50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Sechs­und­neunzig

Am folgenden Tag um halb acht Uhr morgens fand sich Denise vor dem »Paradies der Damen« ein. Sie wollte sich dort vorstellen und anschließend Jean zu seinem Lehrherrn bringen, der weit weg im Faubourg du Temple wohnte. Da sie gewohnt war, zeitig aufzustehen, war sie zu früh dran; die Angestellten kamen selber erst spärlich an, und da sie sich lächerlich zu machen fürchtete, ging sie noch eine kleine Weile auf und ab.

Es wehte ein kalter Wind, der das Pflaster bereits getrocknet hatte. Aus allen Straßen kamen jetzt eiligen Schrittes die Angestellten, den Kragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen, gleichsam überrascht von diesem ersten Winterschauer. Die meisten gingen allein und verschwanden im Hintergrund des Warenhauses, ohne mit ihren Kollegen ein Wort zu wechseln oder sie auch nur anzublicken. Andere kamen zu zweien oder dreien; in lebhaftes Gespräch vertieft, nahmen sie die ganze Breite des Bürgersteigs ein. Und alle warfen, bevor sie eintraten, mit der gleichen Handbewegung den Rest ihrer Zigarre oder Zigarette in den Rinnstein.

Denise bemerkte, daß mehrere der Männer sie im Vorübergehen anblickten. Da nahm ihre Schüchternheit noch zu. Sie fühlte nicht mehr die Kraft, ihnen zu folgen, und beschloß zu warten, bis der Strom der Angestellten versiegte. Sie errötete bei dem Gedanken, unter der Tür zwischen all diesen Männern hin- und hergestoßen zu werden. Um den Blicken zu entgehen, machte sie langsam die Runde um die Place Gaillon.

Als sie zurückkam, fand sie vor dem »Paradies der Damen« einen langen, blassen, schlaksigen Jüngling, der gleich ihr seit einer Viertelstunde hier zu warten schien.

»Fräulein«, fragte er sie endlich mit stotternder Stimme, »sind Sie vielleicht Verkäuferin hier in diesem Haus?«

Sie war so verblüfft darüber, von einem ihr unbekannten jungen Mann angesprochen zu werden, daß sie nicht sogleich antwortete.

»Ich möchte nämlich gern hier unterkommen«, fuhr er noch verlegener fort, »und ich dachte, daß Sie mir vielleicht Auskunft geben könnten.«

»Ich würde Ihnen gern helfen«, antwortete sie endlich; »aber es geht mir wie Ihnen; ich will mich auch vorstellen.«

»Ach so! Ganz recht!« sagte er, völlig außer Fassung.

Nun erröteten sie alle beide; schweigend und schüchtern standen sie einander gegenüber, gerührt durch die Ähnlichkeit ihrer Lage und doch zu zaghaft, um sich gegenseitig laut einen guten Erfolg zu wünschen. Als schließlich keiner von beiden mehr etwas zu sagen wußte und ihre Verwirrung nur größer wurde, gingen sie linkisch auseinander und warteten einige Schritte entfernt, jeder für sich.

Immer noch kamen Angestellte. Denise hörte sie ihre Spaße machen, wenn sie an ihr vorüberkamen und ihr einen Seitenblick zuwarfen. Sie wurde immer verlegener, das Ziel so vieler Blicke zu sein, und entschloß sich gerade, einen Spaziergang von einer halben Stunde durch das Stadtviertel zu machen, als der Anblick eines jungen Mannes, der raschen Schritts aus der Rue Port Mahon kam, sie einen Augenblick zurückhielt. Es mußte ein Abteilungsleiter sein, denn alle Angestellten grüßten ihn. Er war groß, die Haut zart und hell, der Bart sorgfältig gepflegt; seine Augen, die er im Vorbeigehen einen Moment auf ihr ruhen ließ, waren goldbraun und samtweich. Er war längst mit gleichgültiger Miene im Warenhaus verschwunden, als sie noch immer unbeweglich, wie gebannt von diesem Blick dastand, von einer seltsamen Erregung ergriffen, in der ein Gefühl des Unbehagens überwog. Wieder kam die Angst über sie; sie ging langsam die Rue Gaillon, dann die Rue Saint-Roch hinab in der Hoffnung, ihren Mut wiederzufinden.

