50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
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Von da ab regnete es die Rügen hageldicht, ein wahres Gewitter ging über die Angestellten nieder. Den Abschluß machte die Handschuhabteilung: hier hatte einer der wenigen Pariser, die im Hause tätig waren, der hübsche Mignot, sich über das Essen beklagt. Es gab drei Tischzeiten: die erste um halb zehn, die zweite um halb elf, die dritte um halb zwölf Uhr. Mignot, der zur dritten Schicht gehörte, behauptete, er bekomme von allem nur ungenießbare Reste.

»Wie, das Essen ist nicht gut?« fragte Mouret verwundert. Er bezahlte dem Küchenchef anderthalb Franken je Kopf und Tag, und dieser, ein fürchterlicher Auvergnate, fand dabei noch immer Mittel und Wege, sich die Taschen zu füllen; aus diesem Grund war das Essen wirklich abscheulich. Allein Bourdoncle zuckte die Achseln: ein Küchenchef, der zweimal täglich vierhundert Mahlzeiten zu liefern habe, könne sich nicht um Feinschmecker kümmern, meinte er.

»Wenn schon«, entgegnete Mouret in wohlwollendem Ton; »meine Leute sollen eine gesunde und ausreichende Kost erhalten … Ich werde mit dem Küchenchef reden.«

Damit war Mignots Beschwerde begraben. Mouret und Bourdoncle waren jetzt zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt. Sie standen in der Nähe der Tür, wo einer der vier Inspektoren des Hauses das pünktliche Eintreffen der Angestellten kontrollierte. Gerade schloß er sein Buch und begann, die Verspäteten einzeln aufzuschreiben. Das ganze Geschäft lag sauber und ordentlich bereit und harrte des Zustroms der Kunden.

Im hellen Licht der Mittelhalle plauderten am Stand für Seidenwaren zwei Angestellte. Der eine – er hieß Hutin –, ein kleiner, hübscher Bursche, kräftig gebaut und mit rosiger Gesichtsfarbe, war der Sohn eines Gastwirts aus Yvetot und hatte sich binnen achtzehn Monaten dank seiner anpassungsfähigen, einschmeichelnden Natur zu einem der ersten Verkäufer hochgearbeitet.

»Hören Sie, Favier, ich an Ihrer Stelle hätte ihn geohrfeigt«, sagte er zu dem andern, einem großen, hageren, gallig aussehenden jungen Menschen, der aus einer Weberfamilie aus Besançon stammte und sich sehr korrekt gab, während sein kühles Äußeres eine besorgniserregende Willenskraft verbarg.

»Das führt zu nichts, wenn man die Leute ohrfeigt«, brummte er. »Besser, man wartet.«

Sie sprachen von Robineau, der die Angestellten zu beaufsichtigen hatte, wenn der Abteilungsleiter nicht da war. Hutin hetzte im stillen gegen den Zweiten, weil er selber nach dessen Stelle trachtete. Um ihn zu verletzen und hinauszuekeln, hatte er an dem Tag, als der Robineau versprochene Posten des Abteilungsleiters frei geworden war, Bouthemont ins Haus gebracht. Allein Robineau war zäh, und der Krieg riß nicht mehr ab. Hutin intrigierte mit liebenswürdiger Miene und stachelte insbesondere Favier auf, der als Rangnächster in der Reihe der Verkäufer sich scheinbar von ihm leiten ließ, während er in Wirklichkeit nur seine eigenen Interessen verfolgte.

»Pst, siebzehn!« rief er jetzt seinem Kollegen zu. Dies war ihr Zeichen, wenn Mouret oder Bourdoncle sich näherten.

Diese setzten in der Tat ihren Rundgang fort und kamen nun durch die Halle. Vor einem Stapel Samt, der sich auf einem der Tische türmte, blieben sie stehen und fragten Robineau, was das solle. Als dieser antwortete, er habe keinen Platz, rief Mouret:

»Ich sage Ihnen doch, Bourdoncle, das Geschäft ist zu klein! Eines Tages werden wir alle Mauern bis zur Rue de Choiseul niederreißen müssen. Am nächsten Montag sollen Sie einen Ansturm zu sehen bekommen!«

Sie sprachen weiter mit Robineau, doch gleichzeitig beobachtete Mouret Hutin, der sich damit abmühte, blaue, graue und gelbe Seide nebeneinander zu dekorieren, aber mit der Wirkung nicht recht zufrieden schien. Plötzlich trat Mouret dazwischen.

