50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Diese Nacht hatte Denise sich entschlossen, wieder einmal Schuster zu spielen. Sie hielt ihre Schuhe in den Händen, betrachtete sie und überlegte, wie sie es anfangen könnte, daß sie noch einen Monat hielten. Endlich nahm sie eine starke Nadel und begann, die abplatzenden Sohlen wieder anzunähen. Mittlerweile lagen in der mit Seifenwasser gefüllten Waschschüssel Kragen und Manschetten eingeweicht.

Jeden Abend hörte sie dieselben Geräusche. Die Frauen und Mädchen kamen eine nach der ändern heim; sie vernahm kurze geflüsterte Gespräche, Gelächter, zuweilen einen gedämpften Streit. Dann ächzten die Betten, und man hörte Gähnen. Endlich sanken die Kammern in einen tiefen Schlaf. Ihre Nachbarin zur Linken träumte laut, was Denise anfangs sehr erschreckt hatte. Vielleicht wachten auch andere Mädchen wie sie, um trotz des Verbots ihre Sachen instandzusetzen. Aber sie taten es gewiß auch sehr vorsichtig, nicht das geringste Geräusch drang durch die Türen.

Elf Uhr war seit einigen Minuten vorüber, als Denise leise Schritte vernahm und den Kopf hob. Sicherlich wieder eine, die sich verspätet hatte. Sie merkte, daß es Pauline war, als sie hörte, daß die anstoßende Tür geöffnet wurde. Zu ihrem Erstaunen kam gleich darauf das Mädchen sachte zu ihr herüber und klopfte.

»Rasch, ich bin es!«

Es war den Verkäuferinnen verboten, einander in ihren Kammern zu besuchen. Denise beeilte sich daher, den Schlüssel herumzudrehen, damit ihre Nachbarin nicht durch Frau Cabin überrascht wurde, die strenge Aufsicht übte.

»War sie da?« fragte sie, die Tür schließend.

»Wer? Frau Cabin?« sagte Pauline. »Ach, die fürchte ich nicht! Mit hundert Sous … «

Dann fügte sie hinzu:

»Ich habe Licht bei Ihnen gesehen und bin gekommen, weil ich schon lange mal mit Ihnen reden wollte; unten kann man ja keine drei Worte miteinander sprechen. Sie sahen mir heute abend bei Tisch so traurig aus!«

Gerührt von der Güte des Mädchens, dankte ihr Denise und bat sie, Platz zu nehmen. Aber in der Verwirrung über den plötzlichen Besuch vergaß sie, den Schuh wegzutun, den sie eben hatte flicken wollen. Pauline sah ihn, schüttelte den Kopf, blickte im Zimmer umher und bemerkte auch den Kragen und die Manschetten in der Waschschüssel.

»Ach, Sie Ärmste, ich habe es mir gedacht«, sagte sie; »ich kenne das nur zu gut. In den ersten Zeiten, als ich aus Chartres gekommen war und mein Vater mir keinen Sou schickte, mußte ich mir meine Hemden auch so waschen; ich hatte nur zwei, eins davon lag immer im Wasser.«

Ihr breites Gesicht mit den kleinen, gutmütigen Augen und dem großen Mund machte einen sehr freundlichen, gewinnenden Eindruck. Sie hatte sich gesetzt, und ohne Übergang erzählte sie plötzlich ihre Geschichte: ihre Jugend in der Mühle; wie Vater Cugnot durch einen Prozeß ruiniert worden war und sie mit zwanzig Franken in der Tasche nach Paris geschickt hatte, um sie da ihr Glück machen zu lassen; ihr erstes Auftreten als Verkäuferin, zuerst in einem Geschäft in Batignolles, dann im »Paradies der Damen«. Es waren fürchterliche Zeiten gewesen, alle erdenklichen Kränkungen und Entbehrungen hatte sie mitgemacht. Endlich kam sie auf ihr gegenwärtiges Leben, sie sprach von den zweihundert Franken, die sie monatlich verdiente, von den Vergnügungen, die sie sich gönnte, von der Sorglosigkeit, in der ihre Tage dahinflössen. Sie trug ein schönes blaues Tuchkleid, eine Brosche und eine Uhrkette, und sie lächelte unter ihrem Samthütchen, das mit einer großen grauen Feder geschmückt war.

Denise war mit ihrem Schuh in der Hand sehr rot geworden. Sie wollte eine Erklärung hervorstottern.

