50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Ein­hundert

Als die tote Zeit des Sommerhalbjahrs gekommen war, strich ein Hauch des Schreckens durch das »Paradies der Damen«. Es war die Zeit der Massenentlassungen in den heißen Monaten Juli und August.

Jeden Morgen nahm Mouret, wenn er mit Bourdoncle seine Inspektionsrunde machte, die Abteilungsleiter beiseite; im Winter hatte er ihnen zugeredet, so viele Verkäufer einzustellen, wie ihnen gut dünkte, damit nur der Verkauf nicht leide, und jetzt überredete er sie, das Personal zu verringern. Es ging darum, die allgemeinen Kosten zu senken. Zu diesem Zweck mußte ein gutes Drittel der Verkäufer auf die Straße gesetzt werden.

Die Ausführung übernahm wie gewöhnlich Bourdoncle. Er sagte nur: »Gehen Sie zur Kasse!«, und das Wort fiel wie ein Beilhieb auf den Betroffenen nieder. In der toten Zeit war ihm jeder Vorwand gut genug, um das Geschäft reinzufegen.

»Was sitzen Sie hier untätig herum: gehen Sie zur Kasse!« –

»Ich glaube gar, Sie widersprechen: gehen Sie zur Kasse!« –

»Ihre Schuhe sind nicht sauber: gehen Sie zur Kasse!«

Vor diesem allgemeinen Kehraus zitterten selbst die Mutigsten. Als Bourdoncle sah, daß auch dieses System das Geschäft noch nicht rasch genug leerte, hatte er eine andere Art erfunden, durch die er die jungen Leute ohne jede Mühe abmurkste. Schlag acht stellte er sich mit der Uhr in der Hand an die Tür, und wenn einer nur drei Minuten Verspätung hatte, wurde ihm das unerbittliche »Gehen Sie zur Kasse!« zuteil. Die Bevorzugten erhielten einen vierzehntägigen Urlaub ohne Bezahlung; das war eine etwas humanere Art, die Geschäftsausgaben zu verringern.

In den Abteilungen wurde von nichts anderem mehr gesprochen. Jeden Tag gab es neue Geschichten, man nannte die Namen der entlassenen Angestellten, wie man zu Zeiten großer Epidemien die Toten zählt. Bei der geringsten Klage der Kundschaft zeigte die Geschäftsleitung sich unerbittlich, keine Entschuldigung wurde angenommen, der Angestellte hatte immer unrecht und mußte verschwinden wie ein schadhaftes Werkzeug, das dem reibungslosen Funktionieren des Verkaufs nur im Wege ist. Die Kollegen ließen stumm den Kopf hängen, in der allgemeinen Angst zitterte jeder um sich selbst. Mignot wurde eines Tages dabei ertappt, daß er trotz des Verbots ein Paket unter seinem Mantel mitnehmen wollte, und entging mit knapper Not der Gefahr, hinausgeworfen zu werden; Liénard, dessen Trägheit bekannt war, verdankte es nur seinem Vater, daß er nicht flog, als ihn Bourdoncle eines Nachmittags zwischen zwei Samtstapeln schlafend antraf. Insbesondere aber war das Ehepaar Lhomme besorgt. Sie waren jeden Morgen darauf gefaßt, ihren Sohn Albert entlassen zu sehen; man war mit ihm sehr unzufrieden wegen der Art, wie er seine Kasse führte. Seine Frauenzimmer kamen gar ins Geschäft, um ihn zu unterhalten, und Frau Aurélie hatte schon zweimal bei der Direktion Fürbitte tun müssen, damit er nicht entlassen wurde.

Inmitten dieses allgemeinen Auskehrens lebte Denise in beständiger Angst; sie befürchtete jeden Augenblick eine Katastrophe. Es begannen wieder die Aufregungen der ersten Wochen, sie kam sich vor wie ein Hirsekorn unter einem mächtigen Mühlstein. Sie konnte sich keiner Täuschung hingeben: wenn eine Verkäuferin der Konfektionsabteilung entlassen werden sollte, dann war sicher sie die erste. Während der Landpartie nach Rambouillet mußten ihre Kolleginnen sie bei Frau Aurélie verleumdet haben, denn seit jener Zeit war die Direktrice doppelt streng gegen sie. Man konnte ihr nicht verzeihen, daß sie sich den Ausflug nach Joinville gegönnt hatte, man erblickte darin eine Auflehnung und war wütend, daß sie sich außerhalb des Hauses offiziell in Gesellschaft einer Verkäuferin aus der feindlichen Abteilung gezeigt hatte. Denise bekam die allgemeine Abneigung noch mehr zu spüren als bisher und verzweifelte schon daran, ihre Kolleginnen jemals umzustimmen.