»Warum wollen Sie denn das Auge schonen?« sagte er. »Keine Angst: blenden Sie es! Nehmen Sie Rot, Grün, Gelb!«

Bei diesen Worten griff er in die Seidenstoffe und warf sie durcheinander, um erregende Farbkontraste zu erzielen. Alle stimmten darin überein, daß ihr Chef der beste Dekorateur von Paris sei, ein wahrhaft eigenwilliger Schöpfer und Reformer auf dem Gebiet der Schaufenstergestaltung. Mouret schwärmte für grellste Effekte, für unregelmäßig verteilte, bunt gemischte Mengen von Stoffen, als seien diese kaskadenförmig den Regalen und Fächern entquollen. Nur Hutin, der der klassischen Schule des Gleichmaßes und Farbenwohlklangs angehörte, sah ihm wortlos zu und begnügte sich damit, verächtlich die Lippen zu schürzen, wie ein Künstler, dessen Geschmack durch solche Roheiten verletzt wird.

»Da haben Sie es!« rief Mouret, als er fertig war. »Lassen Sie die Anordnung so. Sie werden am Montag sehen, wie die Frauen anbeißen.«

In diesem Augenblick erschien in der Mittelhalle ein weibliches Wesen, das ganz verblüfft vor der Dekoration stehenblieb. Es war Denise. Nachdem sie in ihrer unüberwindlichen Schüchternheit fast eine Stunde lang auf der Straße gezögert hatte, war sie endlich eingetreten. Allein sie war dermaßen verwirrt, daß sie die einfachsten Auskünfte nicht begriff. Vergebens zeigten ihr die Angestellten, bei denen sie sich stotternd nach Frau Aurélie erkundigte, die nach dem Zwischenstock führende Treppe; sie wandte sich nach links, wenn man sie nach rechts gewiesen hatte. So irrte sie schon seit zehn Minuten durch alle Abteilungen des Erdgeschosses inmitten der boshaften Neugierde oder der mürrischen Gleichgültigkeit der Verkäufer. Sie wäre am liebsten wieder davongelaufen und wurde doch zugleich durch ein Gefühl der Bewunderung zurückgehalten. Sie fühlte sich so klein, so verloren in diesem ungeheuren Warenhaus, und wenn sie an den finsteren, engen Laden des »Vieil Elbeuf« dachte, erschien ihr dieses Geschäft noch riesiger, in goldenes Licht getaucht, gleichsam eine Stadt für sich mit Plätzen, Denkmälern und Straßen, durch die sie niemals den Weg zu finden glaubte. Indessen hatte sie bisher noch nicht gewagt, weiter in die Seidenhalle vorzudringen, die ihr mit ihrem hohen Glasdach und ihrem Prunk unheimlich war. Als sie endlich eintrat, um aus dem Bereich der spöttelnden Angestellten der Weißwarenabteilung zu kommen, stieß sie auf Mourets Dekoration. Trotz ihrer Angst erwachte plötzlich die Frau in ihr, ihre Wangen röteten sich, und sie betrachtete selbstvergessen diese Feuersbrunst an Stoffen, die Mouret da entfacht hatte.

»Sieh einer an«, flüsterte Hutin Favier ins Ohr, »das Gänschen von der Place Gaillon!«

Obgleich Mouret tat, als hörte er Bourdoncle und Robineau zu, war er im Grunde durch die Bewunderung dieses einfachen Mädchens sehr geschmeichelt. Denise blickte jetzt auf und geriet in noch größere Verlegenheit, als sie den jungen Mann wiedererkannte, den sie immer noch für einen Abteilungsleiter hielt. Sie bildete sich ein, daß er sie streng anblicke, und da sie in ihrer Verwirrung nicht wußte, wie sie wegkommen sollte, wandte sie sich noch einmal an den nächstbesten Angestellten, diesmal an Favier, und fragte:

»Bitte, wo finde ich Frau Aurélie?«

Favier, ungefällig, wie er war, begnügte sich damit, trocken zu antworten:

»Im Zwischenstock.«

Denise, die den vielen Männerblicken rasch entkommen wollte, dankte und wandte der Treppe abermals den Rücken, als Hutin, von seiner angeborenen Liebenswürdigkeit getrieben, ihr zu Hilfe kam.