»Sagen Sie nichts, es ist mir geradeso ergangen«, wiederholte Pauline. »Sehen Sie mal, ich bin die Ältere, ich bin sechsundzwanzig, wenn man es mir auch nicht ansieht … Erzählen Sie mir doch von Ihren kleinen Sorgen … «

Angesichts dieser Freundschaft, die sich ihr so offen darbot, gab Denise nach. Im Unterrock, einen alten Schal über den Schultern, setzte sie sich neben Pauline, die in voller Toilette war, sprach von Jean und Pépé und gestand, wie sehr die Geldfrage sie quäle; dies brachte die beiden auf die anderen Kolleginnen der Konfektionsabteilung, und Pauline machte ihrem Herzen ordentlich Luft.

»Diese Bestien! Ich sehe recht gut, was sie mit Ihnen treiben. Wenn sie sich nur ein bißchen kameradschaftlich gegen Sie benehmen wollten, müßten Sie auf hundert Franken monatlich kommen.«

»Alle sind sie gegen mich, und ich weiß nicht einmal, weshalb«, fuhr Denise fort, wobei die Tränen ihr in die Augen traten. »Auch Herr Bourdoncle ist fortwährend hinter mir her, um mich bei irgendeinem Fehler zu erwischen … Bloß der alte Jouve –« Pauline unterbrach sie.

»Der alte Affe von Inspektor! Meine Liebe, trauen Sie dem nicht! Männer mit solchen großen Nasen … Er mag sich lange brüsten mit seinen Orden; man erzählt sich da eine Geschichte, die er bei uns in der Wäscheabteilung gehabt haben soll … Aber Sie sind doch ein Kind, daß Sie sich so kränken! Ist das ein Unglück, wenn man so empfindlich ist! Was Ihnen geschieht, ist allen geschehen … Sie sind neu und müssen Ihr Einstandsgeld zahlen.«

Sie hatte sie bei den Händen genommen, ganz von ihrem guten Herzen fortgerissen. Die Geldfrage sei allerdings sehr ernst, meinte sie. Ein junges Mädchen könne nicht für zwei Brüder sorgen, die Pension für den Kleinen bezahlen und die Geliebten des Größeren aushalten, wenn es nur die elenden paar Sous verdiene, welche die ändern ihm aus Erbarmen überließen.

»Hören Sie, dieses Leben kann nicht so weitergehen«, sagte Pauline. »Ich an Ihrer Stelle … «

Ein Geräusch im Korridor ließ sie verstummen. Sie spitzte die Ohren, dann fuhr sie leise im Ton zärtlicher Überredung fort:

»Ich an Ihrer Stelle würde mir jemanden nehmen.«

»Wie, jemanden nehmen?« murmelte Denise, ohne gleich zu begreifen.

Als sie endlich verstanden hatte, zog sie verblüfft ihre Hand aus der der Freundin. Dieser Ratschlag brachte sie in Verlegenheit; ein solcher Gedanke war ihr noch nie gekommen, und sie konnte auch den Vorteil nicht einsehen.

»Nein«, antwortete sie einfach.

»Dann werden Sie nie weiterkommen«, sagte Pauline. »Rechnen Sie sich das doch aus: vierzig Franken zahlen Sie für den Kleinen, dem Großen müssen Sie hier und da ein Hundertsoustück geben; Sie selbst können auch nicht immer wie eine Bettlerin herumlaufen in Schuhen, über die sich alle lustig machen … Nehmen Sie sich jemanden, das wäre viel besser.«

»Nein«, wiederholte Denise.

»Sie sind nicht recht gescheit. Es geht ja gar nicht anders, und es ist doch auch ganz natürlich. Wir haben es alle überstanden. Sehen Sie, ich hatte anfangs auch kein festes Gehalt, nicht einen Sou. Allerdings, Verpflegung und Wohnung sind frei; aber man hat ja schließlich Toilettenbedürfnisse, und wie soll man denn so ohne alles leben, eingeschlossen in seinem Zimmer, wo man nichts sieht als die Fliegen an der Wand! Da muß man's eben laufen lassen, früher oder später ist es soweit … «

Sie sprach von ihrem ersten Liebhaber, einem Schreiber bei einem Rechtsanwalt, den sie auf einer Landpartie in Meudon kennengelernt hatte. Nach ihm war ein Postbeamter gekommen, und seit dem Herbst hatte sie einen Angestellen aus dem »Bon-Marché«, einen großen, netten Jungen, mit dem sie ihre ganze freie Zeit verbrachte. Übrigens hatte sie immer nur einen. Sie war anständig und sprach mit Entrüstung von den Mädchen, die sich dem ersten besten hingaben.