»Lassen Sie sie doch laufen«, suchte Pauline sie zu trösten. »Es sind Flausenmacherinnen, nichts als dumme Gänse.«

Aber gerade das vornehme Gehabe der Mädchen schüchterte Denise vollends ein. In ihrem täglichen Umgang mit der Kundschaft hatten die Verkäuferinnen eigene Manieren angenommen, sie stellten ein seltsames Mittelding zwischen Arbeiterin und Bürgersfrau dar. Ihre gekünstelte Art, sich zu kleiden, ihre gezierte Haltung, die angelernten Redensarten zeugten von einer Halbbildung, die aus der Lektüre von Zeitschriften und aus gelegentlichen Theaterbesuchen zu stammen schien.

»Wissen Sie schon, daß die ›Löwenmähne‹ ein Kind hat?« fragte Claire eines Morgens, als sie in die Abteilung kam.

Als alle sehr erstaunt waren, fügte sie hinzu:

»Ich sah sie gestern abend den Balg spazierenführen … Sie scheint ihn irgendwo untergebracht zu haben.«

Zwei Tage später brachte Marguerite, die vom Essen heraufkam, eine andere Neuigkeit.

»Eine saubere Geschichte: ich habe den Liebhaber der ›Löwenmähne‹ gesehen … Es ist ein Arbeiter; denken Sie sich: ein kleiner, schmutziger Arbeiter mit strohblonden Haaren, der zu den Fenstern hereinglotzte, bis sie hinausging.«

Von da ab galt es als feststehende Tatsache: Denise hatte einen Handwerker zum Geliebten und hielt irgendwo im Stadtviertel ihr Kind versteckt. Man überschüttete sie mit boshaften Anspielungen. Als sie deren Bedeutung zum erstenmal begriff, wurde sie leichenblaß angesichts solcher ungeheuerlichen Verdächtigungen. Das war abscheulich; sie wollte sich rechtfertigen und stammelte:

»Aber das sind doch meine Brüder!«

»Ach ja, Ihre Brüder!« sagte Claire spöttisch.

Frau Aurélie mußte sich ins Mittel legen.

»Schweigen Sie, meine Damen, und machen Sie sich an Ihre Arbeit! … Fräulein Denise kann sich außerhalb des Hauses so schlecht aufführen, wie es ihr beliebt. Wenn sie nur hier ihre Pflicht tut!«

Diese lahme Verteidigung war so gut wie eine Verurteilung. Denise war völlig verstört und versuchte vergebens, alles zu erklären. Man lachte und zuckte die Achseln. Als das Gerücht sich verbreitete, war Deloche dermaßen entrüstet über diese Mädchen, daß er Lust hatte, sie zu ohrfeigen; nur die Furcht, Denise bloßzustellen, hielt ihn zurück. Seit dem Abend, den sie in Joinville miteinander zugebracht hatten, bewahrte er ihr eine unterwürfige Verehrung, die sich in seinen treuen Blicken aussprach. Niemand durfte etwas von ihrer Freundschaft ahnen, man hätte sich nur über sie lustig gemacht.

Denise entschloß sich endlich, gar nicht mehr zu antworten, es war zu widerwärtig. Wenn ein Kollegin eine neue Anspielung machte, begnügte sie sich damit, sie still und traurig anzusehen. Überdies hatte sie einen anderen Kummer: Geldsorgen bedrückten sie. Jean hörte nicht auf mit seinen Dummheiten, er quälte sie fortwährend mit Geldforderungen. Es verging kaum eine Woche, in der sie nicht einen vier Seiten langen Brief mit einem ganzen Roman von ihm erhielt, und jedesmal erschrak sie aufs neue. Sie glaubte all seine Geschichten aufs Wort, ja in ihrer Unerfahrenheit sah sie in seinen angeblichen Liebesabenteuern die größten Gefahren. Bald handelte es sich um vierzig Sous, mit denen er die Eifersuchtsanwandlungen einer schönen Frau beschwichtigen mußte, bald um fünf, um sechs Franken, die ein wütender Vater als Trostpflaster für die Ehre seiner armen Tochter verlangte. Da ihr Gehalt und ihre Provisionen hierfür nicht ausreichten, war sie auf den Gedanken gekommen, eine Nebenbeschäftigung für ihre freie Zeit zu suchen. Sie sprach mit Robineau, der seit der Begegnung bei Vinçard immer freundlich zu ihr gewesen war, und er verschaffte ihr eine Arbeit: Krawattennähen, das Dutzend für fünf Sous. Von neun Uhr abends bis ein Uhr nachts brachte sie sechs Dutzend fertig, das machte dreißig Sous; dabei verbrannte sie eine Kerze zu vier Sous. Doch diese sechsundzwanzig Sous, die sie allnächtlich dazuverdiente, genügten für Jeans Geldforderungen. Sie beklagte sich nicht darüber, daß sie um ihren Schlaf kam, sie hätte sich glücklich geschätzt, hätte nicht eine neue Katastrophe ihre Berechnungen wieder über den Haufen geworfen. Als sie nach einem Monat bei der Krawattenhändlerin erschien, fand sie die Tür verschlossen; die Frau war bankerott und schuldete Denise noch neunzehn Franken – eine bedeutende Summe, auf die sie seit acht Tagen mit Sicherheit gerechnet hatte. Alle Kümmernisse in der Abteilung waren nichts gegen dieses Mißgeschick.