Der junge Mann war mehr als ein Abteilungsleiter; es war Octave Mouret selbst. Er hatte die verflossene Nacht nicht geschlafen; nach einer Abendgesellschaft bei einem Wechselagenten war er mit einem Freund und zwei Frauen, die sie hinter den Kulissen eines kleinen Theaters aufgelesen hatten, noch essen gegangen. Sein zugeknöpfter Mantel verbarg den Frack und die weiße Krawatte. Er stieg rasch in seine Wohnung hinauf, um sich zu waschen und die Kleidung zu wechseln. Als er in sein Arbeitszimmer, das im Zwischenstock lag, zurückkehrte und an seinem Schreibtisch Platz nahm, war er wieder frisch, sein Blick war klar, er war völlig beim Geschäft, als habe er zehn Stunden in seinem Bett zugebracht. Das geräumige Arbeitszimmer hatte eichene, mit grünem Rips überzogene Möbel. Die einzige Zierde des Raumes war ein Bild: das Porträt jener Frau Hédouin, von der man im Stadtviertel noch immer sprach. Octave bewahrte ihr ein zärtliches Andenken und zeigte sich im Gedächtnis sehr dankbar dafür, daß sie ihm durch die Heirat ein Vermögen zugebracht hatte. Bevor er daran ging, die Wechsel zu unterschreiben, die auf seinem Tisch lagen, warf er auch jetzt ein Lächeln zu dem Bild empor, das Lächeln eines Glücklichen. Hier vor ihren Augen fand er sich immer wieder ein, um zu arbeiten, wenn er sich die Zerstreuungen eines jungen Witwers gegönnt hatte, wenn er aus den Schlafzimmern heraus war, in die er sich in seinem Bedürfnis nach Vergnügen verirrt hatte.

Es klopfte an die Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat ein junger Mann ein, groß und hager, mit schmalen Lippen, spitzer Nase, elegant gekleidet, die langen Haare, in denen schon einige graue Strähnen zu sehen waren, glatt nach hinten gestrichen. Mouret schaute einen Moment auf, dann sagte er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen:

»Gut geschlafen, Bourdoncle?«

»Danke, sehr gut«, erwiderte der junge Mann, der mit vertraulicher Ungezwungenheit im Raum umherging.

Bourdoncle, Sohn eines armen Pächters aus der Umgebung von Limoges, war gleichzeitig mit Mouret im »Paradies der Damen« eingetreten zu einer Zeit, als das Geschäft noch kaum mehr als die Ecke der Place Gaillon einnahm. Sehr klug, sehr tätig, schien er damals ganz dazu angetan, seinen Kameraden zu verdrängen, der, weniger ernsthaft veranlagt, ständig mit Weibergeschichten zu tun hatte. Allein Bourdoncle hatte nicht den genialen Zug dieses leidenschaftlichen Provenzalen, es fehlte ihm dessen kühner Schwung, seine überwältigende Liebenswürdigkeit. Übrigens hatte er sich mit sicherem Instinkt vom ersten Augenblick an widerstandslos dem andern gebeugt. Als Mouret seinen Angestellten den Rat erteilt hatte, ihr Geld in seinem Geschäft anzulegen, hatte Bourdoncle als einer der ersten nachgegeben und ihm sogar eine Erbschaft anvertraut, die ihm von einer Tante unerwarteterweise zugefallen war. Und nachdem er alle Stufen emporgeklettert war, erst Verkäufer, dann Zweiter, schließlich Leiter der Seidenabteilung, war er schließlich einer der Stellvertreter des Inhabers geworden, der geschätzteste und angesehenste, einer der sechs Teilhaber, die den Chef in der Leitung des Hauses unterstützen, eine Art Ministerrat unter einem absoluten Herrscher. Jeder von ihnen überwachte ein Teilgebiet; Bourdoncle hatte die Oberaufsicht.

»Und wie haben Sie die Nacht zugebracht?« fragte er vertraulich.

Als Mouret ihm erwiderte, daß er gar nicht zu Bett gegangen sei, schüttelte er den Kopf und brummte:

»Sehr unvernünftige Lebensweise!«

»Wieso denn?« meinte der andere vergnügt. »Ich bin weniger müde als Sie. Sie haben vom Schlaf verklebte Augen; Sie werden ganz schwerfällig, wenn Sie allzu solide sind. Amüsieren Sie sich: das muntert die Gedanken auf.«