»Ich will Sie ja gar nicht zu einem schlechten Lebenswandel verleiten. Ich würde mich auch nicht gern in Gesellschaft dieser Claire sehen lassen; man könnte mir leicht nachsagen, daß ich es so arg treibe wie sie. Aber wenn man ruhig mit einem lebt und sich nichts vorzuwerfen hat … Finden Sie es gar so schlimm?«

»Nein«, erwiderte Denise, »aber es paßt mir nicht.«

Neues Stillschweigen. Die beiden Mädchen sahen einander lächelnd an. Dann bemerkte Denise errötend:

»Außerdem müßte man demjenigen doch erst einmal gut sein.« Pauline schien erstaunt, dann lachte sie, küßte ihre Freundin und sagte:

»Aber, meine Liebe, man begegnet sich, findet Gefallen aneinander … Sie sind zu drollig! Es zwingt Sie ja keiner … Wenn Sie wollen, machen wir mit meinem Baugé nächsten Sonntag eine Landpartie, er wird dann einen seiner Freunde mitbringen.«

»Nein«, wiederholte Denise in ihrer eigensinnigen Sanftmut.

Pauline drang nicht weiter in sie; jeder sei sein eigener Herr, meinte sie. Sie habe ihr diesen Rat aus Freundschaft gegeben, denn es tue ihr weh, wenn sie eine Kollegin so unglücklich sehe. Da es jetzt Mitternacht schlug, erhob sie sich, um in ihr Zimmer zu gehen. Vorher nötigte sie Denise die sechs Franken auf, die ihr fehlten; sie könne sie ihr zurückgeben, wenn sie mehr verdiene.

»Und jetzt löschen Sie die Kerze aus, damit man nicht merkt, welche Tür geöffnet wird. Wenn ich drüben bin, können Sie sie wieder anzünden.«

Als es dunkel war, drückten sie einander noch einmal die Hand, und Pauline entfernte sich geräuschlos.

Denise wollte, bevor sie schlafen ging, noch ihre Schuhe fertigmachen und die Wäsche erledigen. Das Gespräch mit Pauline ging ihr lebhaft im Kopf herum. Sie war keineswegs empört, denn sie fand, daß jedermann sich sein Leben nach Gutdünken einrichten durfte, wenn er allein und verlassen dastand. Nur ihr selber waren solche Gedanken niemals gekommen; ihr gerader Sinn und ihre gesunde Natur hatten sie bisher auf dem rechten Weg gehalten. Gegen ein Uhr morgens ging sie endlich zu Bett. Nein, sie liebte niemanden. Warum sollte sie also ihr Leben ändern? Warum sollte sie von der mütterlichen Zärtlichkeit abgehen, die sie ihren beiden Brüdern gelobt hatte?

Von diesem Tag an interessierte sich Denise für die Herzensgeschichten ihrer Abteilung. Wenn es nicht viel zu tun gab, wurde fortwährend von den Männern gesprochen; es gab viel Klatsch, die Verkäuferinnen unterhielten sich oft tagelang mit der Erzählung von allerlei Abenteuern. Claire war beständig in Skandale verwickelt; man sagte, sie habe drei Liebhaber zugleich, ganz zu schweigen von den Gelegenheitsverehrern, die fortwährend hinter ihr herliefen. Wenn sie ihre Stellung nicht aufgab, so geschah es nur, um ihrer Familie gegenüber den Schein zu wahren, denn sie lebte in ewiger Furcht vor ihrem Vater, der ihr dauernd drohte, nach Paris zu kommen und ihr alle Knochen kaputtzuschlagen. Marguerite hingegen führte sich gut auf; man wußte bei ihr von keinem Liebhaber zu erzählen; dies überraschte allgemein, denn es war bekannt, daß sie nach Paris gegangen war, um vor Freunden und Bekannten einen Fehltritt zu verbergen. Wo hatte sie nur dieses Kind her, fragte man sich, wenn sie gar so vernünftig war? Auch über die Zweite, Frau Frédéric, machten die Mädchen ihre Späße; man erzählte sich, daß sie zu hochstehenden Persönlichkeiten allerlei geheime Beziehungen pflege. In Wahrheit wußte man nichts von ihren Herzensangelegenheiten; am Abend nach beendeter Arbeit entfernte sie sich immer sehr eilig, ohne daß jemand zu sagen wußte, wohin sie ging. Frau Aurélie, so behauptete man, habe es auf gefällige junge Leute abgesehen; doch waren diese Gerüchte sicherlich falsch und verdankten ihr Entstehen nur den Verleumdungen unzufriedener Verkäuferinnen. Möglich, daß sie einst einem Freund ihres Sohnes gegenüber allzuviel Wohlwollen an den Tag gelegt hatte, allein heute gab sie sich als ernste Frau, die an solchen Kindereien keinen Gefallen mehr findet. Was blieb, war die Masse der Mädchen, die abends an der Tür von ihren Liebhabern erwartet wurden. Auf der Place Gaillon sowie längs der Rue de la Michodière und der Rue Neuve-Saint-Augustin sah man immer einzelne Männer stehen, die auf ihre Mädchen warteten. Jeder nahm dann sein Liebchen am Arm, und man entfernte sich gemütlich plaudernd mit der Ruhe und Zufriedenheit von Eheleuten.