»Nicht dorthin – hier herum, Fräulein.«

Er ging einige Schritte vor ihr her und brachte sie bis zum Fuß der Treppe, die sich an der linken Seite der Halle befand. Lächelnd verbeugte er sich und sagte:

»Oben wenden Sie sich links, und Sie befinden sich direkt vor der Konfektionsabteilung.«

Denise war von dieser einschmeichelnden Höflichkeit tief ergriffen. Es war ihr, als komme ihr jemand brüderlich zu Hilfe. Sie schaute Hutin an, und alles an ihm gefiel ihr: das hübsche Gesicht, die freundlichen Blicke, die ihr die Furcht nahmen, die Stimme, die tröstend und weich klang. Ihr Herz war von Dankbarkeit erfüllt.

»Sie sind zu gütig – Geben Sie sich weiter keine Mühe… Tausend Dank, mein Herr!«

Doch Hutin war schon zu Favier zurückgekehrt und flüsterte ihm zu:

»Ist das ein Knochengerüst!«

Oben befand sich das junge Mädchen sogleich in der Konfektionsabteilung, einem großen Raum, dessen Fenster auf die Rue de la Michodière gingen. Fünf oder sechs Verkäuferinnen in schwarzen Seidenkleidern, sehr kokett frisiert, waren unter lebhaftem Geplauder bei ihrer Arbeit. Nur eine von ihnen, eine große, hagere Person mit übermäßig langgezogenem Kopf, stand wie erschöpft an einen Schrank gelehnt.

»Wo finde ich Frau Aurélie?« fragte Denise abermals.

Die Verkäuferin betrachtete sie, ohne zu antworten, voll offenkundiger Mißachtung für ihren ärmlichen Aufzug. Dann wandte sie sich an eine ihrer Kolleginnen, ein kleines, auffallend blasses Mädchen, und fragte:

»Fräulein Marguerite, wissen Sie zufällig, wo die Direktrice ist?«

Die Angesprochene war damit beschäftigt, Umhänge nach der Größe zu ordnen, und nahm sich kaum die Mühe aufzublicken.

»Nein, Fräulein Claire, keine Ahnung«, meinte sie.

Es entstand ein kurzes Stillschweigen. Denise stand regungslos da, und niemand kümmerte sich um sie. Nach einer Weile faßte sie sich ein Herz und fragte:

»Glauben Sie, daß Frau Aurélie bald zurückkommt?«

Nun rief ihr die Zweite, eine magere, häßliche Frau, die sie bisher nicht bemerkt hatte, eine Witwe mit vorspringendem Kinn und strähnigen Haaren, von einem Schrank aus, wo sie die Preisschilder nachsah, zu:

»Warten Sie doch, wenn Sie durchaus mit Frau Aurélie persönlich sprechen müssen!«

Denise wartete also. Es standen wohl einige Sessel für die Kunden herum; da man sie aber nicht aufforderte, Platz zu nehmen, wagte sie nicht, sich zu setzen. Die Verkäuferinnen hatten offenbar eine neue Kollegin in ihr gewittert und musterten sie wie Leute, die am Mittagstisch sitzen und nicht zusammenrücken wollen, um für hungrig Hinzukommende Platz zu machen. Denise geriet immer mehr in Verlegenheit, sie ging mit kleinen Schritten auf und ab und trat endlich an ein Fenster, um sich etwas Haltung zu geben. Sie sah gerade auf den »Vieil Elbeuf«. Mit dem abbröckelnden Verputz der Fassade und den blinden Schaufenstern erschien er ihr so häßlich, so trübselig im Vergleich mit dem Luxus und dem Leben, die sie hier um sich fühlte, daß etwas wie Gewissensbisse ihr das Herz vollends zusammenschnürte.

