50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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»Hat nicht Vinçard eine Verkäuferin gesucht?« fragte Genevieve.

»Richtig, das ist wahr!« rief Baudu. »Wir wollen nach dem Essen zu ihm gehen. Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist.«

Diese Familienberatung war durch keine Kundschaft gestört worden. Der Laden blieb leer und finster. Die beiden Gehilfen und die Verkäuferin im Hintergrund setzten unter Flüstern und Tuscheln ihre Arbeit fort. Doch jetzt traten drei Damen ein, und Denise blieb mit dem Kind allein. Sie küßte Pépé, tief betrübt bei dem Gedanken an die bevorstehende Trennung. Anschmiegsam wie ein Kätzchen barg der Kleine schweigend seinen Kopf an der Brust der Schwester. Als Frau Baudu und Genevieve zurückkamen, erklärten sie Pépé für sehr artig, und Denise versicherte, daß er niemals Lärm mache, daß er ganze Tage still und ruhig bleibe und nur nach Zärtlichkeit verlange. Bis zum Essen sprachen die drei Frauen von diesem und jenem, von Kindern, von der Hauswirtschaft, vom Leben in Paris und in der Provinz; das Gespräch floß in kurzen, allgemeinen Sätzen dahin wie unter Verwandten, die einander noch nicht genau kennen und verlegen sind. Jean stand unbeweglich auf der Schwelle und beobachtete das Treiben auf der Straße; von Zeit zu Zeit lächelte er den vorübergehenden Mädchen zu.

Um zehn Uhr kam ein Dienstmädchen. Gewöhnlich wurde um diese Stunde für Herrn Baudu, Geneviève und den ersten Gehilfen der Tisch gedeckt. Um elf Uhr aßen Frau Baudu, der zweite Gehilfe und die Verkäuferin.

»Die Suppe ist aufgetragen!« rief der Onkel Denise zu.

Als in dem kleinen Speisezimmer, das an den Laden stieß, alles bei Tisch saß, rief er nach dem ersten Gehilfen, der noch auf sich warten ließ.

»Colomban!«

Der junge Mann entschuldigte sich, er habe die Flanelle fertig einräumen wollen. Er war mit seinen fünfundzwanzig Jahren körperlich kräftig, aber schwerfällig und hatte verschmitzte Gesichtszüge. In seinem biederen Gesicht mit dem großen, weichen Mund saßen zwei Augen, in denen die Schlauheit funkelte.

»Ach was, alles zu seiner Zeit!« sagte Baudu, der ein Stück kalten Kalbsbraten zerlegte mit der Vorsicht und Geschicklichkeit des geübten Hausvaters, der jede Portion mit dem Auge auf ein Quentchen abzuwägen weiß.

Er gab jedem seinen Anteil und schnitt sogar das Brot vor.

»Aber du ißt ja nicht, mein Kind?« meinte er nach einer Weile zu Denise. »Da wir jetzt Zeit haben zu plaudern: sag, warum hast du dich denn in Valognes nicht verheiratet?«

»Oh, Onkel! Wo denken Sie hin? Ich mich verheiraten!… Und die Kleinen?«

Sie fand den Gedanken so seltsam, daß sie darüber lachte. Und dann – welcher Mann würde sie auch zur Frau nehmen, sie, die keinen Sou besaß, schmächtig war wie eine Drossel und nicht einmal hübsch? Nein, nein; sie würde sich niemals verheiraten; sie hatte genug mit den beiden Kindern.