»Sie sind so traurig«, sagte Pauline, als sie Denise ganz blaß in der Möbelabteilung traf. »Brauchen Sie etwas? Sagen Sie es doch!«

Denise, die ihrer Freundin schon zehn Franken schuldete, versuchte zu lächeln und erwiderte:

»Nein, danke, ich habe nur schlecht geschlafen; das ist alles.« Es war der 20. Juli; der Schrecken der Kündigungen hatte seinen Höhepunkt erreicht. Von vierhundert Angestellten hatte Bourdoncle bereits fünfzig hinausgeworfen; und schon sprach man von neuen Entlassungen. Allein Denise dachte kaum mehr an die allgemeine Gefahr, sondern nur an das neueste Abenteuer Jeans. Diesmal brauchte er fünfzehn Franken, die allein ihn vor der Rache eines betrogenen Ehemannes schützen konnten. Eben hatte sie wieder einen Brief von ihm erhalten, in dem er ihr ankündigte, daß er sich noch an diesem Abend das Leben nehmen müsse, wenn er die fünfzehn Franken nicht erhalte. Sie quälte sich den ganzen Tag. Die Pension Pépés hatte sie vor zwei Tagen bezahlt; von diesem Geld konnte sie daher nichts mehr nehmen. Sie hatte die Absicht gehabt, die neunzehn Franken von Robineau zu erbitten, der vielleicht Gelegenheit hatte, die Krawattenhändlerin ausfindig zu machen; allein Robineau war von seinem vierzehntägigen Urlaub noch nicht zurück, obgleich er schon tags vorher erwartet worden war.

Pauline drang weiter freundschaftlich in sie. Wenn sie einander so im Hintergrund einer abseits gelegenen Abteilung trafen, durften sie unbesorgt plaudern. Allein plötzlich machte Pauline eine Bewegung, als wollte sie davonlaufen. Sie hatte die weiße Krawatte eines Inspektors erkannt, der eben aus der angrenzenden Abteilung trat.

 

»Es ist nur Jouve«, sagte sie dann beruhigt. »Ich weiß nicht, was der Alte immer zu lachen hat, wenn er uns beide beisammen sieht. Ich an Ihrer Stelle würde mich vor ihm in acht nehmen, er tut zu freundlich Ihnen gegenüber. Er ist ein hinterlistiger Bursche.«

Der alte Jouve war in der Tat wegen seiner überstrengen Aufsicht bei allen Verkäufern verhaßt. Die Entlassungen geschahen größtenteils auf seine Berichte hin. Nur in den Abteilungen, wo Frauen angestellt waren, zeigte er sich freundlicher.

»Weshalb sollte ich ihn fürchten?« fragte Denise.

»Weil er vielleicht Dankbarkeit von Ihnen verlangen wird«, erwiderte Pauline lachend. »Mehrere Mädchen suchen mit ihm auf gutem Fuß zu bleiben.«

Jouve entfernte sich wieder und tat, als habe er sie nicht bemerkt.

»Übrigens«, sagte Pauline, »suchten Sie nicht gestern Robineau? Ich meine, er ist zurück.«

Denise glaubte sich gerettet.

»Vielen Dank; dann will ich einen Umweg durch die Seidenabteilung machen.«

Schnell, als begebe sie sich zu einer der Kassen, ging sie in die Halle hinab. Es war viertel vor zehn; man hatte soeben für die erste Schicht zum Essen geläutet. Die Sonne sandte ihre drückend heißen Strahlen durch das Glasdach. Die Verkäufer standen verschlafen herum; da und dort sah man eine vereinzelte Kundin müden Schritts durch die Abteilungen schlendern.

