50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
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Hutin bahnte den Damen mühsam einen Weg. Allein als sie oben ankamen, fand Henriette Mouret nicht mehr vor. Trunken von seinem Erfolg, hatte er sich mit Vallagnosc mitten in das Gewimmel gestürzt.

»Links, meine Damen«, sagte Hutin, trotz seiner Erbitterung immer höflich.

Oben wiederholte sich das gleiche Schauspiel. Alles war überfüllt, selbst die Möbelabteilung, die sonst am wenigsten besucht war. Bei den Umhängen, den Pelzwaren, der Wäsche wimmelte es von Menschen. In der Spitzenabteilung trafen die Damen neue Bekannte: Frau von Boves saß da mit ihrer Tochter Blanche, beide in Betrachtung von Mustern versunken, die Deloche ihnen zeigte. Hier mußte Hutin, mit den Paketen beladen, abermals Station machen.

»Guten Tag! Eben habe ich an Sie gedacht.«

»Und ich habe Sie überall gesucht; aber wie soll man in diesem Gewühl jemanden finden?«

»Herrlich, nicht wahr?«

»Blendend! Man kann sich kaum auf den Beinen halten.«

»Sie kaufen auch?«

»Oh nein; wir sehen uns nur einiges an. Es ist uns eine Erholung, kurze Zeit zu sitzen.«

In der Tat ließ Frau von Boves, die nur so viel Geld bei sich hatte, als sie brauchte, um den Wagen zu bezahlen, sich allerlei Spitzen vorlegen, bloß um sie anzuschauen und zu befühlen. Sie hatte in Deloche sofort den Anfänger erkannt, der in seiner linkischen Unbeholfenheit nicht wagte, sich den Launen der Damen zu widersetzen; sie mißbrauchte seine Gefälligkeit und hielt ihn seit einer halben Stunde auf, indem sie immer neue Artikel zu sehen verlangte. Der Tisch war schon überfüllt; sie tauchte ihre Hände in diese steigende Flut von Mechelner, Valenciennes- und Chantillyspitzen, die Finger bebend vor Begierde, das Gesicht allmählich in sinnlichem Verlangen gerötet. Die Damen unterhielten sich noch eine Weile. Hutin, der sie am liebsten geohrfeigt hätte, stand unbeweglich da und wartete, bis es ihnen gefällig war, weiterzugehen.

»Ach«, sagte Frau Marty, »Sie sehen sich ja die Taschentücher an, die ich Ihnen neulich gezeigt habe!«

Sie hatte recht. Frau von Boves, die seit Samstag nicht mehr hatte schlafen können, wenn sie an Frau Martys Spitzen dachte, hatte der Versuchung nicht widerstehen können, die gleichen Stücke wenigstens zu besichtigen und in den Händen zu fühlen, da sie nicht genug Geld besaß, um sich etwas davon zu kaufen. Sie errötete und erklärte, Blanche habe sich eigentlich Spitzenkrawatten ansehen wollen. Dann fügte sie hinzu:

»Sie gehen in die Konfektionsabteilung? Ich komme gleich nach. Wollen wir uns im orientalischen Saal treffen?«

»Gut, im orientalischen Saal. Er ist großartig, nicht wahr?«

Sie trennten sich endlich. Deloche, glücklich, daß er beschäftigt war, fuhr fort, Karton um Karton vor der Gräfin und ihrer Tochter auszuleeren. Unterdessen ging der Inspektor Jouve gemessenen Schritts an den Tischen entlang. Als er hinter Frau von Boves vorbeikam und zu seiner Überraschung sah, wie ihre Arme in diesem Haufen von Mechelner und Valenciennesspitzen verschwanden, warf er einen argwöhnischen Blick auf ihre fieberhaft bewegten Hände.

»Rechts, meine Damen«, sagte Hutin, der seinen Weg wieder aufnahm.

Er war außer sich. War es noch nicht schlimm genug, daß er ihretwegen unten einen Verkauf verpaßt hatte? Nun hielten sie ihnen noch obendrein an jeder Ecke des Geschäfts auf.

»Fräulein Ciaire!« rief er mit verdrossener Stimme, als er endlich in die Konfektionsabteilung gekommen war.

Doch diese ging an ihm vorüber, ohne ihn zu hören; sie war bis über die Ohren mit einem Verkauf beschäftigt. Der Raum war gedrängt voll, eine endlose Menschenschlange wand sich hindurch.

»Fräulein Marguerite!« rief Hutin.

