50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Raamat ei ole teie piirkonnas saadaval
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

»Sie wissen doch, daß die Herren sich beschwert haben«, sagte die zarte Wäscheverkäuferin, »und daß die Geschäftsleitung versprochen hat –«

»Still«, flüsterte Pauline, »da ist das alte Biest!«

Es war der Inspektor Jouve. Er liebte es, gegen Ende der Mahlzeiten um die jungen Mädchen herumzustreichen. Übrigens hatte er die Aufsicht in ihren Speisesälen. Er trat lächelnd ein und machte die Runde um die Tische. Zuweilen ließ er sich in ein Gespräch ein und fragte sie, ob sie gut gegessen hätten? Da sie ihn aber fürchteten und er sie langweilte, suchten sie fortzukommen. Obgleich es noch nicht geläutet hatte, verschwand Claire als erste, und die anderen folgten ihr. Bald blieben nur noch Pauline und Denise zurück. Pauline schlürfte ihren Kaffee und aß den Rest ihrer Schokoladenplätzchen.

»Ich will den Jungen fortschicken und mir Orangen holen lassen«, sagte sie dann und stand auf. »Kommen Sie mit?«

»Gleich«, erwiderte Denise, die an einer Brotrinde kaute.

Sie war entschlossen zurückzubleiben, um Gelegenheit zu einer Unterredung mit Robineau zu finden.

Aber als sie mit Jouve allein war, wurde ihr unbehaglich, und sie erhob sich. Sowie sie sich jedoch der Tür näherte, vertrat er ihr den Weg und sagte:

»Fräulein Denise … «

Er stand vor ihr und hatte eine väterlich gutmütige Miene angenommen. Sein grauer Schnurrbart, sein bürstenartig geschnittenes Haar gaben ihm das Aussehen eines biederen Soldaten; dabei streckte er die Brust vor, auf der sein rotes Ordensband prangte.

»Was ist denn, Herr Jouve?« fragte sie.

»Ich habe Sie heute früh wieder dabei überrascht, als Sie mit Ihrer Freundin Pauline hinter den Teppichen plauderten. Sie wissen, das ist verboten, und wenn ich darüber Bericht erstatten wollte … Was habt ihr denn miteinander, daß ihr euch gar so zugetan seid?«

Denise verstand ihn nicht und fühlte sich immer unbehaglicher; er war ganz nahe an sie herangetreten und sprach ihr gerade ins Gesicht.

»Es ist wahr, wir haben geplaudert, Herr Jouve«, stammelte sie; »aber dabei ist ja nichts Schlimmes … Sie sind sehr gütig gegen mich, vielen Dank.«

»Ich sollte nicht gütig sein«, sagte er, »nur gerecht; ich kenne nichts weiter als Gerechtigkeit … Aber wenn man so hübsch ist … «

Er trat noch näher. Da packte sie die Furcht; sie erinnerte sich der Worte Paulines und der umlaufenden Gerüchte von den Verkäuferinnen, die, vom alten Jouve terrorisiert, sich sein Wohlwollen erkaufen mußten. Er begnügte sich übrigens im Geschäft mit kleinen Vertraulichkeiten, kniff die Madchen, die ihm gefielen, in die Wangen, nahm ihre Hände und hielt sie wie zerstreut fest. Das hatte alles noch einen väterlichen Anstrich; seinen eigentlichen Gelüsten ließ er nur außerhalb des Hauses freien Lauf, wenn sich eine herbeiließ, seine Einladung zu einer Tasse Tee in seiner Wohnung anzunehmen.

»Lassen Sie mich«, murmelte das Mädchen und wich zurück.

»Sie werden doch nicht die Spröde spielen wollen einem Freund gegenüber, der Sie stets geschont hat«, sagte er. »Seien Sie nett, kommen Sie heute abend auf eine Tasse Tee zu mir; es ist gut gemeint.«

»Nein, nein«, rief sie abwehrend.

Der Speisesaal war immer noch leer; der Küchenjunge war nicht mehr zurückgekommen. Jouve spitzte die Ohren, ob er Schritte hörte, und blickte scheu um sich; er war in höchster Aufregung, verlor plötzlich seine Haltung und wollte sie auf den Nacken küssen.