Als Denise herunterkam, maß Favier eben leichte Seide zu einem Kleid für Frau Boutarel ab, die tags vorher aus dem Süden angekommen war. Hutin hatte sich auf die reizende Blondine gestürzt, die jede Woche im »Paradies der Damen« erschien, immer allein. Diesmal hatte sie einen Jungen von vier bis fünf Jahren bei sich.

»Sie ist also verheiratet?« fragte Favier, als Hutin von der Kasse zurückkam.

»Möglich«, sagte der andere, »obgleich das Kind nichts beweist. Vielleicht gehört es einer Freundin … «

In diesem Augenblick ging Denise durch die Seidenabteilung; sie verlangsamte ihren Schritt und blickte um sich, um Robineau zu entdecken. Sie sah ihn nicht, ging in die Weißwarenabteilung und kam dann zurück. Die beiden Verkäufer hatten sie bemerkt.

»Da ist ja schon wieder dieses Knochengerüst«, murmelte Hutin.

»Sie sucht Robineau«, sagte Favier. »Ich weiß nicht, was sie miteinander haben. Es wird nichts Angenehmes sein; dazu ist Robineau zu dumm. Man erzählt, daß er ihr eine kleine Nebenbeschäftigung verschafft habe: Krawattennähen.«

Hutin sann auf eine Bosheit; als Denise an ihm vorüberkam, hielt er sie plötzlich an und sagte:

»Suchen Sie mich?«

Sie errötete tief. Seit jenem Abend in Joinville wagte sie nicht mehr, in ihrem Herzen zu lesen, in dem unbestimmte Empfindungen miteinander kämpften. Sie sah ihn immer wieder in Gesellschaft jener Dirne mit den strohgelben Haaren, und wenn sie in seiner Gegenwart auch noch zusammenfuhr, so geschah es doch mehr aus Unbehagen. Hatte sie ihn geliebt, liebte sie ihn vielleicht noch immer? Sie wollte über diese für sie so peinlichen Dinge nicht länger nachdenken.

»Nein«, erwiderte sie verlegen.

Er aber weidete sich an ihrer Verwirrung und sagte:

»Favier, das Fräulein sucht etwas Bestimmtes; legen Sie ihr doch mal Robineau vor.«

Sie sah ihn an mit jener ruhigen und traurigen Miene, mit der sie die verletzenden Anspielungen ihrer Kolleginnen aufzunehmen gewohnt war. Er war also boshaft und kränkte sie ebenso wie die übrigen; es war ihr, als tue ein Abgrund sich zwischen ihm und ihr auf. In ihren Zügen drückte sich ein solcher Kummer aus, daß Favier, sonst von wenig zartem Gemüt, ihr zu Hilfe kam.

»Herr Robineau ist bei der Warenabnahme«, sagte er, »er wird zum Essen sicher zurückkommen; Sie werden ihn nachmittags hier finden, wenn Sie ihn sprechen müssen.«

Denise dankte und ging in die Konfektionsabteilung zurück, wo Frau Aurélie sie mit kühlem Zorn empfing. Wie, sie war seit einer halben Stunde fort? Woher kam sie denn? Gewiß nicht aus dem Atelier! Denise ließ den Kopf hängen und dachte darüber nach, wie hartnäckig das Unglück hinter ihr her war. Wenn Robineau nicht zurückkam, war alles aus. Sie wollte aber doch nachmittags wieder nach ihm schauen.

In der Seidenabteilung hatte die Wiederkehr Robineaus eine wahre Revolution hervorgerufen. Die Abteilung hatte gehofft, daß er, angewidert von den Verdrießlichkeiten, die man ihm fortwährend bereitete, ganz fortbleiben werde; und einen Augenblick war er, von Vinçard noch immer gedrängt, sein Geschäft zu übernehmen, auch nahe daran gewesen, auf das Angebot einzugehen. Während seines Urlaubs hatte Hutin, der ihn vertrat, in jeder Weise versucht, dem Zweiten in den Augen des Chefs zu schaden und durch übermäßigen Eifer sich an seine Stelle zu bringen; bald hatte er kleine Unregelmäßigkeiten entdeckt, die sich der andere hatte zuschulden kommen lassen, bald war er mit verschiedenen Verbesserungsvorschlägen angekommen. Hinter Hutin stand Favier, und hinter Favier standen alle übrigen, die ganze Reihe drängte nach. Daher erhob sich auch ein allgemeines Murren, als der Zweite zurückkehrte. Einmal mußte doch ein Ende gemacht werden! Die Verkäufer hatten eine so drohende Haltung angenommen, daß der Abteilungsleiter, um der Direktion Zeit zu einem Entschluß zu lassen, Robineau zur Warenabnahme weggeschickt hatte.