 

»Haben Sie ihre Schuhe gesehen?« flüsterte hinter ihr Ciaire Marguerite zu.

»Na, und erst das Kleid!« tuschelte die andere.

Denise, die noch immer auf die Straße hinunterschaute, hatte das Gefühl, als ob sie von den haßerfüllten Blicken der Verkäuferinnen verschlungen würde. Allein sie verspürte deswegen keinen Zorn. Sie fand die Mädchen nicht hübsch, weder die lange Ciaire mit der roten Mähne noch Marguerite mit ihrem platten, fast knochenlosen Gesicht. Ciaire Prunaire, die Tochter eines Holzschuhmachers aus Vivet, war, nachdem sie durch die Hände aller Lakaien auf Schloß Mareuil gegangen war, wo sie als Näherin gearbeitet hatte, erst in ein Geschäft in Langres eingetreten und später nach Paris gekommen, wo sie an den Männern Rache nahm für alle Fußtritte, die sie zu Hause von Vater Prunaire erhalten hatte. Marguerite Vadon hinwiederum, in Grenoble geboren, wo ihre Familie ein kleines Leinengeschäft betrieb, war nach Paris geschickt worden, um die Folgen eines Fehltritts zu verbergen. Sie führte sich jetzt sehr brav auf und sollte bald in ihre Heimat zurückkehren und einen Vetter heiraten, der auf sie wartete.

»Na«, brummte Ciaire vor sich hin, »die wird es bei uns auch nicht weit bringen.«

Doch jetzt schwiegen sie; eine Frau von ungefähr fünfundvierzig Jahren trat ein. Es war Frau Aurélie, eine etwas üppige Dame, fest eingeschnürt in ihr schwarzes Seidenkleid, dessen Oberteil sich wie ein leuchtender Panzer über den massiven Rundungen der Schultern und des Busens spannte. Unter dichten schwarzen Brauen saßen große, starre Augen, der Mund war streng, die Wangen breit und schon ein wenig hängend. Die Würde einer Abteilungsleiterin gab ihrem Gesicht die Geschwollenheit einer Cäsarenmaske.

»Fräulein Marguerite«, sagte sie mit gereizter Stimme, »warum haben Sie gestern das Modell des auf Taille gearbeiteten Mantels nicht ins Atelier zurückgebracht?«

»Es ist noch einiges zu ändern«, erwiderte die Verkäuferin,

»Frau Fréderic hat ihn hierbehalten.«

Die Zweite nahm den Mantel aus einem Schrank, und die Auseinandersetzung ging weiter. Alle zitterten vor Frau Aurélie, wenn sie glaubte, ihre Autorität hervorkehren zu müssen. In ihrer Überheblichkeit war sie nur gegen jene Angestellten freundlich, die ihr schmeichelten und in Bewunderung vor ihr erstarben. Sie hatte schwer kämpfen müssen, bis sie es zu ihrer jetzigen Stellung im »Paradies der Damen« gebracht hatte, wo sie jährlich zwölftausend Franken verdiente, und sie zeigte sich nun allen Anfängerinnen gegenüber genauso hart, wie das Leben ihr selbst mitgespielt hatte.

»Genug!« sagte sie endlich trocken. »Sie sind nicht vernünftiger als alle anderen, Frau Frédéric … Die Änderungen müssen sofort gemacht werden!«

Während dieser Auseinandersetzung hatte Denise sich vom Fenster abgewandt. Sie merkte wohl, daß dies Frau Aurélie war; allein erschreckt durch ihre schroffe Stimme, blieb sie stehen und wartete. Die Mädchen, die sich freuten, daß sie die Direktrice und die Zweite in einen Streit miteinander verwickelt sahen, waren mit gleichgültiger Miene zur ihrer Arbeit zurückgekehrt. Es vergingen einige Minuten, und keine von ihnen war barmherzig genug, das junge Mädchen aus seiner Verlegenheit zu reißen. Endlich war es Frau Aurélie selbst, die Denise unbeweglich dastehen sah und fragte, was sie wünsche.