»Das ist nicht richtig«, sagte der Onkel. »Eine Frau braucht immer einen Mann. Wenn du einen braven Mann gefunden hättest, lägst du nicht mit deinen Brüdern auf der Straße wie die Zigeuner.«

Er hielt inne, um mit ebensoviel Sparsamkeit wie Gerechtigkeit eine Schüssel Kartoffeln mit Speck aufzuteilen, die das Dienstmädchen gebracht hatte. Dann fuhr er fort, während er mit dem Löffel auf Colomban und Geneviève zeigte:

»Schau, die zwei werden im Frühjahr heiraten, wenn das Geschäft im Winter gut läuft.«

So war es Tradition im Haus. Der Gründer, Aristide Finet, hatte seine Tochter Desirée seinem ersten Gehilfen Hauchecorne zur Frau gegeben; Baudu, der mit sieben Franken in der Tasche in das Geschäft eingetreten war, hatte Elisabeth, die Tochter Hauchecornes, geheiratet, und er war entschlossen, seine Tochter Geneviève samt dem Tuchladen seinem Angestellten Colomban zu überlassen, sobald nur die Geschäfte eine Wendung zum Besseren nehmen würden. Die Sache war seit drei Jahren abgemacht; er schob die Heirat nur eines Bedenkens wegen hinaus: in seiner eigensinnigen Rechtschaffenheit wollte er das Geschäft, das er blühend übernommen hatte, seinem Nachfolger nicht in schlechterem Stand übergeben.

Denise beobachtete Colomban und Geneviève. Sie saßen bei Tisch nebeneinander, aber sie wirkten ganz ruhig, da gab es kein Erröten, kein Lächeln. Seit dem Tag seines Eintritts rechnete Colomban mit dieser Ehe. Er hatte die verschiedenen Stufen gewissenhafter Ausbildung im Haus zurückgelegt, war zuerst Lehrling, dann Gehilfe geworden und zuletzt in den privaten Bereich der Familie einbezogen worden. All dies hatte er geduldig abgewartet, hatte das geregelte Leben eines Uhrwerks geführt und Geneviève wie ein ausgezeichnetes, ehrbares Geschäft betrachtet. Die Gewißheit, daß er sie besitzen werde, hatte dazu geführt, daß er kein Verlangen nach ihr empfand.

Auch das Mädchen hatte sich daran gewöhnt, ihn zu lieben, aber mit dem Ernst ihrer zurückhaltenden Natur und einer tief eingewurzelten Neigung, deren sie sich selbst kaum bewußt war. Ihre Zärtlichkeit hatte sich in diesem Erdgeschoß des alten Paris entfaltet, sie war wie eine Kellerblüte. Seit zehn Jahren kannte sie nur ihn, an seiner Seite verlebte sie ihre Tage hinter den Tuchstapeln im Dunkel des Ladens; und morgens und abends saßen sie nebeneinander in diesem engen Speisezimmer, wo es kühl war wie in einem Brunnen. Sie hätten draußen im freien Feld, unter dem Laubwerk der Bäume nicht verborgener, nicht unbewußter leben können. Nur ein Zweifel, eine Regung der Eifersucht konnte das junge Mädchen eines Tages zu der Entdeckung bringen, daß es sich in dem mitschuldigen Dunkel dieses Ladens, in der Leere seines Daseins und seiner inneren Unausgefülltheit gänzlich und für immer verschenkt hatte.

»Aber nun ist genug geplaudert, machen wir den andern Platz!« schloß der Tuchhändler und hob die Tafel auf.

Jetzt gingen Frau Baudu, der andere Gehilfe und die Verkäuferin zu Tisch. Denise blieb allein in der Nähe der Tür und wartete, bis ihr Onkel Zeit finden werde, mit ihr zu Vinçard zu gehen. Pépé spielte zu ihren Füßen, Jean hatte seinen Posten auf der Schwelle wieder eingenommen. Fast eine Stunde lang beobachtete Denise aufmerksam die Vorgänge im Geschäft. Ab und zu erschien Kundschaft, allein der Laden verlor nichts von seiner anfänglichen Muffigkeit, seinem Halbdunkel, in dem der ganze alte, rechtschaffene, einfache Handel seinen traurigen Niedergang zu beklagen schien. Um so interessanter war das Treiben gegenüber im »Paradies der Damen«, dessen Auslagen man durch die offene Tür sehen konnte. Schon seit dem Morgen empfand Denise eine innere Versuchung. Dieses ungeheure Warenhaus, in das sie binnen einer Stunde mehr Leute eintreten sah als bei Cornaille in sechs Monaten, verwirrte sie und zog sie an; eine unklare Furcht rang in ihr mit dem Verlangen, dort anzufangen. Der Laden ihres Onkels hingegen erweckte ein Gefühl des Unbehagens in ihr. Es war eine Geringschätzung, die sie nicht hätte begründen können, aber sie hegte nun einmal eine unwillkürliche Abneigung gegen die eisige Höhle dieses alten Geschäfts.