Als auch diese nicht stehenbleiben wollte, fluchte er zwischen den Zähnen:

»Verdammte Dirnen!«

Nichts war ihm mehr zuwider, als wenn er sich die Treppe heraufbemühen mußte, um den Verkäuferinnen hier oben auch noch Kundinnen zuzuführen. Die Stoffabteilungen und die Konfektion lagen in ständiger Fehde, machten einander die Käuferinnen streitig und suchten sich gegenseitig um ihre Provisionen zu bringen. Die Angestellten aus den Stoffabteilungen waren jedesmal wütend, wenn eine Dame sich für ein fertiges Stück entschied, nachdem sie sich des langen und breiten alle Meterware hatte zeigen lassen.

Jetzt bemerkte er plötzlich Denise. Seit dem Morgen beschäftigte man sie mit dem Zusammenlegen der Kleidungsstücke; man hatte ihr nur einige wenige zweifelhafte Kunden überlassen, mit denen sie nichts anzufangen wußte.

»Ach, Fräulein, bedienen Sie doch die Damen hier!«

Damit hängte er ihr die Einkäufe Frau Martys auf, die er bis jetzt herumgeschleppt hatte. Er lächelte nun wieder, und in seinem Lächeln lag die geheime Bosheit des erfahrenen Verkäufers, der bereits die Verlegenheit ahnte, in die er sowohl die Damen wie auch das junge Mädchen brachte.

Denise indessen war ganz verblüfft angesichts dieses unverhofften Verkaufs. Zum zweitenmal erschien ihr Hutin wie ein unbekannter brüderlicher Freund, allzeit bereit, ihr beizustehen. Ihre Augen leuchteten, dankbar blickte sie ihm nach.

»Ich möchte mir Mäntel ansehen«, sagte Frau Marty.

Denise begann zu fragen. Welche Art Mäntel sollte es sein? Allein die Kundin wußte es nicht zu sagen, sie hatte keine Vorstellung, sie wolle die Modelle des Hauses sehen, sagte sie. Das Mädchen, ohnehin schon müde und ganz verwirrt von dem ungewohnten Trubel, verlor den Kopf. Sie hatte bei Cornaille in Valognes nur hie und da Kundschaft bedient; sie kannte die Modelle hier noch nicht, auch wußte sie nicht, wo sie in den Schränken zu finden waren. So kam es, daß sie die beiden Damen nicht rasch genug bedienen konnte und diese ungeduldig wurden. Frau Aurélie erkannte in diesem Augenblick Frau Desforges, von deren Verhältnis zum Chef sie zu wissen schien, denn sie beeilte sich, sie zu fragen:

»Werden die Damen bedient?«

»Ja, von diesem Fräulein, das dahinten etwas sucht«, erwiderte Henriette; »sie scheint aber noch nicht recht eingearbeitet zu sein, denn sie findet nichts.«

Die Direktrice ging sogleich auf Denise zu und murmelte:

»Sie sehen ja, daß Sie nichts verstehen. Verhalten Sie sich wenigstens ruhig, bitte.«

Dann rief sie:

»Fräulein Marguerite, einen Mantel!«

Sie blieb da, während Marguerite Modelle zeigte. Als diese Frau Marty sagen hörte, daß sie nicht über zweihundert Franken hinausgehen wolle, machte sie ein Mäulchen. Die gnädige Frau werde schon etwas zulegen müssen, meinte sie, für zweihundert Franken sei nichts Elegantes zu haben. Sie warf mit nachlässiger Geste verschiedene einfache Mäntel auf den Tisch, als wollte sie sagen: Sehen Sie sich das an, es ist dürftig genug. Frau Marty wagte nicht zu gestehen, daß sie ihr genügten. Sie neigte sich zu Frau Desforges und flüsterte ihr ins Ohr:

»Sagen Sie, lassen Sie sich nicht auch lieber von Männern bedienen? Man kann sich ungenierter aussprechen.«

Endlich brachte Marguerite einen schwarz abgesetzten Seidenmantel, von dem sie mit mehr Achtung sprach. Jetzt rief Frau Aurélie plötzlich Denise herbei.

»Kommen Sie her, damit Sie doch zu etwas gut sind. Ziehen Sie diesen Mantel über.«

Mit hängenden Armen war Denise stehengeblieben; sie bezweifelte, daß sie in diesem Haus jemals weiterkommen würde. Sicherlich würde man sie entlassen, dachte sie. Und die Brüder? Der Lärm der Menge summte ihr im Kopf, sie fühlte ihre Beine zittern, ihre Arme waren wie zerschlagen von dem Schleppen der schweren Mäntel, einer Arbeit, die sie nicht gewohnt war.

Marguerite warf ihr den Mantel um und ordnete ihn auf ihr wie auf einer Puppe.

