein grün gestrichenes Firmenschild, auf dem in gelber, verwaschener Schrift zu lesen war: »Vieil Elbeuf, Tuch- und Flanellhandlung Baudu, vormals Hauchecorne«. Es war ein schmales Haus mit schmutziggrauem Verputz, eingezwängt zwischen den hohen Nachbargebäuden. Denise, in Gedanken noch bei den Herrlichkeiten des gegenüberliegenden Warenhauses, betrachtete überrascht den niedrigen Laden im Erdgeschoß, über dem ein ebenfalls nicht sehr hoher Zwischenstock mit halbmondförmigen Fenstern lag, die ihm das Aussehen eines Gefängnisses gaben. Rechts und links sah man zwei finstere, verstaubte Auslagen, in denen man undeutlich einen Haufen Stoffe erkennen konnte. Die offene Ladentür schien in einen feuchten, dunklen Keller zu führen.

»Da ist's«, sagte Jean.

»Nun, dann wollen wir hineingehen. Komm, Pépé!«

Sie fühlten sich alle drei scheu und unsicher. Als ihr Vater gestorben war, hinweggerafft von dem gleichen Fieber, dem einen Monat zuvor ihre Mutter erlegen war, hatte zwar der Onkel Baudu in der ersten Gefühlsregung über diesen doppelten Todesfall seiner Nichte geschrieben, es werde sich in seinem Hause stets ein Plätzchen für sie finden, wenn sie nach Paris kommen wolle, um hier ihr Glück zu versuchen; allein seit jenem Brief war fast ein Jahr verflossen, und Denise bereute jetzt, daß sie Valognes so plötzlich verlassen hatte, ohne ihren Onkel vorher zu verständigen. Er kannte sie gewiß nicht mehr, denn er war nie wieder in seine Heimat gekommen, seitdem er fortgegangen war, um als kleiner Gehilfe bei dem Tuchhändler Hauchecorne einzutreten, dessen Schwiegersohn er schließlich geworden war.

 

»Herr Baudu?« entschloß sich Denise endlich den dicken Herrn zu fragen, der sie noch immer verwundert betrachtete.

»Der bin ich!« lautete die Antwort.

Denise errötete und fügte stotternd hinzu:

»Ah, um so besser!… Ich bin Denise, und das ist Jean und das Pépé… Wie Sie sehen, sind wir gekommen, lieber Onkel.«

Baudu schien höchlichst betroffen. Seine großen, geröteten Augen flackerten in seinem gelblichen Gesicht, seine zögernden Worte zeigten seine Verwirrung. Er war offenbar tausend Meilen weit von dieser Familie entfernt, die ihm so unvermutet in seinen Laden fiel.

»Was, ihr hier?« wiederholte er mehrmals. »Aber ihr wart doch in Valognes! Warum seid ihr denn nicht dortgeblieben?«

Mit ihrer weichen, etwas zitternden Stimme erklärte sie ihm alles. Nach dem Tod ihres Vaters, der in seiner Färberei alles verwirtschaftet hatte, war sie gleichsam als die Mutter der beiden Kinder zurückgeblieben. Was sie bei Cornaille verdiente, reichte nicht hin, um alle drei zu ernähren. Jean arbeitete zwar bei einem Kunsttischler, der sich mit dem Aufarbeiten antiker Möbel beschäftigte, aber er verdiente keinen Sou dabei. Dagegen gewann er Geschmack an alten Dingen und begann Figuren aus Holz zu schnitzen. Eines Tages fand er irgendwo ein Stück Elfenbein und machte einen Kopf daraus; diese Arbeit gefiel einem vorübergehenden Herrn dermaßen, daß er den Geschwistern wenig später zuredete, nach Paris zu gehen, wo er für Jean einen Platz bei einem Elfenbeinschnitzer gefunden hatte.