»Ich suche Frau Aurélie.«

»Die bin ich.«

Denises Lippen waren trocken, ihre Hände zitterten. Sie stotterte ihre Bitte hervor und mußte noch einmal von vorn anfangen, um sich verständlich zu machen. Frau Aurélie schaute sie mit ihren großen, starren Augen an, ohne daß sich auf ihrem majestätischen Antlitz auch nur eine Spur von Milde gezeigt hätte.

»Wie alt sind Sie?«

»Zwanzig Jahre.«

»Wie, zwanzig Jahre? Sie sehen aus, als wären Sie kaum sechzehn!«

Die Verkäuferinnen hoben die Köpfe, um diesem Verhör zu folgen. Denise beeilte sich hinzuzufügen:

»Aber ich bin sehr kräftig.«

Frau Aurélie zuckte die breiten Schultern, dann erklärte sie kühl:

»Mein Gott, ich werde Sie vormerken. Wir schreiben jede auf, die sich vorstellt. Fräulein Marguerite, geben Sie mir die Liste.« Man fand sie nicht sogleich; sie müsse wohl noch beim Inspektor Jouve sein, hieß es. Während Marguerite fortging, die Liste zu holen, erschien Mouret und hinter ihm Bourdoncle. Sie hatten auch im Zwischenstock ihren Rundgang gemacht und schlössen nun mit der Konfektionsabteilung ab. Frau Aurélie trat mit ihnen beiseite und erwähnte eine Mantelbestellung, die sie bei einem Pariser Großunternehmer aufzugeben gedachte. Gewöhnlich kaufte sie auf eigene Verantwortung ein; bei bedeutenderen Posten dagegen zog sie es vor, sich mit der Geschäftsleitung zu besprechen. Bourdoncle benützte die Gelegenheit, um ihr vom neuesten Schnitzer ihres Sohnes Albert zu berichten. Sie schien ganz verzweifelt: dieses Kind werde noch ihr Tod sein. Mouret hatte mittlerweile die Anwesenheit Denises bemerkt und beugte sich zu Frau Aurélie, um sie zu fragen, was das Mädchen hier wolle. Als die Direktrice erwiderte, sie habe sich als Verkäuferin beworben, war Bourdoncle in seiner gewohnten Geringschätzung für alles Weibliche höchst erstaunt über diese Anmaßung.

»Das kann doch nur ein Scherz sein!« flüsterte er. »Sie ist ja viel zu häßlich.«

»Schön ist sie nicht, das stimmt«, sagte Mouret. Er wagte nicht, sie in Schutz zu nehmen, obgleich er durch ihr Staunen vor seiner Dekoration unten für sie eingenommen war.

Man brachte jetzt die Liste, und Frau Aurélie kam zu Denise zurück. Diese machte in der Tat keinen günstigen Eindruck. Sie wirkte zwar sehr sauber in ihrem dünnen schwarzen Wollkleid, und man nahm an der Ärmlichkeit ihres Aufzugs auch keinen Anstoß, denn das übliche Seidenkleid der Verkäuferinnen wurde von der Firma gestellt; allein sie sah zu zart aus, und ihr Gesicht war gar zu traurig. Die Verkäuferinnen mußten nicht gerade hübsch sein, aber es war doch wünschenswert, daß sie eine angenehme Figur machten. Unter den Blicken der Damen und Herren, die sie musterten und mit den Augen abschätzten wie eine Stute, um welche die Bauern auf dem Jahrmarkt feilschen, verlor Denise vollends die Fassung.

»Wie heißen Sie?« fragte die Direktrice.

»Denise Baudu.«

»Ihr Alter?«

»Zwanzig Jahre und vier Monate.«

Sie wagte es, die Augen zu Mouret zu erheben, den sie in allen Abteilungen mit der gleichen Autorität hatte auftreten sehen und dessen Anwesenheit sie in Verlegenheit setzte; unbeholfen fügte sie hinzu:

»Ich bin recht kräftig, wenn ich auch nicht danach aussehe.«

Alles lächelte.

»In welchem Haus haben Sie in Paris gearbeitet?« fragte die Direktrice.