Sie stritten oft freundschaftlich über diesen Gegenstand. Bourdoncle hatte anfangs seine Geliebten geprügelt, weil sie, wie er sagte, ihn nicht schlafen ließen. Jetzt gestand er offen, daß er die Frauen hasse. Indessen hatte er sicherlich auswärts Zusammenkünfte, von denen er nicht sprechen wollte, so wenig berührten sie sein Inneres; er begnügte sich damit, im Geschäft die weiblichen Kunden auszubeuten, wobei er sich voller Verachtung über die Leichtfertigkeit ausließ, mit der sie ihr Geld für so manchen unnützen Tand vergeudeten. Mouret dagegen tat sehr entzückt, war in Gegenwart der Frauen stets verführerisch, liebenswürdig und fortwährend in neue Liebschaften verwickelt. Und diese Liebschaften waren gleichsam eine Reklame für sein Geschäft; man war versucht zu sagen, daß er das ganze schöne Geschlecht in einer einzigen Umarmung umfange, um es desto sicherer zu betören und sich dienstbar zu machen.

»Ich habe gestern auf dem Ball Frau Desforges gesehen«, fuhr er fort. »Sie war reizend.«

»Aber Sie haben nicht etwa anschließend mit ihr gegessen?« fragte sein Teilhaber.

»Wo denken Sie hin!« rief Mouret. »Sie ist viel zu anständig für so etwas, mein Lieber … Nein, soupiert habe ich mit Héloise, der kleinen Schauspielerin aus den Folies. Sie ist dumm wie eine Gans, aber sehr drollig!«

Er nahm ein neues Bündel Wechsel zur Hand und fuhr fort zu unterschreiben. Unterdessen ging Bourdoncle im Zimmer auf und ab. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick durch die hohen Fensterscheiben auf die Rue Neuve-Saint-Augustin; dann kam er zum Schreibtisch zurück und sagte:

»Sie werden sich rächen.«

»Wer denn?« fragte Mouret zerstreut.

»Nun, die Frauen.«

Diese Bemerkung versetzte Mouret erst recht in heitere Stimmung; er kehrte die Brutalität hervor, die sich unter all der Anbetung der Frauen verbarg. Verächtlich zuckte er die Achseln, um gleichsam damit auszudrücken, daß er sie wie leere Säcke abschütteln werde, sobald sie ihm zum Aufbau seines Vermögens verholfen hätten. Bourdoncle aber wiederholte eigensinnig:

»Sie werden sich rächen … Es wird sich eine finden, die alle übrigen rächt; es ist ein Verhängnis mit den Frauen.«

»Da habe ich keine Angst!« rief Mouret. »Diese eine ist noch nicht geboren. Wenn sie kommt, wird sie an mir ihren Gegner finden.«

Sie schwiegen; man hörte nichts als das Gekritzel der Feder Mourets. Auf seine kurzen Fragen gab Bourdoncle dann Auskunft über den großen Sonderverkauf von Winterartikeln, der am nächsten Montag stattfinden sollte. Es war ein gewagtes Unterfangen, die ganze Existenz des Hauses stand dabei auf dem Spiel; die im Stadtviertel umlaufenden Gerüchte waren nicht unbegründet.

 

Mouret hatte sich mit dem Elan eines Künstlers in dieses Unternehmen gestürzt, mit einem solchen Aufwand, mit einer solchen Leidenschaft für das Kolossale, daß er auch heute noch, trotz seiner ersten Erfolge, seine Teilhaber zuweilen in Bestürzung versetzte. Man tadelte ihn im stillen, daß er allzu rasch vorgehe; man beschuldigte ihn, daß er in gefährlichem Maße das Lager erweitert habe, ohne noch zu wissen, woher er die zusätzliche Kundschaft nehmen sollte; insbesondere zitterte man, als man sah, daß er alles Geld auf eine Karte setzte, ganze Berge von Waren anhäufte, ohne Rücklagen zu behalten.

Doch als Bourdoncle sich jetzt erlaubte, seine Besorgnisse über die allzu schnelle Erweiterung einiger Abteilungen des Hauses zu äußern, deren Rentabilität noch ungewiß war, lachte Mouret zuversichtlich und rief:

»Lassen Sie's gut sein, mein Lieber, das Haus ist noch immer zu klein.«

Der andere war völlig verblüfft, von einer Angst erfaßt, die er gar nicht zu verbergen suchte. Das Haus zu klein! Ein Modewarenhaus, in dem es neunzehn Abteilungen gab und das vierhundertdrei Angestellte beschäftigte!