»Halten Sie sich gerade«, sagte Frau Aurélie.

Doch fast im gleichen Augenblick war Denise vergessen. Mouret war eben mit Vallagnosc und Bourdoncle eingetreten; er begrüßte die Damen und nahm ihre Komplimente entgegen. Insbesondere der orientalische Saal wurde gerühmt. Vallagnosc allerdings, der seinen Rundgang durch die Abteilungen beendet hatte, zeigte sich mehr überrascht als begeistert; im Grunde, meinte er in seiner pessimistischen Teilnahmslosigkeit, sei das alles doch nichts weiter als eine Menge Zeug auf einem Haufen. Bourdoncle hinwiederum vergaß ganz, daß er zum Hause gehörte; auch er beglückwünschte den Chef, um ihn seine Zweifel vom Morgen vergessen zu machen.

»Ja, ja, es geht, ich bin zufrieden«, wiederholte Mouret strahlend und beantwortete die zärtlichen Blicke Henriettes mit einem Lächeln. »Aber ich will Sie nicht stören, meine Damen.«

Jetzt wandten sich alle Augen wieder Denise zu. Sie überließ sich vollkommen den Händen Marguerites, die sie sich langsam drehen hieß.

»Was meinen Sie?« fragte Frau Marty Frau Desforges.

»Er ist gar nicht übel und originell geschnitten; nur in der Taille scheint er mir nicht gut zu sitzen.«

»Oh«, warf Frau Aurélie ein, »da müssen wir ihn erst an der gnädigen Frau selbst sehen. Wissen Sie, an diesem Fräulein wirkt er nicht richtig, sie hat nicht genug Figur. – Halten Sie sich doch gerade, Fräulein, bringen Sie doch den Schnitt des Stücks zur Geltung!«

Alle lächelten. Denise war ganz blaß geworden. Sie schämte sich, so wie ein Stück Holz behandelt zu werden, das man in der Hand hin und her drehte, besichtigte und mit dem man nach Belieben Scherz trieb. Von instinktiver Abneigung getrieben und durch das sanfte Gesicht des Mädchens gereizt, setzte Frau Desforges boshaft hinzu:

»Bestimmt würde der Mantel besser sitzen, wenn das Kleid des Fräuleins nicht so weit wäre.«

Dabei warf sie Mouret den spöttischen Blick der Pariserin zu, die sich über das lächerliche Aussehen der Frauen aus der Provinz lustig macht. Er empfand sehr gut die zärtliche Liebkosung dieses Blicks, den Triumph der Frau, die glücklich ist über ihre Schönheit und ihre Toilettenkünste. Die Dankbarkeit des Mannes, der sich angebetet weiß, verleitete ihn, auch seinerseits seinen Spaß zu treiben, trotz seines Wohlwollens für Denise, die auf ihn einen gewissen unnennbaren Reiz ausübte.

 

»Und dann sollte sie sich erst mal frisieren«, meinte er.

Das gab der Armen den Rest. Der Chef geruhte zu scherzen, folglich brachen alle in ein Gelächter aus; selbst aus der Wäscheabteilung waren einige Verkäuferinnen herbeigekommen, um an der allgemeinen Heiterkeit teilzunehmen. Denise war noch blasser geworden inmitten all dieser Leute, die sich über sie lustig machten, sie fühlte sich entehrt, gleichsam entkleidet durch all diese Blicke, denen sie wehrlos ausgesetzt war. Was hatte sie denn getan, daß man wegen ihrer schmächtigen Gestalt und ihres üppigen Haars dermaßen über sie herfiel? Insbesondere kränkte sie das Lachen Mourets und Frau Desforges', deren Verbindung sie unwillkürlich ahnte. Nur mühsam unterdrückte sie das Schluchzen, das in ihr aufstieg.

»Sie wird sich morgen hoffentlich anständig frisieren«, wiederholte, zu Frau Aurélie gewandt, der fürchterliche Bourdoncle, der vom ersten Moment an etwas gegen Denise gehabt hatte.