»Die haben wenigstens Kunden«, flüsterte sie vor sich hin. Sogleich bereute sie ihre Worte, als sie die Tante neben sich bemerkte. Frau Baudu stand ganz niedergeschmettert da, ihre glanzlosen Augen auf das Ungeheuer da drüben gerichtet, bei dessen Anblick ihr in stummer Verzweiflung die Tränen kamen. Geneviève dagegen beobachtete mit steigender Unruhe Colomban, der sich unbelauscht wähnte und mit entzückten Blicken die Verkäuferinnen der Konfektionsabteilung betrachtete, deren Ladentische man hinter den Fensterscheiben des Zwischenstocks sehen konnte. Baudu mit seinem galligen Gesicht begnügte sich damit, zu sagen:

»Nur Geduld! Es ist nicht alles Gold, was glänzt!«

Er preßte die Lippen aufeinander und wandte sich ab, um nicht länger Zeuge des lebhaften Treibens da drüben sein zu müssen.

»Wir wollen zu Vincard gehen«, sagte er. »Arbeitsplätze sind jetzt sehr gesucht; morgen wäre es vielleicht schon zu spät.«

Bevor er ging, gab er dem zweiten Gehilfen den Auftrag, Denises Koffer vom Bahnhof zu holen. Frau Baudu, der Denise Pépé anvertraut hatte, erklärte, sie wolle den freien Moment dazu benützen, den Kleinen nach der Rue des Orties zu Frau Gras zu bringen, um mit ihr ein Übereinkommen zu treffen. Jean versprach seiner Schwester, den Laden nicht zu verlassen.

»Wir sind in zwei Minuten dort«, sagte Baudu zu seiner Nichte, während sie durch die Rue Gaillon gingen. »Vinçard hat sich auf Seiden spezialisiert, sein Geschäft läuft noch einigermaßen. Natürlich hat er zu kämpfen wie jeder, obgleich er ein Geizkragen ist, wie man ihn nicht leicht wieder findet. Ich denke, er wird sich wegen seines Rheumatismus bald zurückziehen.«

Das Geschäft Vinçards befand sich in der Rue Neuve-des-Petits-Champs in der Nähe der Passage Choiseul. Es war sauber und hell, ganz modern, aber klein und nur mit einem dürftigen Warenlager versehen. Baudu und Denise trafen Vinçard in angelegentlicher Unterredung mit zwei Herren.

»Lassen Sie sich nicht stören«, rief der Tuchhändler; »wir haben Zeit und können warten.«

Er trat aus Höflichkeit in die Tür zurück und flüsterte seiner Nichte zu:

»Der Magere ist Zweiter in der Seidenabteilung beim ›Paradies der Damen‹; der Dicke ist ein Fabrikant aus Lyon.«

Denise merkte, daß Vinçard sein Geschäft Herrn Robineau, dem Angestellten aus dem »Paradies der Damen«, aufschwatzen wollte. Er versicherte, sein Haus sei eine wahre Goldgrube. Obgleich er vor Gesundheit strotzte, unterbrach er sich zuweilen, um zu stöhnen und über seine verdammten Schmerzen zu klagen, die ihn daran hinderten, sein Glück wahrzunehmen. Doch Robineau schnitt ihm ungeduldig das Wort ab; er wisse sehr wohl, sagte er, daß für Modeartikel eine kritische Zeit gekommen sei, und er führte eine Seidenfirma an, die durch die Nachbarschaft des »Paradieses der Damen« bereits zugrunde gerichtet sei. Doch Vinçard ereiferte sich und rief laut:

 

»Ach ja! Der Untergang dieses Gimpels Vabre war ja vorauszusehen! Seine Frau hat alles verschlungen … Und dann bin ich fünfhundert Meter weit weg, während Vabre sich Tür an Tür neben seinem Konkurrenten befand.«

Jetzt mischte Gaujean, der Seidenfabrikant, sich ein. Die Stimmen wurden leiser. Er beschuldigte die großen Warenhäuser, daß sie die französische Industrie ruinierten; ihrer drei oder vier diktierten allen übrigen die Preise und beherrschten den Markt. Der einzige Weg, sie zu bekämpfen, sei die Begünstigung des Kleinhandels, besonders der Spezialgeschäfte, denen die Zukunft gehöre. Er stellte denn auch Robineau einen weitgehenden Kredit in Aussicht.

»Sehen Sie nur, wie das ›Paradies der Damen‹ sich Ihnen gegenüber benommen hat! Da gibt es keine Rücksicht auf geleistete Dienste. Seit langem war Ihnen die Stelle des Ersten in Ihrer Abteilung zugesagt; da kam dieser Bouthemont an, niemand weiß, woher, und nahm Ihnen den Posten vor der Nase weg.«

Die Wunde, die man Robineau durch diese Ungerechtigkeit geschlagen hatte, war noch frisch. Allein er zögerte, sich selbständig zu machen. Das Geld gehöre nicht ihm, erklärte er; seine Frau habe sechzigtausend Franken geerbt, und er wollte sich lieber beide Hände abhacken lassen, als dieses Geld in zweifelhafte Geschäfte zu stecken.

»Nein, ich kann mich nicht entschließen«, sagte er endlich. »Lassen Sie mir Bedenkzeit; wir werden noch darüber reden.«

»Wie Sie wollen«, erwiderte Vinçard und suchte seinen Verdruß zu verbergen. »Es liegt ja nicht in meinem Interesse, das Geschäft zu verkaufen. Hätte ich nicht solche Schmerzen … «

Dann wandte er sich an Baudu und fragte:

»Womit kann ich Ihnen dienen?«

Der Tuchhändler, der mit einem Ohr gelauscht hatte, stellte Denise vor; sie habe zwei Jahre in der Provinz gearbeitet, und da Vinçard eben eine Verkäuferin suche …

Vinçard tat ganz verzweifelt.

»Ach, jetzt ist's zu spät! Acht Tage lang habe ich mich umgesehen, und vor zwei Stunden habe ich eine eingestellt!«

Alles schwieg. Denise schien so bestürzt, daß Robineau sie teilnahmsvoll betrachtete und sich eine Bemerkung erlaubte.

»Ich weiß, daß bei uns in der Konfektionsabteilung jemand gesucht wird.«

Baudu konnte einen Ausruf nicht unterdrücken.

»Bei Ihnen? Nein, danke bestens!«

Dann stand er ganz verlegen da. Denise war tief errötet. Sie würde es niemals wagen, dachte sie, in dieses große Warenhaus einzutreten, aber der Gedanke erfüllte sie doch mit Stolz.

»Warum denn nicht?« fragte Robineau überrascht. »Das wäre doch für das junge Fräulein recht günstig? Ich rate ihr, sich morgen bei der Direktrice, Frau Aurélie, vorzustellen. Es kann ihr ja nichts Schlimmeres passieren, als daß sie nicht angenommen wird.«

Um seinen Ärger zu vertuschen, verlor sich der Tuchhändler in allerlei verworrenes Gerede. Er kenne Frau Aurélie, meinte er, oder vielmehr ihren Mann, den Kassierer Lhomme, dem doch ein Omnibus den rechten Arm abgefahren habe. Dann kam er ganz unvermittelt wieder auf Denise zu sprechen.