»Trotzdem«, sagte Mouret. »Ehe anderthalb Jahre vergehen, werden wir uns vergrößern müssen. Ich denke ernstlich daran. Gestern abend hat Frau Desforges mir versprochen, mich mit einem Herrn bekannt zu machen … Kurz, wir werden später noch darüber reden, wenn die Sache spruchreif ist.«

Bevor sie nun aber zu ihrem üblichen Rundgang ins Geschäft hinuntergingen, besprachen sie noch einige Einzelheiten miteinander. Sie sahen sich das Muster eines Abreißblocks an, den sich Mouret für die Verkaufsabrechnungen ausgedacht hatte. Er hatte nämlich festgestellt, daß die sogenannten Ladenhüter um so rascher abgesetzt wurden, je größer die Provision war, die er seinen Angestellten gab. Daraufhin hatte er etwas völlig Neues eingeführt. Er beteiligte seither seine Angestellten an allem, was sie umsetzten, und gab ihnen Prozente für den kleinsten Stoffrest, für den geringsten Artikel, den sie verkauften. Diese Einrichtung hatte einen wahren Kampf ums Dasein unter den Angestellten entfacht, einen Kampf, der den Geschäftsinhabern zugute kam.

Das Muster wurde für gut befunden. Auf dem oberen Teil des Blocks wie auf dem Abriß waren Abteilung und Nummer des Verkäufers angegeben; dann befanden sich auf beiden Teilen gleiche Rubriken für die Meter- oder Stückzahl, die Art des Artikels und den Preis; der Verkäufer hatte das Blatt nur zu unterzeichnen, bevor er es an der Kasse abgab. Auf diese Weise war die Überprüfung sehr einfach, es genügte, die abgegebenen Kassenzettel mit den in den Händen der Angestellten gebliebenen Kontrollabschnitten zu vergleichen. Jede Woche konnten so die Verkäufer ihre Provisionen abheben, ohne daß ein Irrtum möglich war.

»Wir werden weniger bestohlen werden«, bemerkte Bourdoncle zufrieden; »das war ein ausgezeichneter Gedanke von Ihnen.«

»Ich habe diese Nacht noch an andere Dinge gedacht«, sagte Mouret. »Ich hätte Lust, den Leuten unserer Abrechnungsstelle eine Prämie für jeden Fehler auszusetzen, den sie in den Kassenblocks entdecken. So sind wir sicher, daß sie die Prüfung sorgfältig vornehmen.«

Er begann zu lachen, während der andere ihn bewundernd anblickte.

»Also gehen wir hinunter«, meinte er dann. »Wir müssen uns um den Sonderverkauf nächste Woche kümmern. Die Seidenstoffe sind gestern angekommen? Bouthemont wird wohl in der Annahmestelle sein.«

Bourdoncle folgte ihm. Die Warenannahme lag im Keller nach der Rue Neuve-Saint-Augustin zu. Zu ebener Erde befand sich ein verglaster Vorraum, in dem die ankommenden Waren abgeladen wurden. Nachdem sie gewogen waren, glitten sie auf einer Rutschbahn in die Tiefe.

Einen Augenblick blieb Mouret hier stehen. Es herrschte reger Betrieb: lange Reihen von Kisten kamen die schräge Bahn herab, von unsichtbaren Händen auf den Weg geschickt. In dem fahlen Licht, das durch die breiten Kellerfenster hereinfiel, war eine Schar von Männern damit beschäftigt, die herabgleitenden Sendungen in Empfang zu nehmen, eine andere Gruppe hatte die Aufgabe, unter der Aufsicht des Abteilungsleiters die Kisten und Ballen zu öffnen. Die Betriebsamkeit einer Werkstatt erfüllte den ganzen Keller.

»Ist alles da, Bouthemont?« fragte Mouret einen kräftig gebauten jungen Mann, der eben dabei war, den Inhalt einer Kiste festzustellen.

»Es wird wohl jetzt alles angekommen sein«, erwiderte Bouthemont. »Aber ich werde den ganzen Vormittag mit der Abnahme vollauf zu tun haben.«

Der Abteilungsleiter stand an einem großen Tisch, und während einer seiner Verkäufer Stück für Stück die Seiden aus der Kiste nahm und vor ihm stapelte, verglich er jeden Posten mit den Angaben auf dem Begleitschein. Um sie herum reihte sich Tisch an Tisch, sämtlich vollgepackt mit Waren, die von einem Heer von Angestellten geprüft wurden. Es war ein allgemeines Auspacken, ein scheinbares Durcheinander von Stoffen, die unter lebhaftem Stimmengewirr hin- und hergewendet, geprüft und schließlich ausgezeichnet wurden.