Endlich nahm die Direktrice ihr den Mantel von den Schultern und flüsterte ihr dabei ins Ohr:

»Ein schöner Anfang, Fräulein! Wenn Sie uns zeigen wollten, was Sie können, hätten Sie es nicht ungeschickter machen können.«

Aus Furcht, in Tränen auszubrechen, wandte Denise sich eilig ab und begab sich wieder an die Mäntel, die sie auf dem Tisch zusammenzulegen und zu ordnen hatte. Hier war sie wenigstens unbeachtet inmitten der Menge. Plötzlich erblickte sie neben sich Pauline, die Verkäuferin aus der Wäscheabteilung, die sie schon am Morgen in Schutz genommen hatte. Sie hatte die ganze Szene mit angesehen und flüsterte ihr nun zu:

»Seien Sie nicht so empfindlich. Sie müssen es überwinden, sonst wird man Ihnen noch ganz andere Streiche spielen … Ich bin aus Chartres, Pauline Cugnot; meine Eltern haben dort eine Mühle. Man hätte mich hier in den ersten Tagen gefressen, wenn ich mich nicht zur Wehr gesetzt hätte … Nur Mut! Geben Sie mir die Hand, wir werden uns gelegentlich ein bißchen ausplaudern.«

Denise drückte verstohlen die Hand, die ihr entgegengestreckt wurde, und beeilte sich dann, sich einen Packen aufzuladen, denn sie fürchtete, man könnte sie wieder schelten, wenn man merkte, daß sie eine Freundin besaß.

Mittlerweile hatte Frau Aurélie den Mantel Frau Marty selbst umgelegt, und sofort riefen alle: »Sehr gut! Ausgezeichnet!« So sah das Kleidungsstück doch gleich anders aus! Frau Desforges erklärte, etwas Besseres könnten sie gar nicht finden.

Mouret empfahl sich daraufhin, während Vallagnosc, der in der Spitzenabteilung Frau von Boves und ihre Tochter bemerkt hatte, sich dorthin begab. Marguerite stand bereits bei einer der Kassen im Zwischenstock und ließ Frau Martys Einkäufe registrieren. Frau Desforges fand ihre Sachen alle beisammen an Kasse zehn im Erdgeschoß. Die Damen trafen sich wie vereinbart noch einmal im orientalischen Saal und brachen dann, immer noch voller Bewunderung, endgültig auf.

Das Publikum verlor sich allmählich; es war bereits zu den beiden ersten Abendmahlzeiten geläutet worden, bald mußte das dritte Zeichen kommen. Die Abteilungen leerten sich, man sah nur noch wenige Käuferinnen, die sich in ihrem Eifer nicht losreißen konnten. Von draußen drang des Geräusch der letzten abfahrenden Droschken herein. Im Innern sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Todmüde von der anstrengenden Arbeit standen die Angestellten inmitten des Wirrwarrs ihrer Fächer und Tische. Nur mit Mühe konnte man durch die Gänge des Erdgeschosses kommen, überall war der Weg durch Stühle verrammelt. Im Keller aber war die Warenabgangsstelle noch in voller Tätigkeit; ununterbrochen wurden Pakete hinaufgeschafft und abgefahren.

Die Seidenabteilung war vollständig geräumt, der ganze ungeheure Vorrat an »Pariser Glück« war fort, als wären Heuschreckenschwärme über die Abteilung hinweggegangen. Inmitten dieser Leere standen Hutin und Favier und blätterten in ihren Kassenblocks, berechneten ihre Prozente, noch völlig erhitzt vom Kampf. Favier hatte es auf fünfzehn Franken gebracht, Hutin nur auf dreizehn; er war somit geschlagen worden und wütend über sein Mißgeschick. Das ganze Geschäft um sie her war von der gleichen Profitsucht erfaßt.

»Nun, Bourdoncle, zweifeln Sie noch immer?« fragte Mouret. Er stand wieder auf seinem Lieblingsposten oben an der Treppe zum Zwischenstock. Beim Anblick dieses Durcheinanders von Stoffen erschien ein triumphierendes Lächeln auf seinen Lippen. Die Schlacht war gewonnen, der Kleinhandel des Stadtviertels vernichtend geschlagen, Baron Hartmann mit seinen Millionen und seinen Grundstücken überwunden. Während er die Kassierer betrachtete, die, über ihre Bücher gebeugt, die langen Zahlenreihen addierten, während er den Klang der Goldstücke hörte, die aus ihren Händen in die kupfernen Schalen fielen, sah er das »Paradies der Damen« bereits ins Unermeßliche wachsen, sich bis zur Rue du Dix-Décembre erstrecken.

»Nun, Bourdoncle«, sagte er noch einmal, »jetzt sehen Sie es selbst: das Haus ist zu klein; wir hätten zweimal soviel verkaufen können.«

Bourdoncle ergab sich, im Grunde froh, daß er unrecht behalten hatte. In diesem Augenblick bot sich ihnen ein Schauspiel, das ihre Mienen ernst werden ließ. Lhomme, der erste Kassierer, hatte, wie jeden Abend, die Einnahmen der verschiedenen Abteilungen zusammengetragen. Er pflegte die Banknoten in eine Geldtasche, die Gold- und Silberstücke in Säcke zu tun und das Ganze zur Hauptkasse zu bringen. Heute herrschten Gold und Silber vor, und er stieg, mit drei großen Säcken beladen, mühevoll die Treppe empor. Man hörte ihn schon von weitem keuchen; so wankte er siegreich und von der kostbaren Last schier zu Boden gedrückt durch die Reihen der achtungsvoll zur Seite tretenden Angestellten daher.