»Es ist übrigens ihre Sache«, sagte er; »sie kann tun, was sie will.«

Mit einem Gruß verließ er den Laden. Vinçard begleitete ihn bis zur Tür und drückte ihm nochmals sein Bedauern aus. Denise war schüchtern mitten im Laden stehengeblieben und wartete begierig auf nähere Auskünfte von Robineau. Allein sie wagte kein Wort hervorzubringen, grüßte endlich und sagte:

»Vielen Dank, mein Herr.«

Auf der Straße eilte Baudu, wie von seinen Gedanken getrieben, rasch fort und zwang seine Nichte, fast zu laufen. In der Rue de la Michodière wollte er eben in seinen Laden treten, als ein benachbarter Kaufmann, der auf der Schwelle seines Geschäftes stand, ihn durch einen Wink herbeirief. Denise blieb stehen, um auf ihn zu warten.

»Was gibt's, Vater Bourras?« fragte der Tuchhändler.

Bourras war ein hochgewachsener Greis mit einem Prophetenkopf, langem Haar und Bart und durchdringenden Augen unter den dichten, buschigen Brauen. Er betrieb einen Handel in Spazierstöcken und Regenschirmen, übernahm auch Ausbesserungen und drechselte sogar Regenschirmgriffe, was ihm im Stadtviertel den Ruf eines Künstlers eingetragen hatte. Denise betrachtete erstaunt sein Haus. Es war ein altes Gebäude, eingekeilt zwischen dem »Paradies der Damen« und einem großen Haus im Stil Ludwigs XIV. Man konnte sich gar nicht erklären, wie es in diesen schmalen Spalt hineingeraten war, in dem seine beiden niedrigen Stockwerke schier erdrückt wurden.

»Denken Sie sich: er hat dem Besitzer meines Hauses geschrieben und ihm angeboten, es zu kaufen!« sagte Bourras empört zu dem Tuchhändler.

Baudu erbleichte noch mehr und zuckte zusammen. Da ließ Bourras seinem Zorn freien Lauf.

»Solange ich lebe, soll er keinen Stein davon besitzen! Mein Vertrag läuft noch zwölf Jahre … Wir werden schon sehen!«

Das war eine offene Kriegserklärung. Keiner von beiden hatte das »Paradies der Damen« beim Namen genannt. Baudu schüttelte den Kopf, dann ging er mit hängenden Schultern nach Hause und murmelte still vor sich hin:

»Mein Gott! Mein Gott!… «

Denise, die dieses Gespräch mit angehört hatte, folgte ihrem Onkel. Auch Frau Baudu kehrte eben mit Pépé heim. Sie erzählte, Frau Gras sei jederzeit bereit, den Kleinen zu übernehmen.

»Nun, wie war's bei Vinçard?« fragte sie.

Der Tuchhändler berichtete von seinem erfolglosen Weg, dann fügte er hinzu, jemand anderer habe seiner Nichte eine Stelle angeboten. Den Arm nach dem »Paradies der Damen« ausgestreckt, sagte er verächtlich:

»Die da drüben!«

Die ganze Familie fühlte sich dadurch verletzt. Beim Abendessen endlich brach der seit dem Morgen zurückgedrängte Strom der Empörung unaufhaltsam los.