»Kleine Kröte! Kleine dumme Kröte!« sagte er. »Wenn man solche Haare hat, darf man nicht so garstig sein. Kommen Sie heute abend zu mir; wir werden ein bißchen vergnügt sein.«

In ihrem Schrecken und ihrer Empörung über dieses flammende Gesicht, über diesen glühenden Atem verlor sie völlig den Kopf. Mit einer äußersten Kraftanstrengung versetzte sie ihm einen Stoß, daß er wankte und fast über den Tisch fiel. Zum Glück war ein Stuhl da, auf den er niedersank; allein infolge des Stoßes spritzte ein Rest Wein aus einem Glas, befleckte seine weiße Krawatte und benetzte sein rotes Ordensband. Ohne daran zu denken, sich abzutrocknen, saß er da, sprachlos vor Zorn über eine solche Rücksichtslosigkeit, die von einer Seite kam, von der er keinen Widerstand erwartet hatte, wo er nicht einmal seine Macht, nur seine Güte hatte walten lassen.

»Fräulein! Das werden Sie bereuen, auf Ehrenwort!«

Denise war entflohen. Man läutete eben zur letzten Tafel, und in ihrer Verwirrung, zitternd vor Angst, vergaß sie Robineau und eilte hinauf. Später wagte sie nicht mehr hinunterzugehen. Da die Sonne am Nachmittag auf die Gebäudeseite an der Place Gaillon niederbrannte, war es in den Räumen des Zwischenstocks trotz der leinenen Fenstervorhänge zum Ersticken heiß. Hie und da kamen einige Kunden, ohne etwas zu kaufen. Die ganze Abteilung gähnte unter den großen, geistesabwesenden Augen der Direktrice. Gegen drei Uhr endlich, als Denise sah, daß Frau Aurélie eingeschlafen war, machte sie sich mit geschäftiger Miene auf den Weg. Um die Neugierigen von ihrer Spur abzubringen, ging sie nicht direkt in die Seidenabteilung. Sie tat, als habe sie bei den Spitzen zu tun, und bat Deloche um eine Auskunft; dann ging sie im Erdgeschoß durch die Baumwollabteilung und kam gerade zu den Krawatten, als sie höchst überrascht stehenblieb. Jean stand vor ihr.

»Wie, du bist's?« flüsterte sie erbleichend.

Er hatte seinen Arbeitskittel an und stand vor einem Fach mit Krawatten, scheinbar in tiefe Betrachtungen versunken.

»Was machst du da?« fragte sie.

»Nun, ich warte auf dich; du hast mir zwar verboten, dich hier zu besuchen, ich bin aber doch gekommen, ohne jemandem etwas zu sagen. Du kannst ganz ruhig sein; tu, als ob du mich nicht kenntest, wenn du willst.«

Schon hatten einige Verkäufer erstaunte Blicke auf sie geworfen. Jean dämpfte die Stimme.

»Sie wollte mich eigentlich begleiten. Ja, sie ist draußen auf der Place Gaillon am Brunnen … Gib mir schnell die fünfzehn Franken, oder wir sind verloren, so wahr ich hier stehe!«

Denise geriet in maßlose Verlegenheit. Ringsumher lächelte alles höhnisch und schien sie zu belauschen. Da hinter der Krawattenabteilung eine Treppe in den Keller führte, drängte sie ihren Bruder dorthin und schob ihn hinab. Unten wiederholte er in verworrenen Worten seine Geschichte, weil er offenbar fürchtete, daß sie ihm nicht glaube.

»Das Geld ist nicht für sie. Sie ist viel zu vornehm dazu … Nein, es ist für so einen Schuft, einen Freund von ihr, der uns gesehen hat. Du begreifst: wenn er die fünfzehn Franken heute abend nicht bekommt … «

»Schweig«, flüsterte Denise. »Sofort … Geh nur voraus.«

Sie waren jetzt im Warenabgang. In der toten Zeit schlief dieser geräumige Keller in dem bleichen Licht, das durch die Fensteröffnungen hereinfiel. Es war kalt hier, tiefe Stille herrschte unter der gewölbten Decke.