»Wieviel ist es heute, Lhomme?« fragte Mouret gespannt.

Der Kassierer erwiderte:

»80 742 Franken und 10 Centimes.«

Ein freudiges Lachen ging durch das ganze »Paradies der Damen«. Die Zahl machte die Runde; es war die höchste Einnahme, die jemals ein Modewarenhaus an einem einzigen Tag verzeichnet hatte. –

Als Denise am Abend ins Dachgeschoß hinaufstieg, um zu Bett zu gehen, mußte sie sich an der Wand stützen. In ihrem Zimmer angekommen, warf sie sich auf das Bett, da sie sich kaum mehr auf den Beinen zu halten vermochte. Lange betrachtete sie mit trauriger Miene den Toilettentisch, den Schrank, diese ganze Dürftigkeit, wie sie nur in Mietshäusern zu finden ist. Hier also sollte sie leben; und sie sah diesen ersten abscheulichen Tag vor sich, der in einer unendlichen Reihe wiederzukehren drohte. Niemals würde sie die Kraft zu einer solchen Existenz finden. Ein Schluchzen schüttelte sie, und beim Gedanken an ihre beiden Geschwister brachen die so lange zurückgehaltenen Tränen in einem nicht enden wollenden Strom hervor.

Kapitel Neun­und­neunzig

Am folgenden Morgen war Denise kaum eine halbe Stunde in der Abteilung, als Frau Aurélie in strengem Ton sagte:

»Fräulein, Sie sollen sich bei der Geschäftsleitung melden!«

Das junge Mädchen fand Mouret allein in dem großen Arbeitszimmer. Er hatte sich plötzlich der »Löwenmähne« erinnert, wie Bourdoncle sie genannt hatte, und obwohl es ihm sonst widerstrebte, den Gendarmen zu spielen, war er auf die Idee verfallen, sie zu sich kommen zu lassen, um sie ein wenig aufzurütteln, falls sie noch immer so provinzmäßig herumlaufen sollte.

»Fräulein«, begann er, »wir haben Sie aus Rücksicht auf Ihren Onkel eingestellt, aber Sie dürfen uns nicht in die unangenehme Notwendigkeit versetzen –«

Er unterbrach sich. Ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtisches stand Denise aufrecht, ernst und blaß da. Ihr Seidenkleid war nicht mehr zu weit, es lag eng an ihren runden Hüften an und betonte die weichen Linien ihrer mädchenhaften Schultern; ihr Haar, das sie in dicken Flechten aufgesteckt hatte, sah noch immer etwas wild aus, doch es wirkte bereits gebändigter. Am Abend vorher war sie gänzlich erschöpft in Kleidern eingeschlafen; als sie dann gegen vier Uhr morgens erwacht war, hatte sie sich ihrer nervösen Empfindlichkeit geschämt, sich sofort darangemacht, ihr Kleid zu ändern, und eine volle Stunde vor dem schmalen Spiegel damit verbracht, ihre Haare zurechtzustecken.

»Gottlob, Sie sehen heute schon besser aus«, murmelte Mouret, »aber da sind noch immer ein paar dieser verteufelten Schwänze.«

Er stand auf und trat zu ihr, um sich mit der gleichen vertraulichen Gebärde wie gestern Frau Aurélie mit ihren Haaren zu schaffen zu machen.

»Da, schieben Sie das hinter die Ohren … Der Knoten sitzt zu hoch.«

Sie ließ alles wortlos mit sich geschehen. Sie war überzeugt, daß er sie nur habe rufen lassen, um ihr die Entlassung mitzuteilen. Das offene Wohlwollen Mourets beruhigte sie nicht, sie fürchtete ihn immer noch und empfand in seiner Gegenwart jenes Unbehagen, das sie sich mit der natürlichen Verlegenheit dem mächtigen Mann gegenüber erklärte, von dem ihr Schicksal abhing.

Als er sah, wie sie unter der Berührung seiner Finger zitterte, bedauerte er seine freundliche Regung schon wieder, denn er fürchtete nichts mehr, als seine Autorität einzubüßen.