»Es ist natürlich deine Sache, du bist ja frei in deiner Entscheidung«, wiederholte zunächst Baudu. »Wir wollen dich nicht beeinflussen … Aber wenn du wüßtest, was das für ein Haus ist!« In abgebrochenen Sätzen erzählte er die Geschichte dieses Octave Mouret. Ein Glückspilz sondergleichen! Da kam dieser Bursche aus dem Süden nach Paris mit der liebenswürdigen Keckheit eines Abenteurers, und schon am nächsten Tag hatte er Weibergeschichten. Schließlich war er auf frischer Tat ertappt worden. Es hatte einen Skandal gegeben, von dem noch heute im ganzen Stadtviertel gesprochen wurde. Und dann hatte er plötzlich und auf unerklärliche Weise Frau Hedouin erobert, die ihm das »Paradies der Damen« in die Ehe einbrachte.

»Die arme Caroline!« unterbrach ihn Frau Baudu. »Sie war eine entfernte Verwandte von mir. Wenn sie noch am Leben wäre, hätten sich die Dinge anders entwickelt. Sie würde nie zugeben, daß wir zugrunde gerichtet werden… Er hat auch sie umgebracht! Ja, mit seiner Bauerei! Als sie eines Morgens die Arbeiten besichtigte, stürzte sie in ein Loch, und drei Tage später war sie tot. Sie, die niemals krank gewesen war, die immer so gesund und schön war! Das Haus da ist mit Blut gebaut – man möchte fast meinen, daß es ihm Glück gebracht hat«, schloß sie, ohne Mourets Namen zu nennen.

Doch der Tuchhändler zuckte verächtlich die Schultern über solche Ammenmärchen.

»Ich glaube, Caroline, die selbst ein wenig romantisch veranlagt war, hat sich von den abenteuerlichen Plänen dieses Menschen gefangennehmen lassen. Kurz, er hat sie überredet, das Haus zur Linken und dann auch das zur Rechten anzukaufen, und hat selbst als Witwer noch zwei Gebäude dazuerworben. So ist dieses Warenhaus größer und immer größer geworden und droht uns heute alle zu verschlingen. Aber nur Geduld! Die Großtuer werden sich noch den Hals brechen. Mouret macht jetzt eine gefährliche Zeit durch; ich weiß es. Er hat sein ganzes Vermögen in diese tollen Erweiterungen und in die Reklame hineingesteckt. Um sich Geld zu verschaffen, hat er alle seine Angestellten überredet, ihre Ersparnisse bei ihm anzulegen. Er steht also jetzt ohne einen Sou da, und wenn nicht ein Wunder geschieht und es ihm nicht gelingt, seinen Umsatz zu verdreifachen, wie er hofft, so wird man einen Krach erleben, einen Krach! … Ha, ich bin nicht schadenfroh, aber an diesem Tag werde ich illuminieren, mein Wort darauf!«

So wetterte er fort. Hatte man je so etwas gesehen? Ein Modewarengeschäft, wo alles zu haben war, ein Basar also! Auch das Personal paßte dazu, ein Haufen Stutzer, die herumhantierten wie in einem Bahnhof; sie behandelten die Waren und die Käufer wie Pakete, verließen ihren Chef und wurden entlassen für nichts, mit einem einzigen Wort; diese Menschen hatten keine Anhänglichkeit, keine Sitten, kein Verständnis für das Geschäft! Die Kunst bestand schließlich nicht darin, viel zu verkaufen, sondern teuer zu verkaufen! Er nahm Colomban zum Zeugen: der war noch in der guten alten Schule erzogen, der wußte Bescheid!

»Du bist der letzte, mein Lieber!« erklärte er gerührt. »Nach dir kommt keiner mehr von deinem Schlag. Du bist mein einziger Trost, denn wenn ein solcher Trödelmarkt heute Handel genannt wird, dann verstehe ich nichts mehr von der Sache, dann will ich lieber abtreten.«

Geneviève betrachtete von der Seite den lächelnden Colomban, und in ihren Blicken lag etwas wie ein Argwohn, das Verlangen zu sehen, ob er, von Gewissensbissen getrieben, bei diesen Lobsprüchen nicht erröten werde. Allein er blieb ruhig wie immer, mit gutmütigem Gesichtsausdruck, nur um seinen Mund lag eine schlaue Falte.