Denise schob ihren Bruder immer weiter. Sie kamen durch einen der schmalen Gänge, in denen ständig das Licht brannte. Rechts und links waren in finsteren Seitenkellern die Ergänzungswaren aufgestapelt, vom Hauptkeller durch Lattenverschläge abgesondert. Endlich hielt sie vor einem der Holzgitter an. Hier würde sie sicher niemand stören, dachte sie; allein es war verboten, in diesen Teil des Kellers zu kommen, und sie zitterte vor Angst, entdeckt zu werden.

»Wenn dieser Lumpenkerl plaudert«, fuhr Jean fort, »kommt der Mann und —«

»Wo soll ich aber fünfzehn Franken hernehmen?« unterbrach ihn Denise verzweifelt. »Kannst du denn nicht vernünftig werden? Fortwährend hast du so kuriose Geschichten … «

Er schlug sich an die Brust und beteuerte, er mache ihr ganz gewiß nichts vor. Bei seiner romantischen Erfindungsgabe wußte er die volle Wahrheit schon selber nicht mehr. Er dramatisierte einfach seine fortwährenden Geldverlegenheiten.

»Bei allem, was mir heilig ist, ich werde es dir genau erzählen … «

Sie hieß ihn von neuem schweigen; sie war erzürnt, angeekelt, außer sich.

»Ich will nichts weiter wissen, behalt deine häßlichen Geschichten für dich. Du quälst mich unaufhörlich, ich bringe mich um, um dich mit Hundertsoustücken zu unterstützen. Ja, ich arbeite die Nächte hindurch … Ganz abgesehen davon, daß du deinem Bruder das Brot vom Mund wegstiehlst.«

Jean stand ganz blaß und verstört da. Wie, es war häßlich? Er begriff überhaupt nichts mehr! Er hatte seine Schwester immer als Kameradin behandelt und fand es ganz natürlich, daß er ihre Börse plünderte. Hauptsächlich aber verstörte ihn die Mitteilung, daß sie die Nächte durcharbeite. Der Gedanke, daß er sie umbringe und Pépé das Brot wegesse, machte ihn dermaßen bestürzt, daß er zu weinen begann.

»Du hast recht, ich bin ein schlechter Kerl«, rief er; »aber es ist durchaus nicht häßlich, im Gegenteil — deshalb fängt man ja immer wieder von vorne an … Gib mir die fünfzehn Franken, es wird das letztemal sein, ich schwöre es dir! Oder gib mir nichts, ich will lieber sterben; wenn der Mann mich tötet, bist du mich los.«

Weil sie nun auch weinte, fühlte er Gewissensbisse.

»Ich sage das ja nur so, vielleicht will er gar niemanden töten. Wir werden uns schon irgendwie ausgleichen, ich verspreche dir's, Schwesterchen. Adieu, ich gehe.«

Da vernahm sie das Geräusch von Schritten, die vom anderen Ende des Ganges herkamen. Alle beide erschraken; sie drängte ihn rasch gegen die Lattentür in einen dunkeln Winkel. Einen Augenblick hörten sie nichts als das Pfeifen der Gasflammen zu ihren Seiten, dann näherten sich die Schritte; sie streckte den Kopf vor und erkannte den Inspektor Jouve, der mit strenger Miene daherkam. War er zufällig hier oder hatte ein anderer Aufpasser ihn benachrichtigt? Sie wurde von einer solchen Furcht ergriffen, daß sie den Kopf verlor. Sie stieß Jean wieder aus dem dunkeln Winkel hervor, wo sie sich beide versteckt hatten, und trieb ihn vor sich her.

 

»Geh, geh!«

Sie liefen beide los, während sie hinter sich den keuchenden Atem des alten Jouve hörten, der sie verfolgte. Sie kamen wieder durch den Warenabgang und gelangten an den Fuß der Treppe, die zu dem verglasten Vorbau an der Rue de la Michodière führte.

»Geh, geh!« wiederholte Denise, »ich schicke dir die fünfzehn Franken, sobald ich kann.«

Jean entfloh ganz außer sich. Der Inspektor, der atemlos hinter ihm drein war, sah nur noch einen Zipfel seines weißen Kittels und die flatternden Locken seines blonden Haars. Der alte Jouve verschnaufte einen Augenblick, um seine dienstliche Haltung wiederzufinden. Er trug eine neue weiße Krawatte, die er sich in der Wäscheabteilung gekauft hatte.