Bouthemont, der in seinem Fach schon einen gewissen Ruf genoß, hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht, einen pechschwarzen Bart und schöne, braune Augen. Er war etwas prahlerisch veranlagt, für den Verkauf nicht sonderlich geeignet, im Einkauf dagegen unbezahlbar. Sein Vater, der in Montpellier ein kleines Modewarengeschäft führte, hatte ihn nach Paris geschickt, damit er etwas Rechtes lerne. Als es ihm aber genug erschienen war und er den Sohn hatte zurückrufen wollen, damit er das väterliche Geschäft übernehme, hatte der junge Mann sich geweigert, Paris zu verlassen. Seither hatte sich die Kluft zwischen Vater und Sohn mehr und mehr vertieft. Der Alte hielt an seinem Kleinhandel fest und war ganz empört, als er sehen mußte, daß ein einfacher Angestellter das Dreifache von dem bekam, was er selbst verdiente. Der Sohn dagegen machte sich lustig über den Betrieb daheim, prahlte mit seinen Errungenschaften und stellte alles auf den Kopf, wenn er zuweilen nach Hause kam. Gleich den übrigen Abteilungsleitern bezog er außer seinen dreitausend Franken Jahresgehalt noch eine Umsatzprovision. Er hatte im Einkauf völlig freie Hand, reiste fast jeden Monat nach Lyon, um bei den Fabriken seine Bestellungen aufzugeben, und mußte nur von Jahr zu Jahr in einem bestimmten Verhältnis den Umsatz seiner Abteilung steigern.

Bourdoncle hatte mittlerweile einen der Stoffe zur Hand genommen, dessen Griffigkeit er mit der Miene des Fachmanns prüfte. Es war eine Seide mit blau-silberner Webkante, das berühmte »Pariser Glück«, mit dem Mouret einen entscheidenden Schlag führen wollte.

»Die Seide ist wirklich sehr gut«, murmelte Bourdoncle.

»Und vor allem wirkungsvoll«, bemerkte Bouthemont. »Bleibt es dabei: wir zeichnen sie mit fünf Franken sechzig aus? Sie wissen, das ist knapp der Einkaufspreis.«

»Ja, fünf Franken sechzig«, erwiderte Mouret lebhaft; »wenn es nach mir allein ginge, würde ich sie mit Verlust weggeben.«

Der Abteilungsleiter lachte laut auf.

»Das wäre mir nur angenehm; sie ginge dann dreimal so schnell weg, und mir liegt ja daran, daß recht viel verkauft wird.«

Bourdoncle hingegen blieb ernst und kniff die Lippen zusammen. Er bezog seine Prozente vom Reingewinn, folglich hatte er kein Interesse an herabgesetzten Preisen. Die Kontrolle, die er übte, war hauptsächlich darauf gerichtet, die Auszeichnung zu überwachen, damit Bouthemont, um seine Umsätze zu vergrößern, nicht mit zu niedrigen Spannen arbeitete.

»Wenn wir sie mit fünf Franken sechzig abgeben, ist es so gut wie mit Verlust verkauft«, bemerkte er, »denn wir dürfen unsere sehr beträchtlichen Unkosten nicht vergessen. Überall sonst würde man sie für sieben Franken verkaufen.«

Mouret wurde ärgerlich, schlug mit der flachen Hand auf die Seide und rief erregt:

»Das weiß ich ja, und deshalb will ich meinen Kunden ein Geschenk damit machen! Mein Lieber, Sie werden die Frauen niemals verstehen. Begreifen Sie denn nicht, daß sie sich um den Stoff reißen werden?«

»Natürlich! Und je mehr sie sich darum reißen, desto größer ist unser Verlust.«

»Wir werden an diesem Artikel einige Centimes verlieren. Was weiter? Ist das ein Unglück, wenn es uns damit gleichzeitig gelingt, alle Frauen anzulocken, ihnen mit unserer Warenmenge die Köpfe so zu verdrehen, daß wir mit ihnen anfangen können, was wir wollen, und sie den Inhalt ihrer Börsen ungezählt bei uns lassen? Die ganze Kunst, mein Lieber, besteht darin, sie Feuer fangen zu lassen, und dazu bedarf es eines Artikels, der ihnen schmeichelt, der Aufsehen erregt. Dann können Sie alles andere so teuer verkaufen wie woanders – sie werden immer glauben, es bei Ihnen billiger zu bekommen. Die ›Goldhaut‹ zum Beispiel, diesen Taft zu sieben Franken fünfzig, der überall zum selben Preis verkauft wird, werden sie ebenfalls für ein besonders günstiges Angebot halten, und das wird genügen, um unseren Verlust am ›Pariser Glück‹ zu decken. Warten Sie nur ab! Ich will, daß das ›Pariser Glück‹ in acht Tagen die ganze Stadt in Aufruhr bringt, verstehen Sie? Es ist das große Los, es wird uns den Sieg sichern und uns zum Erfolg führen. Man wird von nichts anderem als von diesem Stoff reden. Sie sollen sehen, wie das unsere Konkurrenz im Kleinhandel trifft! Begraben lassen können sie sich allesamt, diese Trödler, die in ihren Kellern nach und nach am Zipperlein eingehen!«