»Wenn er bleibt, gehen wir alle«, erklärte Hutin.

Diese Geschichte verdroß Bouthemont sehr; er sah gern heitere Gesichter um sich, und die finsteren Mienen seiner Leute ärgerten ihn. Indessen wollte er gerecht sein.

»Lassen Sie ihn doch in Ruhe«, sagte er, »er tut Ihnen ja nichts.«

Da erhob sich lebhafter Widerspruch.

»Wie, er tut uns nichts? Er ist ein unerträglicher Bursche, immer gereizt und so stolz, daß er wenn nötig über unsere Leichen gehen würde!«

Das war der Hauptanlaß des allgemeinen Grolls. Robineau war nervös, schroff und mißtrauisch, und das wollten sie sich nicht gefallen lassen.

»Kurz, meine Herren, ich kann nichts tun«, sagte Bouthemont; »ich habe die Geschäftsleitung in Kenntnis gesetzt und werde sogleich mit ihr über die Sache sprechen.«

Man läutete jetzt zum zweiten Tisch. Favier und Hutin gingen hinab. Aus allen Abteilungen strömten die Angestellten herbei. Unten, am Ende des Gangs zur Küche, war ein Schalter, dahinter stand ein Koch und teilte die Portionen aus.

»Was gibt's denn heute?« fragte Hutin und blickte nach dem Speisezettel, der oberhalb des Schalters an einer schwarzen Tafel zu lesen war. »Aha: Rindfleisch mit pikanter Soße oder Rochen! Niemals einen Braten in dieser Bude! Das soll einem nun bekommen: ewig dieses Suppenfleisch oder der verdammte Fisch!« Der Fisch wurde gewöhnlich verschmäht; diesmal verlangte Favier jedoch von dem Rochen, während Hutin Rindfleisch mit pikanter Soße nahm. Mit einer mechanischen Handbewegung spießte der Koch ein Stück Rindfleisch auf seine Gabel und begoß es mit einem Löffel Soße. Hinter Hutin hörte man einen nach dem ändern verlangen: »Rindfleisch mit pikanter Soße … Rindfleisch mit pikanter Soße … « Jeder ging mit seiner Portion weiter bis zu einem zweiten Schalter, wo kleine unverkorkte Fläschchen Wein verteilt wurden.

»Eine schöne Promenade mit all dem Geschirr!« brummte Hutin. Der Tisch für ihn und Favier befand sich am äußersten Ende des Ganges im zweiten Speisesaal. Die Räume sahen alle gleich aus. Es waren ehemalige Keller, fünf Meter lang, vier Meter breit, die man verputzt und so in Speiseräume umgewandelt hatte; aber die Feuchtigkeit schlug überall durch, die gelben Mauern zeigten große graue Flecken. Durch die winzigen Fenster, die sich in der Höhe des Bürgersteigs auf die Straße öffneten, fiel mattes Licht herein, fortwährend verdunkelt durch die Schatten der Vorübergehenden. Im Sommer wie im Winter herrschte hier eine unerträgliche Hitze, die mit den Speisegerüchen aus der Küche hereinströmte.

Hutin war als erster eingetreten. Er nahm sich seine Serviette aus einem Wandregal und setzte sich seufzend.

»Einen Hunger habe ich!« knurrte er vor sich hin.

»Wenn man am hungrigsten ist, gibt es gewöhnlich nichts Rechtes zu essen«, bemerkte Favier, der sich zu seiner Linken niederließ.

Der Tisch füllte sich rasch; er hatte zweiundzwanzig Gedecke. Anfangs hörte man nichts als das Geklapper der Gabeln und das hastige Kauen dieser kräftigen jungen Leute, die bei ihrer dreizehnstündigen Arbeit stets gut bei Appetit waren. Ursprünglich hatten die Verkäufer, denen eine Stunde Essenszeit zustand, ihren Kaffee auswärts trinken dürfen. Sie hatten sich dann beeilt, in zwanzig Minuten mit ihrer Mahlzeit fertig zu werden und ins Freie zu kommen. Allein man war zu dem Ergebnis gelangt, daß sie von draußen zerstreut zurückkamen und ihre Aufmerksamkeit nicht mehr so recht bei der Arbeit war. Seither mußten sie im Haus bleiben und konnten für drei Sous ihren Kaffee hier bestellen. Die Folge war wiederum, daß sie nun das Essen in die Länge zogen und sich nicht sonderlich beeilten, in die Geschäftsräume zurückzukehren. Viele lasen während des Essens ihre Zeitung, die sie zusammengefaltet an die Flaschen lehnten. Andere wieder unterhielten sich laut, sobald der erste Hunger gestillt war; man sprach von der schlechten Kost, von dem Geld, das man verdiente, davon, was man am letzten Sonntag getrieben hatte, und davon, was man am nächsten Sonntag treiben wollte.