Baudu fuhr indessen fort mit seinen Anklagen gegen diese Leute da drüben, die sich in ihrem Kampf ums Dasein benahmen wie die Wilden und es schließlich so weit brachten, daß sie ihr Familienleben gänzlich zerstörten. Man brauchte sich doch nur die Lhommes anzusehen. Sie hatten draußen auf dem Land ihren Besitz neben dem seinen, daher kannte er sie. Alle drei, Vater, Mutter und Sohn, waren im »Paradies der Damen« angestellt, aber man traf sie kaum jemals zusammen; ständig waren sie außer Haus, nur am Sonntag aßen sie daheim, im übrigen schienen sie im Restaurant zu leben. Nein, nein, meinte er, sein Speisezimmer sei zwar nicht übermäßig groß und könnte auch etwas mehr Licht und Luft vertragen, aber hier sei er zu Hause, bei den Seinen. Und er blickte in dem kleinen Raum umher, insgeheim zitternd bei dem Gedanken, die Tollhäusler da drüben könnten, wenn sie seine Firma vollends ruiniert hätten, ihn eines Tages aus diesem Loch vertreiben, wo er sich zwischen Frau und Tochter so behaglich fühlte.

»Ich sage das alles nicht, um dir die Lust zu vergällen«, meinte er schließlich, zu Denise gewandt. »Wenn es dir etwas nützt, in dieses Haus einzutreten, dann tu es nur. Ich will dich nicht zurückhalten. Aber ich frage dich, die du doch auch etwas vom Geschäft verstehst, ob es einen Sinn hat, daß ein einfaches Modewarenhaus alles mögliche feilbietet? Früher, als es noch einen rechtschaffenen Handel gab, verstand man unter Modewaren einfach Stoffe und weiter nichts. Heute denken diese Leute nur daran, auf Kosten anderer alles an sich zu reißen. Das ganze Stadtviertel jammert schon darüber. Dieser Mouret richtet sie alle zugrunde. Ich selbst habe bisher nicht allzu sehr zu klagen. Er schadet mir, das ist sicher; aber er führt vorläufig nur Damenstoffe, leichtere für Kleider und schwere für Mäntel. Herrenartikel dagegen kauft man immer noch bei mir, Samt für Jagdanzüge, Livreestoffe und dergleichen; ganz zu schweigen von Flanellen und Wolltuchen, in denen er wohl schwerlich so gut sortiert ist wie ich. Aber er fordert mich heraus; gerade vor unserer Tür, mitten in seiner Tuchauslage prahlt er mit seinen buntesten Konfektionsartikeln wie ein Jahrmarktschreier, um die jungen Mädchen damit zu ködern. Auf Ehre, ich würde mich schämen, zu solchen Mitteln zu greifen. Seit nahezu hundert Jahren ist mein Geschäft bekannt, und ich habe es nicht nötig, an meiner Tür solchen Köder für Maulaffen auszuhängen. Solange ich lebe, bleibt der ›Vieil Elbeuf‹ so, wie ich ihn übernommen habe, mit seinen vier Auslagen rechts und links und sonst nichts!«

Seine Erregung griff allmählich auf die ganze Familie über. Nach kurzem Stillschweigen erlaubte sich Geneviève die Bemerkung:

»Unsere Kunden bleiben uns treu, Papa. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben … Heute waren Frau Desforges und Frau von Boves wieder da. Ich erwarte auch Frau Marty, die sich Flanellstoffe ansehen wollte.«

»Und ich«, erklärte Colomban, »habe gestern von Frau Bourdelais einen Auftrag bekommen. Allerdings hat sie dabei einen englischen Cheviot erwähnt, der da drüben um zehn Sous billiger zu haben ist als bei uns.«