 

Am meisten brachte Denise die Entdeckung von Colombans Geheimnis in Verwirrung. Sie konnte ihn zu jeder Stunde auf der Schwelle des »Vieil Elbeuf« stehen sehen, wie er nach dein Zwischenstock des »Paradieses der Damen« hinaufschaute und die Konfektionsabteilung nicht aus den Augen ließ. Wenn er merkte, daß Denise ihn beobachtete, wandte er sich errötend ab, als fürchtete er, sie könnte ihn ihrer Kusine Geneviève verraten, obgleich es zwischen Denise und der Familie Baudu keinerlei Beziehungen mehr gab, seitdem das Mädchen im »Paradies der Damen« angestellt war. Sie glaubte zuerst, er sei in Marguerite verliebt, als sie seine sehnsuchtsvolle Miene sah; denn Marguerite war vernünftig, schlief im Hause und war nicht so leicht zu erobern. Später merkte sie zu ihrer Überraschung, daß die verliebten Blicke des Angestellten Claire galten. So schmachtete er sie seit Monaten aus der Ferne an, ohne den Mut zu finden, sich ihr zu erklären – und das einem Straßenmädchen gegenüber, das in der Rue Louis-le-Grand wohnte und das er ohne Schwierigkeiten hätte ansprechen können, bevor es sich jeden Abend am Arm eines anderen Mannes entfernte! Claire selbst schien von diesem heimlichen Verehrer nichts zu ahnen. Denise war über ihre Entdeckung schmerzlich betroffen. War das eine dumme Geschichte, die Liebe! Mußte sich dieser Junge, der sein Glück in Händen hielt, sein ganzes Leben verderben, indem er eine solche Dirne wie ein Heiligtum anbetete? Seit jenem Tag gab es ihr einen Stich, wenn sie das blasse, leidende Gesicht Genevièves hinter den Fenstern des »Vieil Elbeuf« auftauchen sah. So hing Denise ihren Gedanken nach, wenn sie abends die ganze Weiblichkeit mit ihren Liebhabern sich entfernen sah. Die im Hause schliefen, in den kleinen Kammern unter dem Dach, kamen gegen elf Uhr zurück, es sei denn, daß sie Erlaubnis bekommen hatten, ins Theater zu gehen. Die übrigen verschwanden bis zum nächsten Morgen. Denise mußte zuweilen mit einem Lächeln das freundschaftliche Kopfnicken erwidern, mit dem Pauline sie begrüßte, die regelmäßig um halb neun Uhr an der Ecke des Brunnens auf der Place Gaillon von Baugé erwartet wurde. Wenn Denise als letzte fortgegangen und ihren kurzen verstohlenen Spaziergang, immer allein, gemacht hatte, kam sie als erste wieder heim; sie arbeitete dann noch eine Weile oder ging zu Bett, wirre Gedanken im Kopf, von Neugierde erfaßt nach diesem Leben, das sie nicht kannte. Gewiß, sie beneidete diese Mädchen nicht; sie war glücklich in ihrer Einsamkeit, in ihrer Schüchternheit, die ihr wie eine Zuflucht war; allein ihre Einbildungskraft riß sie fort, sie suchte die Dinge zu ergründen, dachte unaufhörlich an die Vergnügungen, von denen ihr erzählt wurde, an die Cafés, die Restaurants, an die Theater, an die Sonntage mit ihren Spaziergängen und Bootspartien.

Indessen gab es in ihrem Leben voll Arbeit nur wenig Platz für solche gefährlichen Träumereien. Im Geschäft dachte man während des dreizehnstündigen Dienstes nur wenig an Liebe. Hätte nicht schon der ewige Kampf um das Geld den Unterschied der Geschlechter hier völlig verwischt, so hätten die ständige Hast und das Getriebe jedes Verlangen zwischen Verkäufern und Verkäuferinnen erstickt. Sie waren alle Teile eines Räderwerks, entsagten ihrer Eigenart und trugen ganz einfach mit ihren Kräften zum geordneten Ablauf des Ganzen bei. Das Privatleben begann erst draußen mit dem plötzlichen Aufflammen der Leidenschaften.