»Was ist's mit eurem Robineau?« wurde Hutin von einem der Verkäufer gefragt.

Der Kampf der Seidenabteilung gegen den Zweiten beschäftigte alle. Jeden Abend wurde die Angelegenheit im Café Saint-Roch bis Mitternacht besprochen. Hutin, der mit seinem Rindfleisch zu tun hatte, begnügte sich damit, zu sagen:

»Robineau ist wieder zurück.«

Nach einer Weile warf er die Gabel hin und rief wütend:

»Verflucht, das ist ja Eselsfleisch! Ekelhaft!«

»Jammern Sie nicht«, sagte Favier; »ich war so dumm, Fisch zu nehmen, und der stinkt.«

Alle redeten jetzt zugleich, waren sehr entrüstet und machten derbe Späße. In einer Ecke saß an die Wand gelehnt Deloche und aß still vor sich hin. Er war stets erstaunlich bei Appetit und konnte sich nie sattessen. Da er nicht genug verdiente, um sich etwas nebenher zu gönnen, schnitt er sich riesige Stücke Brot ab und aß die widrigsten Gerichte, als seien es auserlesene Leckerbissen. Alle machten sich über ihn lustig. Einer rief:

»Favier, geben Sie Ihren Fisch doch Deloche; er ißt stinkenden Rochen gar zu gern.«

»Und Ihr Fleisch auch, Hutin! Deloche möchte es zum Nachtisch haben.«

Der arme Bursche zuckte die Achseln und sagte nichts. Es war ja nicht seine Schuld, daß er gar so hungrig war. Übrigens taten die anderen nur so spröde: sie stopften sich dennoch voll mit dem, was sie bekamen.

Doch jetzt gebot leises Pfeifen ihnen Stillschweigen. Es war das Signal, daß Mouret und Bourdoncle sich auf dem Flur befanden. Seit einiger Zeit häuften sich die Klagen der Angestellten über die Kost dermaßen, daß die Geschäftsleitung um eine Prüfung nicht mehr herumkam. An diesem Morgen erst hatten sämtliche Abteilungen Abgeordnete an die Direktion entsandt. Mignot und Liénard waren die Sprecher. Alle spitzten jetzt die Ohren, man horchte auf die Reden Mourets und Bourdoncles, die soeben in den benachbarten Speisesaal getreten waren. Bourdoncle fand das Rindfleisch ausgezeichnet, und Mignot, wütend darüber, brummte vor sich hin: »So essen Sie es doch!«, während Liénard auf den Rochen zeigte und ruhig bemerkte: »Der Fisch stinkt!« Da erging sich Mouret in gönnerhaften Reden: er wolle alles tun für das Wohl seiner Angestellten, sagte er; er sei ihr Vater und wolle lieber trockenes Brot essen, wenn nur sie gut verköstigt würden.

»Ich verspreche Ihnen, die Sache zu prüfen«, schloß er laut, damit man ihn von einem Ende des Gangs bis zum andern hörte. Damit war die Untersuchung beendet, das Geklapper der Gabeln ging wieder an. Hutin murrte:

»Ja, zählt nur auf diese Versprechungen! … An schönen Worten lassen sie es nicht fehlen! Dabei bekommen wir alte Schuhsohlen zu essen, und wenn einer schimpft, wird er hinausgejagt wie ein Hund!«

Der Verkäufer, der ihn schon vorhin gefragt hatte, wiederholte jetzt:

»Nun, wie ist es mit Robineau?«

»Ich sage doch, daß er wieder da ist«, erwiderte Hutin. »Aber es wird ernst; denken Sie sich, er hält es mit den Verkäuferinnen! Jawohl: er verschafft ihnen Nebenverdienste durch Krawattennähen!«

 