Die Angestellten ringsum lächelten und lasen ihm die Worte vom Munde ab. Er hörte sich gern reden und wollte immer recht behalten. Und Bourdoncle gab wieder einmal nach.

»Den Fabriken ist am schlimmsten dabei zumute«, bemerkte nun Bouthemont. »In Lyon ist man wütend auf Sie; die Leute behaupten, daß Ihre niedrigen Preise sie zugrunde richten. Sie wissen, daß Gaujean mir mit aller Entschiedenheit den Krieg erklärt hat. Er will lieber den kleinen Häusern langfristige Kredite gewähren, ehe er meine Preise annimmt.«

Mouret zuckte die Achseln.

»Wenn Gaujean nicht zur Vernunft kommt«, sagte er, »wird er den kürzeren ziehen. Was wollen die Leute denn? Wir bezahlen bar und nehmen alles, was sie produzieren. Da ist es doch das wenigste, zu verlangen, daß sie billiger arbeiten! Im übrigen kommt es darauf an, daß das Publikum zufrieden ist.«

Einen Augenblick sah Mouret noch den Arbeiten zu, dieser Geschäftigkeit beim Auspacken der Waren, die allmählich den Keller fast bis an die Decke füllten; dann entfernte er sich wortlos, mit der Miene eines Feldherrn, der mit seinen Truppen zufrieden ist. Bourdoncle folgte ihm.

Langsam durchschritten sie den Kellerraum; durch die in gleichmäßigen Abständen angebrachten Fenster fiel ein mattes Licht herein; in den dunklen Winkeln, den schmalen Gängen brannten ständig Gasflammen. Im Vorübergehen warf Mouret einen Blick auf die Heizung, die am nächsten Montag zum erstenmal in Betrieb genommen werden sollte. Weiter links, nach der Place Gaillon zu, lagen die Küche und die Speiseräume, ehemalige Keller, die in kleine Säle umgewandelt worden waren. Endlich gelangte er am anderen Ende des Geschosses in den Warenabgang. Hierher kamen alle Pakete, die die Kunden nicht mitgenommen hatten. Sie wurden auf langen Tischen nach Zustellungsbereichen sortiert; über eine breite Treppe, die gerade dem »Vieil Elbeuf« gegenüber mündete, wurden sie dann in Wagen verladen.

»Campion«, sagte Mouret plötzlich zum Leiter der Abteilung, »weshalb sind sechs Paar Laken, die gestern gegen zwei Uhr von einer Dame gekauft wurden, nicht noch am gleichen Abend zugestellt worden?«

»Wo wohnt die Dame?« fragte Campion.

»Rue de Rivoli, an der Ecke Rue d'Alger … Frau Desforges.«

Zu dieser frühen Morgenstunde waren die Sortiertische noch leer, die Regale enthielten nur wenige Pakete, die vom Abend vorher zurückgeblieben waren. Campion blätterte in einem Buch und suchte dann unter den Paketen; Bourdoncle betrachtete mittlerweile Mouret und dachte bei sich, dieser verteufelte Mensch merke doch alles, beschäftige sich mit allem, selbst an den Tischen der Nachtlokale und in den Schlafzimmern seiner Geliebten. Endlich entdeckte der Vorsteher den Fehler: die Kasse hatte eine falsche Hausnummer angegeben, und das Paket war zurückgekommen.

»Welche Kasse?«

»Nummer zehn.«

»Nummer zehn? Das ist Albert, nicht wahr?« fragte Mouret, zu Bourdoncle gewandt. »Wir werden mit dem jungen Herrn ein Wörtchen reden.«

 

Vor seinem Rundgang durch das eigentliche Geschäft wollte er jedoch noch in die Versandabteilung hinauf, die mehrere Räume des zweiten Stocks einnahm. Hier liefen alle Bestellungen aus der Provinz und dem Ausland zusammen. Mouret kam jeden Morgen, um sich die Korrespondenz anzusehen. Seit zwei Jahren wuchs sie von Tag zu Tag. Ursprünglich waren hier zehn Angestellte beschäftigt gewesen, jetzt konnten dreißig nur mit Mühe die Arbeit bewältigen.