Eines Tages jedoch bemerkte Denise, wie Albert Lhomme, der Sohn der Direktrice, einem Mädchen aus der Wäscheabteilung ein Billett in die Hand gleiten ließ, nachdem er vorher einige Male mit gleichgültiger Miene durch die Abteilung spaziert war. Es war in der toten Zeit des Winterhalbjahres, die vom Dezember bis zum Februar dauert. Denise hatte zuweilen einige Augenblicke der Ruhe; sie konnte sich an die Wand lehnen, den Blick in die Tiefen der Geschäftsräume verloren, und auf Kunden warten. Die Mädchen der Konfektionsabteilung unterhielten gute Beziehungen zu den Verkäufern der Spitzenabteilung, ohne daß aber die Vertraulichkeit weiter gegangen wäre als bis zu trockenen Späßen, die mit leiser Stimme ausgetauscht wurden. Der Zweite in der Spitzenabteilung war ein großer Witzbold, der Claire mit dummen Vertraulichkeiten verfolgte, bloß um etwas zu lachen zu haben; im Grunde fand er an ihr so wenig Gefallen, daß er ihr außerhalb des Hauses aus dem Weg ging. So flogen von einem Tisch zum andern verständnisinnige Blicke hin und her, Worte, die sie allein begriffen, zuweilen gar leistete man sich ein leises Geplauder, wobei man einander den Rücken wandte, um nicht von dem fürchterlichen Bourdoncle überrascht und ausgescholten zu werden.

Was Deloche anging, so begnügte er sich längere Zeit damit, Denise lächelnd anzublicken. Später bekam er Mut und flüsterte ihr irgendein freundliches Wort zu, wenn er ihr begegnete. An dem Tag, als sie den Sohn von Frau Aurélie beobachtete, wie er dem Fräulein von der Wäscheabteilung sein Billett zusteckte, hatte Deloche Denise eben gefragt, ob sie gut gefrühstückt habe; er interessierte sich eben für sie und fand nichts Besseres zu sagen. Auch er hatte das Briefchen bemerkt; er schaute das Mädchen an, und beide erröteten über dieses Liebesspiel, das vor ihren Augen abrollte.

Doch trotz dieser schwülen Atmosphäre, die in Denise allmählich die Frau weckte, behielt sie ihren kindlichen Frieden. Nur die Begegnung mit Hutin ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie hielt diese Regung indessen für bloße Dankbarkeit, sie glaubte sich von der Höflichkeit dieses jungen Mannes angesprochen. Sooft er eine Kundin in die Abteilung führte, war Denise verlegen. Wenn sie von einer Kasse an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, ertappte sie sich oft dabei, daß sie einen Umweg machte und ganz überflüssigerweise an den Tischen der Seidenabteilung vorbeiging.

Eines Abends traf sie dort Mouret, und er schien ihr lächelnd nachzublicken. Er beschäftigte sich nicht mehr mit ihr und sprach sie von Zeit zu Zeit nur an, um ihr einen guten Rat in bezug auf ihre Aufmachung zu geben und mit ihr zu scherzen, sie als einen hoffnungslosen Fall zu behandeln, als eine Wilde, die er trotz all seiner Erfahrung nie zur Koketterie bringen werde. Er ließ sich zuweilen sogar zu Neckereien herab, ohne sich den Reiz eingestehen zu wollen, den diese kleine Verkäuferin mit dem drolligen Haarwuchs auf ihn ausübte. Unter seinem stummen Lächeln erbebte Denise, als hätte er sie bei einem Vergehen ertappt. Ahnte er etwa gar, weshalb sie durch die Seidenabteilung ging, während sie selbst kaum wußte, was sie zu diesem Umweg veranlaßte?