»So, Fräulein«, fuhr er, auf seinen Platz zurückkehrend, fort, »nun achten Sie darauf, daß Sie etwas besser aussehen. Sie sind nicht mehr in Valognes, nehmen Sie sich unsere Pariserinnen zum Vorbild. Wenn der Name Ihres Onkels auch genügt hat, Ihnen unser Haus zu öffnen, so hoffe ich doch, daß Sie halten werden, was Ihre Person mir zu versprechen schien. Zum Unglück teilen nicht alle Leute hier meine Ansicht … Sie sind gewarnt, machen Sie meine Hoffnungen nicht zuschanden. Und nun können Sie gehen.«

Er hatte sie wie ein Kind behandelt, mit mehr Mitleid als Güte. Sie machte kehrt und seufzte draußen erleichtert auf.

Von diesem Tag an war Denise sehr tapfer. Ihre Empfindlichkeitsanwandlungen wurden seltener, sie machte wenig Aufhebens, ging geradewegs auf ihr Ziel los mit einer unüberwindlichen Sanftmut, die über alle Hindernisse hinwegglitt; dabei war sie einfach und natürlich, ihr kindliches, friedfertiges Gesicht machte alle Zornesausbrüche zuschanden.

Es hieß vor allem, mit den körperlichen Strapazen der Abteilung fertig zu werden. Während der ersten sechs Wochen taten ihr die Arme von den schweren Kleiderbündeln so weh, daß sie nachts vor Schmerz aufstöhnte, wenn sie sich in ihrem Bett umdrehte. Noch mehr litt sie unter den plumpen Schuhen, die sie aus Valognes mitgebracht hatte und die sie nicht durch leichte Stiefelchen ersetzen konnte, weil ihr das Geld dazu fehlte. Da sie immer auf den Beinen war, unaufhörlich hin und her lief, aus Furcht, gescholten zu werden, wenn man sie eine Minute an der Wand lehnen sah, schwollen ihr die Füße an; in den Sohlen fühlte sie ein fieberhaftes Brennen, sie waren über und über mit Blasen bedeckt. Sie kam sich vor wie geschlagen, ihre unnatürliche Blässe verriet, daß ihre körperlichen Funktionen ihr schwer zu schaffen machten. Allein so schmächtig und gebrechlich sie war, sie gab trotzdem nicht auf.

Ihr größter Kummer war, daß die ganze Abteilung ihr feindlich gegenüberstand. Zu den körperlichen Leiden kam das intrigante Verhalten ihrer Kolleginnen. Nach zwei Monaten der Geduld und Sanftmut hatte sie sie noch immer nicht entwaffnet. Es gab nach wie vor verletzende Worte, grausame Erfindungen, Äußerungen der Geringschätzung, die sie in ihrem Bedürfnis nach Freundlichkeit und Güte im Innersten trafen. Lange Zeit machte man sich über ihr unglückliches erstes Auftreten lustig; Ausdrücke wie »Holzpantine«, »Büffelkopf« liefen um; solche Verkäuferinnen müsse man nach Valognes zurückschicken, hieß es; kurz, sie galt als die Dümmste in der Abteilung. Als man dann die Erfahrung machen mußte, daß sie eine ganz bemerkenswerte Verkäuferin war, die mit dem Getriebe des Hauses bald gut Bescheid wußte, war man verblüfft und entrüstet; von diesem Augenblick an schien unter den Kolleginnen die stillschweigende Übereinkunft zu bestehen, ihr niemals eine ernsthafte Kundin zukommen zu lassen. Marguerite und Claire verfolgten sie mit einem instinktiven Haß und verbündeten sich, um nicht von dieser Neuen verdrängt zu werden, die sie trotz ihrer erheuchelten Geringschätzung fürchteten. Frau Aurélie hinwiederum war verletzt durch die stolze Zurückhaltung des Mädchens, das sich nicht fortwährend mit dem Ausdruck der Bewunderung um ihre kostbare Person zu schaffen machte; sie überließ sie daher den Bosheiten ihrer Günstlinge, den Bevorzugten des Hofstaates, die fortwährend vor ihr auf den Knien lagen, nur damit beschäftigt, ihrer Autorität zu schmeicheln. Frau Frédéric, die Zweite, schien sich einen Augenblick diesem Komplott nicht anschließen zu wollen; sie bereute es aber wohl, denn bald zeigte auch sie sich ebenso hart wie die übrigen, als sie merkte, daß jede Freundlichkeit Denise gegenüber ihr die Mißgunst der übrigen zuziehen konnte. Das junge Mädchen war somit auf sich allein gestellt, alle verfolgten die »Löwenmähne«, sie lebte in einem fortwährenden Kampf und brachte es nur mit all ihrem Mut fertig, sich in der Abteilung zu halten. Und bei dem allem mußte sie lächeln und sich anmutig geben, wenn sie auch fast verging vor Erschöpfung und Sorgen. Ihr einziger Zufluchtsort war ihr Zimmerchen, wo sie nach den Leiden und Anstrengungen des Tages ihren Tränen freien Lauf lassen konnte.