»Das ist ja eine saubere Geschichte, Fräulein!« sagte er mit bebenden Lippen. »Sehr nett! Glauben Sie, ich werde dulden, daß Sie im Keller solche schmutzigen Sachen treiben?«

Mit diesen Worten verfolgte er sie, während sie ins Geschäft hinaufstieg; die Kehle war ihr wie zusammengeschnürt, sie fand kein Wort der Verteidigung. Jetzt bereute sie, geflohen zu sein. Es wäre doch besser gewesen, alles zu erklären und ihren Bruder vorzustellen. Nun würde man abermals abscheuliche Geschichten über sie erfinden, und sie konnte dann sagen, was sie wollte: man würde ihr nicht glauben. Sie hatte Robineau wieder vollständig vergessen und ging direkt in ihre Abteilung.

Jouve hingegen eilte sofort zur Geschäftsleitung, um über den Vorfall Bericht zu erstatten. Man sagte ihm, daß Herr Mouret sich in Gesellschaft der Herren Bourdoncle und Robineau befinde. Die Tür stand übrigens halb offen; man konnte Mouret hören, wie er den Zweiten fragte, ob er einen angenehmen Urlaub gehabt habe. Von Entlassung war gar keine Rede; es handelte sich im Gegenteil um verschiedene Maßnahmen, die in seiner Abteilung getroffen werden sollten.

»Was wünschen Sie, Herr Jouve?« rief Mouret. »Kommen Sie nur herein!«

Allein mittlerweile war Bourdoncle draußen erschienen, und der alte Jouve zog es vor, die Geschichte ihm zu erzählen. Sie gingen langsam nebeneinander her, der eine leise erzählend, der andere aufmerksam zuhörend, ohne daß ein Zug seines strengen Gesichts seine Empfindung verriet.

»Es ist gut«, sagte er endlich.

Da er sich gerade vor der Konfektionsabteilung befand, trat er ein. Frau Aurélie war eben im Begriff, Denise auszuschelten. Woher kam sie denn jetzt wieder? Sie wollte doch nicht noch einmal behaupten, sie sei im Atelier gewesen? Dieses ständige Verschwinden konnte wirklich nicht länger geduldet werden!

»Frau Aurélie!« rief Bourdoncle.

Er entschloß sich zu einem Gewaltstreich; er wollte die Sache nicht mit Mouret besprechen, aus Furcht, dieser könnte weich werden. Die Direktrice kam heran, und die Geschichte wurde mit leiser Stimme noch einmal erzählt. Die ganze Abteilung wartete gespannt, jedermann witterte eine Katastrophe. Endlich wandte sich Frau Aurélie mit feierlicher Miene um und sagte mit unerbittlicher Strenge:

»Fräulein Denise, gehen Sie zur Kasse!«

Der Befehl tönte laut durch die leere Abteilung. Denise stand bleich und regungslos da. Endlich stammelte sie:

»Ich? Weshalb denn? Was habe ich getan?«

Bourdoncle erwiderte hart, das wisse sie nur zu gut und sie täte besser daran, keine Erklärung zu verlangen; dann sprach er von den Krawatten und fügte hinzu, es wäre ein schöner Skandal, wenn alle Damen ihre Männer im Keller empfangen wollten.

»Aber das war doch mein Bruder!« rief sie mit der schmerzlichen Entrüstung eines Mädchens, dem man Gewalt antut.

Marguerite und Claire lachten, während Frau Frédéric, sonst so zurückhaltend, ebenfalls ungläubig den Kopf schüttelte. Immer ihr Bruder: das wurde langsam wirklich zu dumm! Denise blickte einen nach dem andern an: Bourdoncle, der ihr vom ersten Tag an feindlich gesinnt gewesen war; Jouve, der dageblieben war, um sich an ihrem Unglück zu weiden, und von dem sie keine Gerechtigkeit zu erwarten hatte; dann diese Mädchen, die eine wie die andere froh und glücklich waren, sie endlich loszuwerden. Wozu sollte sie sich wehren, warum sollte sie sich hier länger aufdrängen, da niemand sie wollte? Sie ging, ohne ein Wort hinzuzufügen. Sie warf nicht einmal einen Blick mehr auf diesen Saal, der so lange Zeit der Schauplatz ihrer Kämpfe gewesen war.