Hutin indessen schien die dankerfüllten Blicke des Mädchens nicht zu bemerken. Die Verkäuferinnen waren nicht sein Geschmack; er tat immer sehr geringschätzig gegen sie und rühmte sich mehr denn je seiner außerordentlichen Abenteuer mit den Kundinnen: Eine Baronin hatte sich einmal vor seinem Tisch Knall und Fall in ihn verliebt; und die Gattin eines Architekten, bei der er erschienen war, weil er ihr irrtümlich zu viel Seide abgemessen hatte, war ihm widerstandslos in die Arme gesunken. Hinter dieser normannischen Prahlerei steckte nichts weiter als Gelegenheitsdämchen, die er sich in den Kneipen oder im Tingeltangel holte. Wie alle Angestellten der Modebranche war er ein Verschwender; die ganze Woche führte er einen erbitterten Kampf um das Geld, um es am Sonntag mit vollen Händen hinauszuwerfen, auf den Rennplätzen, in den Restaurants, auf den Tanzböden, wie gewonnen, so zerronnen; an den folgenden Tag dachte er nicht. Nur Favier machte hierin eine Ausnahme und ging nicht mit ihm. Im Geschäft hielt er mit Hutin gute Kameradschaft; vor der Tür aber grüßten sie sich und gingen auseinander. Hutins intimer Freund war Liénard. Sie wohnten im Hotel Smyrna in der Rue Saint-Anne; es war dies ein alter Bau, in dem lauter Handelsangestellte lebten. Am Morgen kamen sie miteinander ins Geschäft. Wer früher fertig war, erwartete am Abend den ändern im Café Saint-Roch, wo die Verkäufer vom »Paradies der Damen« sich trafen. Hier wurde geschwatzt und getrunken, geraucht und Karten gespielt. Oft blieben sie bis ein Uhr und warteten, bis der Besitzer sie hinauswarf. Seit einem Monat gingen sie übrigens dreimal wöchentlich in ein Tingeltangel am Montmartre, wo sie Fräulein Laura, eine neue Sängerin und die jüngste Eroberung Hutins, so geräuschvoll feierten, daß die Polizei schon zweimal hatte einschreiten müssen.

So verging der Winter, und Denise erhielt endlich dreihundert Franken festes Gehalt. Es war die höchste Zeit, denn ihre schweren Schuhe hielten nicht mehr länger. Den ganzen letzten Monat hindurch war sie nicht mehr ausgegangen, weil sie fürchtete, sie könnten mit einem Schlag in die Brüche gehen.

»Mein Gott, Fräulein, Sie machen mit Ihrem Schuhwerk einen entsetzlichen Lärm!« hatte Frau Aurélie schon wiederholt gesagt. »Das ist ja unerträglich! … Was haben Sie denn bloß an den Füßen?«

Als Denise zum ersten Mal in Stoffschuhen herunterkam, sagte Claire zu Marguerite, laut genug, um gehört zu werden:

»Schau, schau! Die ›Löwenmähne‹ hat ihre Galoschen abgelegt. Das muß ihr aber schwergefallen sein: die waren ja noch von ihrer Mutter!«

Übrigens war man allgemein empört über Denise. Die Abteilung schien endlich ihre Freundschaft mit Pauline entdeckt zu haben, und man erblickte darin geradezu eine Auflehnung. Man wurde nicht müde, von Verrat zu sprechen, und beschuldigte sie, daß sie der Freundin Gespräche der andern wiedererzähle. Die Feindschaft zwischen Wäsche- und Konfektionsabteilung wurde hierdurch von neuem lebhaft angefacht; es gab hüben wie drüben harte Worte, und eines Abends kam es hinter den Hemdenkartons sogar zu einer Ohrfeige. Und all das wegen dieser Denise!

»Meine Damen, nur keine häßlichen Reden! Halten Sie an sich und zeigen Sie, wer Sie sind!« mahnte Frau Aurélie hoheitsvoll. Sie zog es gewöhnlich vor, sich in diese Händel nicht einzumengen. Auf eine Frage Mourets hatte sie einmal erklärt, diese Mädchen taugten eine wie die andere nicht viel. Allein in neuester Zeit war ihr Interesse erwacht, seit sie nämlich von Bourdoncle erfahren hatte, daß er ihren Sohn im Keller dabei ertappt habe, wie er eine Verkäuferin aus der Wäscheabteilung umarmte, just die, welcher der junge Mann seine Briefchen zuzustecken pflegte. Das war abscheulich, und sie beschuldigte die Wäscheabteilung, ihren Sohn Albert in einen Hinterhalt gelockt zu haben; ja der Streich gelte ihr, meinte sie, man suche sie zu verunglimpfen, indem man ein unerfahrenes Kind ins Verderben führe, nachdem man sich habe überzeugen müssen, daß ihre Abteilung unter ihrer strengen Führung unantastbar sei. Sie machte einen ganz ungewöhnlichen Lärm, um die Sache selbst zu vertuschen, denn sie gab sich über ihren Sohn keiner Täuschung hin, sie wußte, daß er aller tollen Streiche fähig war. Einen Augenblick schien die Geschichte ernst werden zu wollen, auch Mignot, der Verkäufer aus der Handschuhabteilung, wurde hineingezogen; er war der Freund Alberts, und ein Gerücht erzählte, daß er beim Verkauf die Mädchen bevorzuge, die sein Freund ihm schicke, daß sie stundenlang in den verschiedenen Kartons herumwühlen dürften. Außerdem sprach man von einem Paar schwedischer Handschuhe, welche die Verkäuferin bekommen haben sollte. Doch schließlich wurde der Skandal unterdrückt aus Rücksicht auf die Direktrice der Konfektionsabteilung, die selbst Mouret mit Achtung behandelte. Bourdoncle begnügte sich damit, acht Tage später die schuldige Verkäuferin aus der Wäscheabteilung zu entlassen, weil sie sich so weit vergessen hatte, sich im Keller umarmen zu lassen. Die Geschäftsleitung sei schon nachsichtig genug, meinte er, wenn sie die abscheulichen Dinge zulasse, die draußen vor sich gingen; im Haus selbst dagegen werde man nichts dergleichen dulden.