»Still!« flüsterte Favier; »da haben sie ihn gerade in Arbeit.« Er zeigte auf Bouthemont, der zwischen Mouret und Bourdoncle durch den Flur ging, alle drei in einem lebhaften, halblauten Gespräch begriffen. Der Speisesaal der Abteilungsleiter und der Zweiten befand sich gerade gegenüber. Als Bouthemont Mouret hatte vorübergehen sehen, war er aufgestanden und erzählte ihm von dem Ärger, den es in seiner Abteilung gab. Die beiden Herren hörten ihn an und schienen anfangs wenig geneigt, Robineau zu opfern, der ein ausgezeichneter Verkäufer war und noch aus den Zeiten von Frau Hédouin stammte. Allein als Bouthemont zu der Geschichte mit den Krawatten kam, geriet Bourdoncle in Zorn. War der Bursche verrückt, daß er sich auf solche Dinge einließ? Was hatte er den Verkäuferinnen Nachtarbeit zu verschaffen? Das Haus bezahlte ihre Arbeitszeit teuer genug. Wenn sie bei Nacht arbeiteten, dann taten sie bei Tag um so weniger: das war doch klar; sie bestahlen also die Firma und setzten ihre Gesundheit aufs Spiel, über die sie gar nicht zu verfügen hatten. Die Nacht war zum Schlafen da; jeder hatte zu schlafen, oder er wurde hinausgeworfen.

Mouret teilte die Entrüstung seines Teilhabers. Eine Verkäuferin, die gezwungen war, bei Nacht zu arbeiten – das war gleichsam ein Angriff auf die Organisation des »Paradieses der Damen«. Wer war denn die dumme Person, die mit ihren Bezügen nicht auszukommen verstand? Als aber Bouthemont Denise nannte, wurde er milder und fand die Sache entschuldbar. Ach ja, die Kleine, meinte er; sie war nicht sehr geschickt und hatte gewiß große Verpflichtungen. Aber Bourdoncle unterbrach ihn und erklärte, man müsse sie augenblicklich entlassen. Mit einem so häßlichen Ding sei ohnehin nichts anzufangen, er habe es ja immer gesagt. Mouret lachte verlegen. Mein Gott, wie streng! Sollte man ihr denn nicht noch einmal verzeihen? Man würde sie kommen lassen und ihr eine Rüge erteilen. Alles in allem war Robineau der Hauptschuldige, denn er als alter Verkäufer, mit den Gewohnheiten des Hauses wohlvertraut, hätte so etwas nicht tun dürfen.

»Seht euch das an, der Chef lacht ja gar!« sagte Favier erstaunt, als die drei Herren an der Tür vorbeikamen.

»Verdammt«, fluchte Hutin, »wenn sie darauf bestehen, daß Robineau bleibt, wollen wir ihnen die Hölle schon heiß machen!«

Bourdoncle schaute Mouret ins Gesicht, dann machte er eine geringschätzige Gebärde, als wollte er sagen, er verstehe schon, aber das sei doch nun wirklich zu dumm. Bouthemont hatte seine Klagen wieder aufgenommen. Die Verkäufer drohten zu gehen, darunter einige ausgezeichnete. Allein was die beiden Herren sehr viel mehr zu erregen schien, war das Gerücht, daß Robineau mit dem Fabrikanten Gaujean auf gutem Fuß stehe. Dieser rede ihm zu, erzählte man, sich im Stadtviertel niederzulassen; er wolle ihm einen erheblichen Kredit einräumen, damit er das »Paradies der Damen« ruiniere. Eine Weile schwiegen sie. Dieser Robineau trug sich also mit Konkurrenzgedanken! Mouret war ernst geworden, er tat sehr geringschätzig, konnte sich aber zu keinem Entschluß durchringen.

»Da kommt er gerade«, flüsterte der Abteilungsleiter. »Ich habe ihn zur Warenabnahme geschickt, um einem Konflikt vorzubeugen. Verzeihen Sie, daß ich in diesem Fall so dränge, aber die Dinge sind bis zu einem Punkt gediehen, an dem etwas geschehen muß.«

In der Tat kam eben Robineau vorbei; er grüßte die Herren und begab sich in den Speisesaal.

Mouret begnügte sich damit, zu wiederholen:

»Es ist gut, wir werden sehen.«

Damit gingen sie und ließen Hutin und Favier in der Ungewißheit zurück, wie die Sache denn nun ausgegangen sein mochte.

Der Küchenjunge brachte jetzt den Nachtisch und dann den Kaffee. Wer eine Portion wollte, bezahlte sofort seine drei Sous. Einige Verkäufer waren aufgestanden und schlenderten auf dem Gang auf und ab oder suchten einen dunklen Winkel, wo sie rasch eine Zigarette rauchen könnten; andere saßen schläfrig am Tisch, der mit schmutzigen Tellern und Schüsseln bedeckt war.