 

Mouret hatte sie nie mehr angesprochen. Wenn sie dem strengen Blick Bourdoncles begegnete, fuhr sie zusammen, denn sie ahnte in ihm ihren natürlichen Gegner, der ihr nicht den geringsten Fehler nachsehen würde. Inmitten dieser allgemeinen Feindseligkeit war sie erstaunt über das seltsame Wohlwollen des Inspektors Jouve; wenn er ihr irgendwo abseits begegnete, lächelte er ihr zu und suchte ihr ein freundliches Wort zu sagen; schon zweimal hatte er Rügen von ihr abgewendet, aber sie war davon mehr verwirrt als gerührt.

Als eines Abends nach dem Essen die Verkäuferinnen eben dabei waren, die Schränke einzuräumen, kam der Laufbursche Joseph, um Denise zu benachrichtigen, daß ein junger Mann sie unten erwarte. Sie fuhr erschrocken zusammen.

»Schau, schau«, sagte Claire, »die ›Löwenmähne‹ scheint einen Liebhaber zu haben.«

»Der muß aber arg hungrig sein«, lachte Marguerite.

Denise fand am Eingang ihren Bruder Jean. Sie hatte ihm in aller Form verboten, sie im Geschäft aufzusuchen, weil es einen schlechten Eindruck mache. Doch sie wagte nicht, ihn auszuschelten, so verstört wirkte er. Er war noch ganz atemlos, vom Faubourg du Temple bis hierher gelaufen.

»Hast du zehn Franken?« stammelte er. »Gib mir zehn Franken, oder ich bin verloren.«

Der große Bursche mit seinen blonden Haaren und seinem hübschen Mädchengesicht war so drollig, als er diese Worte herausbrachte, daß Denise aufgelacht hätte, wenn seine Geldforderung sie nicht so in Angst versetzt hätte.

»Wie, zehn Franken?« stotterte sie. »Was ist denn passiert?«

Er errötete und erklärte, daß er der Schwester eines Kameraden begegnet sei. Denise hieß ihn schweigen, sie wollte davon nichts weiter wissen. Schon zweimal war er gekommen, um in ähnlicher Weise bei ihr Anleihen zu machen; allein es hatte sich bisher nur um geringfügige Beträge gehandelt, das erstemal um fünfundzwanzig Sous, das zweitemal um dreißig Sous. Immer hatte er Weibergeschichten.

»Ich kann dir die zehn Franken nicht geben«, sagte sie. »Ich habe für Pépé die Pension noch nicht bezahlt und besitze gerade so viel, wie das ausmacht. Es wird kaum genug übrigbleiben, daß ich mir ein Paar bequeme Schuhe kaufen kann, die ich sehr dringend brauche … Du bist wirklich unvernünftig, Jean; es ist schlimm mit dir.«

»Dann bin ich verloren«, wiederholte er mit einer tragischen Gebärde. »Hör zu, Schwesterchen: wir sind zusammen mit ihrem Bruder ins Café gegangen, und ich ahnte nicht, daß unsere Zeche so viel ausmachen würde … «

Sie unterbrach ihn, und da sie Tränen in den Augen des lieben Leichtfußes sah, holte sie ihr Portemonnaie aus der Tasche und steckte ihm ein Zehnfrankenstück in die Hand. Und schon lachte er wieder.

»Ich wußte es doch … Aber auf Ehrenwort: Nie wieder! Ich müßte ein abscheulicher Kerl sein!«

Er küßte die Schwester stürmisch auf beide Wangen und lief davon. Einige Angestellte, die die Szene mit angesehen hatten, waren nicht wenig erstaunt.

Denise konnte diese Nacht nicht schlafen. Das Geld war ihre ewige Sorge, seit sie im »Paradies der Damen« arbeitete. Sie hatte noch immer kein festes Gehalt, und da die anderen Mädchen ihr die Verkäufe wegangelten, verdiente sie kaum genug, um für Pépé die Pension zu bezahlen. Oft mußte sie die Nacht damit zubringen, ihre Hemden und Strümpfe auszubessern, ja sogar ihre Schuhe flickte sie so geschickt wie ein Schuster. Für die große Wäsche benutzte sie ihre Waschschüssel. Sie behielt nicht einen Sou zurück, um sich die hundert kleinen Dinge zu kaufen, deren eine Frau bedarf. So war es jedesmal eine Katastrophe, wenn Jean mit seinen Liebesgeschichten erschien und all ihre Berechnungen über den Haufen warf. Ein Zwanzigsoustück riß schon ein beträchtliches Loch in ihre Barschaft; wie sollte sie nun gar zehn Franken wieder einsparen?