»Wenn man bedenkt«, sagte Frau Baudu mit ihrer kraftlosen Stimme vor sich hin, »daß wir dieses Haus gekannt haben, als es noch nicht größer war als eine Hutschachtel … Ja, meine liebe Denise, als die Brüder Deleuze es gründeten, bestand es aus einem Wandschrank, in dem kaum fünf Ballen Stoff Platz hatten, und einer einzigen Auslage nach der Rue Neuve-Saint-Augustin. Der Laden war so klein, daß man sich darin gerade umdrehen konnte. Und damals war der ›Vieil Elbeuf‹ schon sechzig Jahre alt und sah genauso aus wie heute … Ja, das hat sich alles geändert, sehr geändert!«

 

Sie schüttelte den Kopf, außerstande, dieses Drama zu begreifen. Sie war im »Vieil Elbeuf« geboren, sie liebte dieses Haus bis in seine feuchten Wände, lebte nur für es und durch es. Einst war es ihr Ruhm gewesen, das mächtigste im ganzen Stadtviertel; dann hatte sie zusehen müssen, wie die Konkurrenz gegenüber allmählich emporwuchs, anfangs mißachtet, später an Bedeutung dem eigenen Unternehmen gleich und nun eine immer gefährlichere Bedrohung. Sie ging am Abstieg ihres Hauses selber langsam zugrunde, sie fühlte, an dem Tag, an dem das Geschäft schließen mußte, würde es auch mit ihr zu Ende sein.

Erneut herrschte Stillschweigen. Baudu trommelte mit den Fingern auf dem Wachstuch des Tisches einen Marsch. Er fühlte sich müde, bedauerte fast, in dieser Weise wieder einmal sein Herz erleichtert zu haben.

»Unnützes Gerede!« rief er endlich. »Um zu einem Ende zu kommen: tu, was du für richtig hältst. Wir haben dir die Verhältnisse erklärt, das ist alles. Schließlich ist es deine Sache.«

Er drängte sie mit seinem Blick zu einer entschiedenen Antwort. Aber Denise, die durch diese Einzelheiten keineswegs abgeschreckt war, sondern sich nur noch mehr für das »Paradies der Damen« interessierte, begnügte sich damit, zu sagen:

»Kommt Zeit, kommt Rat, Onkel.«

Sie sprachen davon, bald zu Bett zu gehen, weil die Kinder müde seien. Da es aber erst sechs Uhr war, wollte sie selbst noch ein Weilchen im Laden bleiben. Die Nacht war hereingebrochen; draußen fiel seit einiger Zeit ein feiner, dichter Regen.

Denise gab der Versuchung nach und trat in die Tür. Der Anblick, den das »Paradies der Damen« in dieser späten Abendstunde bot, nahm das Mädchen vollends gefangen. In dieser großen Stadt, die im strömenden Regen schwarz und stumm dalag, in diesem ihr unbekannten Paris erstrahlte das Warenhaus wie ein Leuchtfeuer, es schien alles Licht und alles Leben der Stadt in sich zu vereinigen.

Als Denise sich umwandte, sah sie, daß die Baudus erneut hinter ihr standen. Es zog sie unwillkürlich immer wieder vor dieses Schauspiel, das ihnen doch das Herz brach. Geneviève war sehr blaß; sie hatte beobachtet, daß Colomban abermals die vor den Fenstern vorbeihuschenden Schatten der Verkäuferinnen im Zwischenstock betrachtete; und während Baudu vor verhaltener Wut fast erstickte, hatten sich die Augen Frau Baudus still mit Tränen gefüllt.

»Nicht wahr, du stellst dich morgen drüben vor?« fragte der Tuchhändler endlich seine Nichte, von der Ungewißheit verzehrt und doch zugleich in dem sicheren Gefühl, daß sie dem ›Paradies der Damen‹ bereits verfallen sei wie alle anderen.

Sie zögerte etwas, dann sagte sie sanft:

»Ja, Onkel, wenn es Sie nicht zu hart ankommt.«