 

Und wieder war es Denise, die unter diesem Abenteuer zu leiden hatte. Obwohl Frau Aurélie im Grund recht gut Bescheid wußte, bewahrte sie doch gegen Denise einen geheimen Groll; sie hatte sie eines Abends mit Pauline lachen sehen und fürchtete Tratschereien über die Liebschaften ihres Sohnes. Künftig trennte sie das Mädchen noch mehr von den anderen in der Abteilung. Sie hegte seit langer Zeit den Plan, die Verkäuferinnen an einem Sonntag nach Rigolles in der Nähe von Rambouillet mitzunehmen, wo sie sich für die ersten hunderttausend Franken, die sie erspart hatte, eine Besitzung gekauft hatte. Sie beschloß, Denise an diesem Ausflug nicht teilnehmen zu lassen, um sie auf diese Weise zu bestrafen. Schon vierzehn Tage vorher gab es in der Abteilung kein anderes Thema als diese Landpartie. Man machte sich einen genauen Plan, sprach von einem Eselsritt, einer Mahlzeit im Grünen mit Buttermilch und frischem Schwarzbrot, kurz, man erhoffte sich alle erdenklichen Belustigungen. Frau Aurélie brachte ihre freien Tage meist in der Weise zu, daß sie mit irgendwelchen Damen spazierenging; sie war es so wenig gewohnt, im Kreis ihrer Familie zu sein, sie hatte sich an den seltenen Abenden, die sie zu Hause zubringen konnte, so unbehaglich, so fremd gefühlt zwischen ihrem Gatten und ihrem Sohn, daß sie es künftig vorgezogen hatte, an diesen Tagen das Hauswesen sich selbst zu überlassen und im Restaurant zu essen. Was die geplante Partie nach Rambouillet betraf, so erklärte sie einfach, für Albert schicke es sich nicht, die Damen zu begleiten, und auch der Vater täte besser daran, daheimzubleiben. Den beiden Männern war dieser Bescheid ganz recht.

»Sie wollen Sie ärgern, nicht wahr?« fragte Pauline eines Morgens. »Ich an Ihrer Stelle würde mich schadlos halten. Wollen die andern sich unterhalten, so würde ich es ebenfalls tun. Begleiten Sie uns nächsten Sonntag; Baugé fährt mit mir nach Joinville.«

»Nein, danke«, erwiderte das Mädchen freundlich, aber bestimmt.

»Warum denn nicht? Haben Sie noch immer Angst, daß Sie jemand vergewaltigt?«

Pauline lachte gutmütig. Auch Denise lächelte jetzt, sie wußte recht gut, wie es dann kam; alle diese Mädchen hatten ihre Liebhaber auf solchen Landpartien gefunden, und sie wollte eben nicht.

»Ich verspreche Ihnen«, fuhr Pauline fort, »daß Baugé niemanden mitbringen wird, nur wir drei werden dabei sein. Ich will Sie nicht verkuppeln, wenn es Ihnen so gegen den Strich geht.«

Denise zögerte noch immer, obwohl sie von einem solchen Verlangen erfüllt war, daß ihr das Blut in die Wangen stieg. Seit ihre Kolleginnen des langen und breiten von ihren ländlichen Vergnügungen sprachen, starb sie fast vor Sehnsucht nach freier Luft, sie träumte von Wiesen mit hohem Gras, in dem sie Spazierengehen würde, von riesigen Bäumen, deren Schatten auf sie herabrieseln würde wie kühles Wasser. Ihre ganze Kindheit, die sie in dem satten Grün des Cotentin zugebracht hatte, erwachte wieder in ihrer Erinnerung.