Am Morgen hatte sie wie immer zu lächeln und das wohlversorgte Mädchen zu spielen. Es kamen bekannte Kundinnen, Frau Aurélie rief sie wiederholt, um ihr Mäntel umzulegen, damit sie deren neuen Schnitt zur Geltung bringe; und während sie einen um den anderen vorführte, dachte sie an die vierzig Franken für Pépés Pension, die sie am Abend bezahlen sollte. Sie konnte sich notfalls diesen Monat noch mit den alten Schuhen behelfen; aber selbst wenn sie zu den dreißig Franken, die sie besaß, die vier hinzufügte, die sie Sou für Sou beiseite gelegt hatte, um sich neue Schuhe zu kaufen, so machte das immer erst vierunddreißig Franken. Wo sollte sie die fehlenden sechs hernehmen? Diese Sorge schnürte ihr das Herz zusammen.

»Sehen Sie, gnädige Frau, in den Schultern ist er ganz frei. Das sieht großzügig aus, ist sehr bequem … Das Fräulein kann auch mal die Arme verschränken.«

»Oh, gewiß, vorzüglich«, sagte darauf Denise mit liebenswürdiger Miene; »ich spüre ihn gar nicht. Gnädige Frau werden sehr zufrieden sein.«

Sie machte sich jetzt im stillen Vorwürfe darüber, daß sie letzten Sonntag Pépé bei Frau Gras abgeholt hatte, um ihn in den Champs-Elysées spazierenzuführen. Das arme Kind kam so selten fort. Aber sie hatte ihm Lebkuchen und einen Ball kaufen müssen, dann waren sie im Kaspertheater gewesen, und alles zusammen hatte neunundzwanzig Sous gekostet. Wirklich, Jean dachte auch gar nicht an den Kleinen, sonst würde er solche Dummheiten nicht begehen. Alles fiel ihr zur Last.

»Wenn der Mantel Ihnen nicht gefällt«, fuhr die Direktrice fort, »sehen Sie sich vielleicht hier diesen an. Fräulein, nehmen Sie ihn um!«

Denise nahm ihn um, ging mit kurzen Schritten auf und ab und sagte:

»Er ist viel wärmer und in dieser Saison sehr in Mode.«

Unter der äußeren Liebenswürdigkeit, die der Beruf ihr auferlegte, quälte sie sich so bis zum Abend mit der Sorge ab, wo sie das Geld auftreiben sollte. Die anderen überließen ihr zwar einen bedeutenden Verkauf, weil sie an diesem Tag sehr beschäftigt waren, allein es war erst Dienstag, und sie mußte noch vier Tage warten, bis sie ihren Wochen verdienst ausbezahlt erhielt. Nach dem Essen beschloß sie, ihren Besuch bei Frau Gras auf den folgenden Tag zu verschieben; sie würde sich entschuldigen, sie habe zu viel zu tun gehabt, und bis dahin würde es ihr vielleicht gelingen, die fehlenden sechs Franken zusammenzubekommen.

Da Denise für sich selbst die geringsten Ausgaben vermied, ging sie zeitig in ihre Kammer hinauf, um zu Bett zu gehen. Was hätte sie auch auf den Straßen anfangen sollen, ohne einen Sou und noch immer verwirrt durch diese große Stadt, in der sie bloß die benachbarten Gassen kannte. Sie wagte sich zuweilen bis zum Palais Royal, um etwas frische Luft zu schöpfen, dann kehrte sie rasch wieder heim, schloß sich in ihr Zimmerchen ein und begann zu nähen oder zu waschen. Sie hatte keine Freundin; von allen Mitarbeiterinnen hatte bloß eine einzige, Pauline Cugnot, ihr eine gewisse Sympathie bewiesen; aber da ihre aneinandergrenzenden Abteilungen fortwährend in offener Fehde lagen, mußte die Freundschaft der beiden Verkäuferinnen sich bisher auf einige im Vorübergehen ausgetauschte Worte beschränken. Zwar bewohnte Pauline die Nachbarkainmer zur Rechten; allein da sie jeden Abend nach dem Essen verschwand, um erst gegen elf Uhr wiederzukommen, hörte Denise sie nur, wenn sie zu Bett ging, und begegnete ihr niemals außerhalb der Arbeitsstunden.