»Wie, schon?« rief mit einemmal Hutin.

Eine Glocke ertönte am anderen Ende des Ganges, man mußte der dritten Tafel Platz machen. Einige Burschen erschienen mit Wassereimern und großen Schwämmen, um die mit Wachsleinwand bezogenen Tische zu reinigen. Die Säle leerten sich, die Verkäufer gingen wieder in ihre Abteilungen hinauf.

Hutin und Favier, die unter den letzten waren, sahen Denise herunterkommen.

»Herr Robineau ist wieder da, Fräulein«, sagte Hutin mit spöttischer Höflichkeit.

»Er ist noch bei Tisch«, fügte der andere hinzu, »aber wenn Sie es eilig haben, können Sie ja hineingehen.«

Denise ging schweigend an ihnen vorüber; allein als sie am Speisesaal der Abteilungsleiter und der Zweiten vorbeikam, warf sie einen Blick hinein. Robineau war in der Tat noch da. Sie wollte versuchen, nachmittags mit ihm zu sprechen.

Das weibliche Personal aß in zwei besonderen Räumen, die etwas besser eingerichtet waren. Ein ovaler Tisch stand in der Mitte, zwischen den fünfzehn Gedecken war etwas mehr Platz, und der Wein war in Karaffen abgefüllt. An beiden Enden des Tisches waren eine Schüssel Rochen und eine Schüssel Rindfleisch mit pikanter Soße aufgetragen. Küchenjungen mit weißen Schürzen bedienten die Damen, die sich so ihre Portionen wenigstens nicht selbst am Schalter abholen mußten. Die Geschäftsleitung hatte dies passender gefunden.

»Sie haben einen Umweg gemacht?« fragte Pauline, die bereits bei Tisch saß und sich Brot abschnitt.

»Ja, ich habe eine Kundin begleitet«, erwiderte Denise.

Sie log. Claire stieß die neben ihr sitzende Verkäuferin mit dem Ellbogen an. Was hatte die »Löwenmähne« heute nur? Sie benahm sich so seltsam. Erst bekam sie einen Brief nach dem ändern von ihrem Liebhaber, und dann rannte sie unter irgendeinem Vorwand wie eine Wahnsinnige durch sämtliche Abteilungen. Sicherlich ging da etwas vor! Während sie ohne Widerwillen mit der Unbekümmertheit eines Mädchens, das schon von ranzigem Speck gelebt hat, ihren Rochen aß, begann sie von einer schrecklichen Geschichte zu sprechen, die in allen Zeitungen stand.

»Haben Sie von dem Mann gelesen, der seiner Geliebten mit einem Rasiermesser den Hals abgeschnitten hat?«

»Er hat ganz recht gehabt«, bemerkte eine kleine Verkäuferin aus der Wäscheabteilung mit sanftem, zartem Gesicht; »er hat sie mit einem ändern überrascht.«

Da protestierte Pauline.

»Wie«, rief sie, »wenn man einen Mann nicht mehr liebt, dann soll er das Recht haben, einem den Hals abzuschneiden?«

Sie unterbrach sich und wandte sich zu dem Küchenjungen:

»Pierre, ich kann das Rindfleisch nicht hinunterwürgen; sagen Sie in der Küche, man soll mir eine Omelette machen.«

Bis die Omelette fertig war, aß sie Schokoladenplätzchen, die sie in der Tasche hatte; sie trug immer Näschereien mit sich herum.

»Na ja, so ein Mann ist kein Spaß«, bemerkte Claire; »da gibt es ganz schön Eifersüchtige! Neulich erst hat ein Arbeiter seine Frau zum Fenster hinausgeworfen.«

Sie ließ Denise nicht mehr aus den Augen und glaubte, das Richtige getroffen zu haben, als sie das Mädchen erbleichen sah. Kein Zweifel, diese angebliche Unschuld zitterte davor, von ihrem Geliebten, den sie offenbar betrog, geohrfeigt zu werden. Wäre das ein Spaß, wenn es auch noch im Geschäft passierte!

Als der Küchenjunge zum Nachtisch Milchreis brachte, protestierten alle. Vorige Woche erst hatten sie ihn stehen lassen und gehofft, es werde ihn nicht wieder geben. Bloß Denise aß ihn in ihrer Zerstreuung und in der Verwirrung, in die sie während Claires Erzählung beim Gedanken an Jean geraten war. Die übrigen ließen sich etwas anderes bringen, fast alle aßen Eingemachtes. Es gehörte übrigens zum feinen Ton, sich für sein eigenes Geld zusätzlich zu beköstigen.