»Ich bin eben erst aus Valognes angekommen.«

Das war ein neues Mißgeschick. Gewöhnlich verlangte man beim »Paradies der Damen«, daß die Verkäuferinnen mindestens ein Jahr in einer Pariser Firma gearbeitet hatten. Denise glaubte, nun sei alles verloren; und wären die beiden Brüder nicht gewesen, für die sie Geld verdienen mußte, sie wäre sicherlich davongelaufen, um diesem nutzlosen Verhör ein Ende zu machen.

»Wo waren Sie in Valognes?«

»Bei Cornaille.«

»Den kenne ich, das ist eine gute Firma«, bemerkte Mouret. Gewöhnlich enthielt er sich bei der Einstellung von Verkäufern oder Verkäuferinnen jeder Einmischung, denn die Abteilungsleiter waren für ihr Personal verantwortlich. Aber mit seinem feinen Sinn für Frauen spürte er bei diesem Mädchen einen verborgenen Reiz heraus, dessen sie sich selbst nicht bewußt war.

Der gute Ruf des Hauses, aus dem ein Anfänger kam, war von großer Bedeutung und oft entscheidend für die Aufnahme. Frau Aurélie fuhr mit milderer Stimme fort:

»Warum sind Sie von Cornaille weggegangen?«

»Aus Familienrücksichten«, erwiderte Denise errötend. »Wir haben unsere Eltern verloren, ich mußte mich meiner Brüder annehmen. Übrigens habe ich hier ein Zeugnis.«

Das Zeugnis war ausgezeichnet. Schon begann sie zu hoffen, als eine letzte Frage sie in Verlegenheit setzte.

»Können Sie uns in Paris irgendwelche Empfehlungen nennen? Wo wohnen Sie?«

»Bei meinem Onkel«, flüsterte sie, zunächst ohne den Namen zu nennen, denn sie fürchtete, daß man die Nichte eines Konkurrenten niemals einstellen werde. »Bei meinem Onkel Baudu gegenüber«, sagte sie endlich.

Da konnte sich Mouret nicht länger enthalten dreinzureden.

»Wie, Sie sind die Nichte Baudus? Hat Baudu Sie geschickt?«

»Oh nein!«

Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, so seltsam erschien ihr die Frage. Im gleichen Augenblick war sie wie umgewandelt, ihr Gesicht bekam Farbe, und das Lächeln auf ihren Lippen schien ihr ganzes Wesen erschlossen zu haben. Ihre grauen Augen gewannen einen zarten Schimmer, allerliebste Grübchen erschienen auf ihren Wangen, selbst ihre schweren blonden Haare wirkten heiter und duftig.

»Sie ist ja sogar hübsch!« bemerkte Mouret leise zu Bourdoncle.

Dieser machte eine ablehnende Geste. Claire schürzte die Lippen, während Marguerite sich abwandte. Frau Aurélie allein schien gewonnen und stimmte mit einem Kopfnicken Mouret zu, als dieser fortfuhr:

»Es ist nicht recht von Ihrem Onkel, daß er Sie nicht herübergebracht hat, seine Empfehlung hätte genügt. Man erzählt, daß er böse auf uns sei. Wir sind nicht so engherzig, und wenn er für seine Nichte im eigenen Haus keine Beschäftigung hat, werden wir ihm zeigen, daß sie bei uns nur anzuklopfen braucht, um aufgenommen zu werden. Sagen Sie ihm, daß ich ihn hochachte und daß er nicht über mich ungehalten sein dürfe; die veränderten Verhältnisse im Handel sind an allem schuld. Und sagen Sie ihm auch, daß er verloren ist, wenn er an seinen lächerlichen alten Gewohnheiten eigensinnig festhält.«