»Jean fängt also morgen bei seinem neuen Lehrherrn an«, schloß Denise. »Ich brauche kein Lehrgeld zu bezahlen, Kost und Wohnung hat er frei. Ich dachte mir, daß ich und Pépé schon irgendwie unser Fortkommen finden werden. Schlimmer als in Valognes kann es uns doch hier nicht gehen.«

Eines allerdings verschwieg sie: eine Liebesgeschichte Jeans. Er hatte an ein junges Mädchen, die Tochter einer adeligen Familie der Stadt, Briefe geschrieben und über eine Mauer hinweg Küsse mit ihr ausgetauscht. Daraus war ein kleiner Skandal entstanden, der sie bestimmt hatte, Valognes zu verlassen. Sie begleitete ihren Bruder hauptsächlich nach Paris, um über ihn zu wachen; denn ihr Herz war von wahrhaft mütterlicher Besorgnis erfüllt, wenn sie diesen schönen und munteren Jungen sah, den alle Frauen anhimmelten.

Onkel Baudu konnte sich noch immer nicht fassen. Er begann wieder zu fragen.

»Hat denn dein Vater euch nichts hinterlassen? Ich dachte, er habe einen Sparpfennig. Ich habe ihm in meinen Briefen oft genug geraten, diese Färberei nicht zu übernehmen. Ein gutes Herz, aber nicht für zwei Sou Verstand! … Und du bist mit diesen Jungen zurückgeblieben und hast sie versorgen müssen?!«

Sein galliges Gesicht belebte sich; er sah nicht mehr so finster drein wie vorhin, als er das »Paradies der Damen« betrachtet hatte. Plötzlich bemerkte er, daß er den Eingang verstellte.

»So kommt herein«, rief er, »wenn ihr schon hier seid! Kommt herein, das ist gescheiter, als vor den Dummheiten dort drüben Maulaffen feilzubieten.«

Nach einem letzten Zornesblick auf das Geschäft gegenüber machte er den Kindern Platz, so daß sie eintreten konnten. Zugleich rief er Frau und Tochter.

»Elisabeth, Geneviève! Kommt, hier sind Gäste für euch!«

Aber Denise und die beiden Jungen zögerten angesichts des dunklen Ladens. Noch geblendet vom hellen Licht der Straße, blinzelten sie mit den Augen, tasteten sich mit den Füßen voran und rückten enger zusammen.

»Kommt, kommt!« wiederholte Baudu seine Einladung.

Er klärte Frau und Tochter in kurzen Worten auf. Frau Baudu war sehr blaß, offenbar bleichsüchtig, mit grauen Haaren, farblosen Augen und blutleeren Lippen; Genevieve, bei der sich die Krankheit ihrer Mutter noch deutlicher zeigte, war gebrechlich und farblos wie eine im Schatten aufgewachsene Pflanze. Nur eine Fülle von prächtigen schwarzen Haaren verlieh ihr einen etwas schwermütigen Reiz.

»Kommt herein!« sagten nun auch die beiden Frauen. »Seid willkommen!«

Sie ließen Denise hinter einem Ladentisch Platz nehmen. Pépé setzte sich sogleich auf ihre Knie, während Jean, an einen Schrank gelehnt, neben ihr stand. Sie wurden allmählich sicherer und blickten im Laden umher, an dessen Dunkelheit sich ihre Augen langsam gewöhnten. Düstere Warenballen türmten sich bis zur Decke empor. Der Geruch der Tücher und Stoffe wurde durch die Feuchtigkeit des Fußbodens noch verstärkt. Zwei Gehilfen und eine Verkäuferin waren im Hintergrund damit beschäftigt, weißen Flanell fortzuräumen.

»Der kleine Herr da möchte vielleicht etwas essen?« sagte Frau Baudu und wies lächelnd auf Pépé.