Oben angelangt, fragte Mouret wie gewöhnlich:

»Wieviel Briefe haben wir heute, Levasseur?«

»Fünfhundertvierunddreißig«, erwiderte der Abteilungsleiter.

»Ich fürchte, daß ich nach Eröffnung des Sonderverkaufs mit meinen Leuten nicht auskommen werde. Gestern sind wir nur mit knapper Not fertig geworden.«

Bourdoncle nickte befriedigt. An einem Dienstag hatte er nicht mit fünfhundertvierunddreißig Briefen gerechnet.

Dies war eine der kompliziertesten Abteilungen des Hauses, denn es war Vorschrift, daß alle am Morgen eingelaufenen Bestellungen bis zum Abend ausgeführt sein mußten.

»Sie sollen so viel Leute bekommen, wie Sie brauchen, Levasseur«, sagte Mouret, der mit einem Blick festgestellt hatte, daß hier alles reibungslos lief.

Im Stockwerk darüber, unter dem Dach, befanden sich die Schlafkammern der Verkäuferinnen. Doch Mouret ging jetzt hinunter und begab sich zur Hauptkasse, die neben seinem Arbeitszimmer lag. Der Raum war durch eine Glaswand mit Gitterfenstern gesichert: im Hintergrund sah man, in die Mauer eingelassen, einen riesigen Stahlschrank. Zwei Kassenführer verwalteten hier die Einnahmen, die Lhomme, der erste Kassierer, jeden Abend heraufbrachte; sie bestritten daraus sämtliche Ausgaben, bezahlten die Fabrikanten, das Personal und alle die Leute, die zu der kleinen Welt des Geschäfts gehörten. Von der Kasse gelangte man in einen zweiten Raum, wo zehn Angestellte damit beschäftigt waren, die Fakturen zu prüfen. Dann kam die Abrechnungsstelle; hier waren sechs junge Leute dabei, die Provisionsforderungen der Verkäufer an Hand der Kassenblocks zu überprüfen. Diese erst kürzlich eingerichtete Abteilung funktionierte schlecht.

Als Mouret und Bourdoncle plötzlich eintraten, fuhren die jungen Leute, die sich unterhalten hatten, anstatt zu arbeiten, überrascht zusammen. Anstatt ihnen einen Verweis zu geben, setzte Mouret ihnen auseinander, daß er ihnen von nun an für jeden Fehler, den sie in den Kassenabrechnungen entdeckten, eine kleine Prämie aussetzen wolle. Als er hinausgegangen war, hatte das Lachen und Scherzen ein Ende; die Angestellten stürzten sich mit einem wahren Feuereifer auf ihre Arbeit und suchten nach Fehlern.

Im Erdgeschoß ging Mouret geradeswegs auf die Kasse zehn los, wo Albert Lhomme auf Kunden wartete und sich soeben die Nägel polierte. Man sprach im Hause schon von der »Dynastie Lhomme«, seitdem Frau Aurélie, die Direktrice der Konfektionsabteilung, zuerst ihrem Mann den Posten des ersten Kassierers und dann auch noch ihrem Sohn die Stelle eines Abteilungskassierers verschafft hatte. Albert war ein blasser, liederlicher Bursche, der es nirgends lang aushielt und ihr viel Kummer machte.

Als sie bei dem jungen Mann angekommen waren, trat Mouret in den Hintergrund; es widerstrebte ihm, sich durch die Rolle des Gendarmen etwas zu vergeben; er wollte lieber der väterliche Gebieter bleiben. Er stieß Bourdoncle, den Zahlenmenschen, leicht mit dem Ellbogen an und betraute ihn wie üblich stillschweigend mit dem Strafgericht.

»Herr Albert«, sagte Bourdoncle laut, »Sie haben schon wieder eine Adresse falsch notiert, und das Paket ist zurückgekommen! … Das geht so nicht weiter!«

Der junge Kassierer suchte sich zu verteidigen und rief den Laufburschen Joseph, der das Paket fertiggemacht hatte, als Zeugen herbei. Dieser Joseph gehörte auch zur Dynastie Lhomme; er war ein Milchbruder Alberts und verdankte seine Stelle ebenfalls dem Einfluß von Frau Aurélie. Als Albert ihn drängen wollte, zu sagen, die Kundin sei selbst an dem Irrtum schuld, begann er zu stottern und zupfte an seinem schütteren Bart, der sein blatternarbiges Gesicht noch länger erscheinen ließ; er schwankte zwischen seiner Ehrlichkeit und der Dankbarkeit gegenüber seinen Beschützern.