»Gut, ich gehe mit«, sagte sie endlich.

Alles wurde geregelt. Baugé sollte die Damen um acht Uhr auf der Place Gaillon abholen; von da wollte man mit einer Droschke zum Vincenner Bahnhof fahren. Denise, deren fünfundzwanzig Franken Monatsgehalt von den beiden Brüdern aufgezehrt wurden, konnte für ihre Toilette nichts weiter tun, als ihr altes Wollkleidchen mit Schrägstreifen aus kariertem Popeline etwas aufzuputzen; einen Hut, mit Seide bezogen und einem blauen Band verziert, hatte sie sich selber zurechtgemacht. Sie sah in dieser Schlichtheit sehr jugendlich aus, wie ein zu rasch in die Höhe geschossenes Kind, einfach, aber sauber, ein wenig verlegen unter der überquellenden Flut ihrer Haare, die unter ihrem dürftigen Hütchen kaum Platz fanden. Pauline hingegen glänzte in einem prächtigen seidenen Frühjahrskleid mit violetten und weißen Streifen, einem federgeschmückten Hut, mit Schmuck an Hals und Armen, kurz, im ganzen Reichtum einer wohlgestellten Kaufmannsfrau.

»Da ist Baugé«, sagte sie zur vereinbarten Stunde und zeigte auf einen großen jungen Mann, der neben dem Brunnen auf der Place Gaillon stand.

Sie stellte ihren Geliebten vor, und Denise fand ihn sehr nett. Baugé war groß und kräftig, mit einem langen Flamengesicht, aus dem zwei tiefliegende Augen mit kindlicher Einfalt hervorlachten. Er war als der jüngere Sohn eines Gewürzkrämers in Dünkirchen geboren und nach Paris gekommen, weil sein Vater und sein älterer Bruder, die ihn sehr dumm fanden, ihn sozusagen davongejagt hatten. Im »Bon-Marché« verdiente er jetzt jahrlich seine viereinhalbtausend Franken; er war wohl dumm, aber für den Leinenverkauf sehr gut zu gebrauchen.

»Wo ist die Droschke?« fragte Pauline.

Sie mußten bis zum Boulevard gehen. Die Sonne schien schon recht warm, ein schöner Maimorgen lachte auf das Pflaster herab, nicht das geringste Wölkchen trübte den Himmel, die durchsichtige blaue Luft war wie von Heiterkeit erfüllt. Ein behagliches Lächeln umspielte die Lippen Denises, sie atmete tief, es schien ihr, als weiche die ganze Beklemmung der letzten sechs Monate von ihr. Endlich hatte sie einen ganzen Tag vor sich, den sie auf dem Land zubringen durfte! Das war wie ein neues Leben, eine unendliche Freude.

Sie stiegen in die wartende Droschke, und Denise blickte verlegen zum Fenster hinaus, als sie sah, wie Pauline, kaum daß sie saßen, sich zu ihrem Liebhaber neigte und ihn herzhaft küßte.

»Sieh an«, rief mit einemmal Denise, »dort drüben geht Herr Lhomme. Und wie er sich beeilt!«

»Er hat sein Hörn bei sich«, fügte Pauline hinzu, die sich neben ihr zum Fenster hinausgebeugt hatte. »Ist das ein alter Narr! Man sollte glauben, er liefe zu einem Stelldichein!«

In der Tat sah man Lhomme mit seinem Instrument unter dem Arm vergnügt dahineilen, als freue er sich schon im voraus an den zu erwartenden Genüssen. Er wollte den Tag bei einem Freund zubringen, einem Klarinettisten, bei dem sich am Sonntag meist einige Musikliebhaber versammelten und ihre kleinen Hauskonzerte veranstalteten.

»Um acht Uhr schon, und alles wegen der Musik!« fuhr Pauline fort. »Sie wissen doch, daß Frau Aurélie und ihre ganze Gesellschaft bereits um sechs Uhr nach Rambouillet gefahren sind. Das Ehepaar wird sich heute bestimmt nicht sehr im Weg sein.«

Sie begannen sich über die Landpartie der anderen zu unterhalten. Sie wünschten ihnen kein schlechtes Wetter, weil sie dann selbst mit die Leidtragenden gewesen wären. Doch ein kleiner Platzregen über Rambouillet, während in Joinville die Sonne schien, wäre ein herrlicher Spaß gewesen.