»Nein, danke«, erwiderte Denise; »wir haben in einem Cafehaus vor dem Bahnhof eine Tasse Milch getrunken.«

Als sie merkte, daß Genevieve aufmerksam das leichte Bündel betrachtete, das sie neben sich auf den Boden gelegt hatte, fügte sie hinzu:

»Ich habe den Koffer auf dem Bahnhof gelassen.«

Sie errötete, denn ihr wurde nun klar, daß man den Leuten nicht in dieser Weise mit der Tür ins Haus fallen durfte. Schon in der Eisenbahn hatte sie gleich nach der Abfahrt von Valognes Gewissensbisse empfunden; darum hatte sie auch ihren Koffer auf dem Bahnhof zurückgelassen und den Kindern vor der Stadt draußen ein Frühstück geben lassen.

»Nun wollen wir einmal kurz und in aller Offenheit miteinander reden«, sagte Baudu mit einemmal. »Ich habe dir geschrieben, das ist wahr. Aber seither ist fast ein Jahr verflossen, und das Geschäft ging sehr schlecht, mein Kind… «

Er hielt inne, von einem Gefühl erfaßt, das er sich nicht anmerken lassen wollte. Frau Baudu und Geneviève schlugen die Augen nieder.

»Es ist eine schwere Zeit, die vorübergehen wird«, fuhr der Onkel fort. »Da habe ich keine Sorge… Aber ich mußte mein Personal einschränken; es sind nur noch drei Angestellte da, und dies ist keineswegs der geeignete Zeitpunkt, jemand vierten einzustellen. Kurz: ich kann dich nicht ins Haus nehmen, wie ich es dir versprochen habe, mein armes Kind.«

Ganz blaß und bestürzt hatte Denise zugehört.

»Schon recht, Onkel!« stotterte sie endlich mühsam. »Ich werde mich bemühen, anderswo unterzukommen.«

Die Baudus waren keine schlechten Menschen. Aber sie klagten ständig darüber, daß sie niemals Glück gehabt hätten. Als das Geschäft noch gut ging, hatten sie fünf Söhne zu erziehen gehabt, von denen drei in jungen Jahren gestorben waren; der vierte war ein Taugenichts geworden, der fünfte als Hauptmann nach Mexiko gegangen. So blieb ihnen nur Geneviève. Alle Kinder hatten viel Geld gekostet, und den letzten Rest seines Kapitals hatte Baudu an den Kauf eines alten Hauses in Rambouillet gewendet, von wo seine Frau herstammte. Jetzt ärgerte er sich, daß ihm diese drei Kinder so ins Haus hereingeschneit kamen.

»Man muß sich doch anmelden«, sagte er, verdrossen über seine eigene Härte. »Du hättest mir einen Brief schicken können, und ich hätte dir geantwortet, daß ihr besser bleibt, wo ihr seid. Als dein Vater starb, habe ich dir freilich geschrieben, was man bei solchen Gelegenheiten schreibt. Und nun fallt ihr mir so unvermutet ins Haus, ohne vorher ein Wort zu sagen … «

Jean war blaß geworden. Denise drückte Pépé an sich; zwei schwere Tränen fielen auf ihre Hände, und sie wiederholte:

»Lassen Sie nur, Onkel; wir gehen schon.«

Es entstand ein verlegenes Schweigen. Dann sagte er in mürrischem Ton:

»Ich will euch ja nicht vor die Tür setzen. Da ihr einmal hier seid, werdet ihr bei uns übernachten; dann werden wir weitersehen.«

Frau Baudu und Genevieve entnahmen jetzt aus einem Blick des Familienoberhauptes, daß sie sich um die Sache kümmern dürften. Alles wurde geregelt. Mit Jean brauche man sich nicht weiter zu beschäftigen, hieß es, da er ja schon am folgenden Tag in die Lehre gehen wolle. Pépé wäre bei Frau Gras sehr gut aufgehoben, einer alten Frau, die in der Rue des Orties eine geräumige Erdgeschoßwohnung besaß und Kinder unter zehn Jahren für vierzig Franken monatlich in volle Verpflegung nahm. Denise bemerkte, sie habe genügend Geld, um für den ersten Monat die Pension zu bezahlen. Es handelte sich also bloß darum, sie selbst unterzubringen.