»Lassen Sie doch Joseph in Ruhe!« rief Bourdoncle endlich, »und widersprechen Sie nicht immer! … Ihr Glück, daß wir auf die guten Dienste Ihrer Mutter Rücksicht nehmen!«

In diesem Augenblick eilte der alte Lhomme herbei. Von seiner nahe an der Tür gelegenen Kasse aus konnte er die seines Sohnes sehen, die in der Handschuhabteilung lag. Er war schon ganz weißhaarig und durch das immerwährende Sitzen schwerfällig geworden; sein Gesicht war fahl und verschwommen. Er war der Sohn eines Steuereinnehmers aus Chablis und hatte als Kontorist bei einem Weinhändler in Paris angefangen. Eines Tages hatte er die Tochter seines Hausmeisters, eines kleinen Elsässer Schneiders, geheiratet. Seither stand er unter der unbestrittenen Herrschaft seiner Frau, deren kaufmännische Fähigkeiten ihn mit Achtung erfüllten. Sie verdiente in der Konfektionsabteilung zwölftausend Franken, während er nicht mehr als fünftausend hatte. Und die Nachgiebigkeit gegenüber dieser Frau, die solche Summen ins Haus brachte, erstreckte sich auch auf ihren Sohn.

»Wie?« murmelte er, »hat Albert etwas falsch gemacht?« Seiner Gewohnheit gemäß mengte sich jetzt Mouret in die Sache ein, um die Rolle des gütigen Herrschers zu spielen. Wenn Bourdoncle Schrecken um sich verbreitet hatte, kam Mouret, um für seine Beliebtheit zu sorgen.

»Eine Dummheit«, sagte er. »Mein lieber Lhomme, Ihr Albert ist ein Wirrkopf; er sollte sich seinen Vater zum Vorbild nehmen.«

Um sich noch liebenswürdiger zu zeigen, wechselte er das Thema.

»Wie war das Konzert neulich? Hatten Sie einen guten Platz?«

Die blassen Wangen des alten Kassierers färbten sich rot. Er besaß nur diese eine Leidenschaft: die Musik – ein heimliches Vergnügen, dem er sich ergab, indem er alle Theater, Konzerte, Generalproben besuchte. Obgleich ihm der eine Arm abgenommen war, spielte er mit Hilfe eines sinnreichen Systems von Klammem Waldhorn; und da seine Frau keine lauten Geräusche duldete, hüllte er am Abend, wenn er spielte, sein Instrument in ein Tuch ein, vollkommen befriedigt durch die seltsam dumpfen Töne, die er ihm auf solche Weise entlockte. In seinem zerrütteten Haushalt gewährte die Musik ihm Trost. Sie und seine Kasse – etwas anderes kannte er nicht, außer der Achtung vor seiner Frau.

»Einen sehr guten Platz«, erwiderte er mit funkelnden Augen.

»Sie sind zu gütig, Herr Mouret.«

Mouret, der ein Vergnügen daran fand, die Leidenschaften anderer zu befriedigen, pflegte Lhomme die Konzert- und Theaterkarten zu schenken, die ihm von wohltätigen Damen aufgeredet worden waren.

Bourdoncle hatte unterdessen den Rundgang schon fortgesetzt. In der Mittelhalle, einem mit Glas überdachten Innenhof, befand sich die Seidenabeilung. Sie folgten zunächst einem Gang an der Seite der Rue Neuve-Saint-Augustin, an dem vom einen Ende bis zum andern Weißwaren ausgestellt waren. Sie fanden nichts Auffallendes und gingen langsam durch die Reihen der achtungsvoll dastehenden Angestellten. Dann kamen sie durch die Abteilungen für Baumwollstoffe und für Wirkwaren, wo die gleiche Ordnung herrschte. In der Wollwarenabteilung aber nahm Bourdoncle seine Rolle als Scharfrichter wieder auf, als er an einem Ladentisch einen jungen Mann hocken sah, dem man eine schlaflos durchjubelte Nacht am Gesicht ablesen konnte. Der Gescholtene, Liénard mit Namen, Sohn eines reichen Modewarenhändlers in Angers, duckte sich unter diesen Vorwürfen, denn in seinem Dasein voller Trägheit, Sorglosigkeit und Vergnügungen fürchtete er nur eines: von seinem Vater nach Hause gerufen zu werden.