Denise war ganz blaß geworden. Dieser Herr war also Mouret! Niemand hatte seinen Namen genannt, aber er selbst hatte sich als der Chef zu erkennen gegeben. Sie begriff jetzt, warum der junge Mann einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht hatte, zuerst auf der Straße, dann in der Seidenabteilung und jetzt wieder. Dieser Eindruck, den sie sich nicht zu erklären vermochte, lastete immer schwerer auf ihrem Herzen. Alle Geschichten, die der Onkel ihr erzählt hatte, kehrten in ihre Erinnerung zurück und ließen Mouret noch ungewöhnlicher erscheinen, umgaben ihn mit einer Legende, machten aus ihm den Meister der schrecklichen Maschinerie dieses Warenhauses, von deren Rädern sie sich seit dem Morgen erfaßt fühlte. Hinter seinem hübschen Kopf mit dem wohlgepflegten Bart und den schönen goldbraunen Augen meinte sie seine tote Frau, diese Frau Hedouin zu sehen, mit deren Blut das Haus gebaut war. Da packte sie wieder ein unklares Gefühl der Furcht.

Mittlerweile hatte Frau Aurélie die Liste zugeklappt. Sie brauchte nur eine einzige Verkäuferin, und es waren schon zehn vorgemerkt. Allein sie wollte zu sehr dem Chef gefällig sein, als daß sie noch länger gezögert hätte. Sie meinte nur, die Sache müsse ihren üblichen Gang gehen; der Inspektor Jouve werde Erkundigungen einholen, ihr berichten, und dann werde sie ihren Entschluß fassen.

»Es ist gut, Fräulein«, sagte sie endlich majestätisch. »Man wird Ihnen die Entscheidung schriftlich mitteilen.«

Denise stand noch immer verwirrt und unbeweglich da. Sie wußte nicht, wie sie von all diesen Leuten fortkommen sollte; endlich dankte sie Frau Aurélie und ging mit einem Gruß an Mouret und Bourdoncle vorüber. Diese beschäftigten sich übrigens längst nicht mehr mit ihr und vergaßen, den Gruß zu erwidern. Claire machte eine mürrische Geste zu Marguerite hinüber, wie um vorauszusagen, daß die neue Verkäuferin in dieser Abteilung keinen angenehmen Stand haben werde. Denise fühlte ohne Zweifel die Gleichgültigkeit und das Unbehagen, das sie zurückgelassen hatte, denn sie stieg ebenso verlegen die Treppe hinab, wie sie heraufgekommen war, die Beute einer seltsamen Beklemmung und ganz ungewiß, ob sie sich freuen oder ärgern sollte, daß sie hierhergekommen war. Durfte sie auf diese Stelle zählen? In ihrem Unbehagen, das sie daran hinderte, alles genau abzuwägen, vermochte sie sich diese Frage nicht zu beantworten. Von all ihren verschiedenen Empfindungen blieben zwei zurück und verdrängten allmählich alle übrigen: der tiefe Eindruck, den Mouret auf sie gemacht hatte, ein Eindruck, der an Furcht streifte, und die Liebenswürdigkeit Hutins, die sie jetzt noch mit Dankbarkeit erfüllte. Als sie das Geschäft verließ, suchte sie den jungen Mann, um ihm wenigstens mit einem Blick noch einmal zu danken; zu ihrem größten Kummer konnte sie ihn nicht entdecken.

 

»Nun, Fräulein, haben Sie Glück gehabt?« fragte sie eine Stimme, als sie endlich auf der Straße anlangte.

Sie wandte sich um und erkannte den großen, blassen, schlaksigen Jüngling, der sie am Morgen schon angesprochen hatte. Auch er kam aus dem »Paradies der Damen« und schien noch bestürzter als sie, noch verwirrter durch das Verhör, dem er sich hatte unterziehen müssen.

»Mein Gott, ich weiß es nicht einmal«, erwiderte sie.

»Genauso geht's mir auch. Die haben eine seltsame Art da drinnen, einen auszufragen und anzusehen … «

Wieder standen sie einander gegenüber, und da sie nicht wußten, wie sie sich verabschieden sollten, erröteten sie abermals. Um doch wenigstens etwas zu sagen, fragte der junge Mann in seiner linkischen und biederen Art:

»Wie heißen Sie, Fräulein?«

»Denise Baudu.«

»Und ich heiße Henri Deloche«, stellte nun auch er sich vor. Da lächelten beide. Im Gedanken an die Gleichartigkeit ihrer Lage gaben sie einander die Hand.

»Viel Glück!«

»Ja, viel Glück!«