Doch auf der Treppe zur Halle fühlte sie, wie ein herber Schmerz ihr das Herz zusammenschnürte. Sie dachte plötzlich an Mouret und sagte sich, daß sie sich eine solche Entlassung nicht gefallen lassen dürfe. Würde auch er diese häßliche Geschichte glauben, dieses Stelldichein mit einem Mann unten im Keller? Bei diesem Gedanken wurde sie von Scham gepackt, von einer Beklemmung, wie sie sie noch nie empfunden hatte. Sie wollte ihn aufsuchen und ihm den Sachverhalt erklären; sie wollte gern fortgehen, wenn er nur die Wahrheit erfuhr. Ihre alte Furcht, die Unruhe, die sie in seiner Gegenwart stets erfaßte, verband sich plötzlich mit einem lebhaften Bedürfnis, ihn zu sehen und das Haus nicht zu verlassen, ohne ihm zu versichern, daß sie niemals einem Mann angehört habe. Allein als sie vor der Tür seines Arbeitszimmers angekommen war, bemächtigte sich ihrer eine grenzenlose Traurigkeit. Er würde ihr nicht glauben, er würde lachen wie die übrigen, und diese Furcht raubte ihr den letzten Rest von Mut. Es war aus, es war besser, wenn sie verschwand. Ohne auch nur Pauline oder Deloche von dem Vorfall zu benachrichtigen, ging sie zur Kasse.

»Sie haben zweiundzwanzig Tage«, sagte der Angestellte, »das macht achtzehn Franken siebzig. Dazu kommen noch sieben Franken Provision. Ist das richtig?«

»Ja, danke.«

Denise nahm ihr Geld und ging; da begegnete sie endlich Robineau. Er hatte bereits von ihrer Entlassung gehört und versprach ihr, daß er die Krawattenhändlerin suchen wolle. Er tröstete sie mit leiser Stimme und zeigte sich sehr erzürnt. Was war das für ein Leben! Von der Laune solcher Leute abhängig, stündlich in Gefahr, hinausgeworfen zu werden, ohne auch nur für den vollen Monat Bezahlung fordern zu dürfen!

Denise ging hinauf zu Frau Cabin und sagte ihr, sie werde wahrscheinlich noch im Lauf des Abends ihren Koffer abholen lassen. Es schlug eben fünf Uhr, als sie draußen auf der Place Gaillon stand. –

Als Robineau abends in seine Wohnung kam, fand er einen Brief der Geschäftsleitung vor, in dem er in aller Kürze verständigt wurde, daß man aus Gründen der inneren Ordnung genötigt sei, auf seine ferneren Dienste zu verzichten. Seit sieben Jahren war er im Haus, noch diesen Nachmittag hatte er mit den Herren über verschiedene Neuerungen gesprochen; diese Entlassung war wie ein Beilhieb. In der Seidenabteilung sangen Hutin und Favier Viktoria, ebenso laut wie Marguerite und Claire in der Konfektionsabteilung über die Entlassung Denises. Endlich wurde ordentlich aufgeräumt, endlich wurde Platz gemacht! Nur Pauline und Deloche tauschten, als sie einander begegneten, einige bittere Worte aus und bedauerten die sanfte und so anständige Denise.

Bourdoncle nahm nach diesem Vorfall gelassen einen Zornesausbruch Mourets hin. Als dieser von der Entlassung Denises hörte, war er sehr aufgeregt. Gewöhnlich befaßte er sich wenig mit dem Personal, diesmal aber glaubte er darin einen Eingriff in seine Machtbefugnisse erblicken zu sollen. War er denn nicht mehr der Chef, daß man es wagte, solche Befehle zu erteilen? Alles mußte ihm vorgelegt werden, alles, und wer sich ihm zu widersetzen suchte, den würde er zerbrechen wie einen Strohhalm! Als er sich dann näher erkundigte, geriet er noch mehr in Zorn. Das Mädchen hatte gar nicht gelogen, es war tatsächlich ihr Bruder gewesen; Campion, der Leiter der Warenabgangsstelle, hatte ihn erkannt. Warum war sie also entlassen worden? Er sprach davon, sie wieder einzustellen.

Boudoncle, stark im passiven Widerstand, beugte den Nacken und ließ den Sturm sich austoben. Als er eines Tages Mouret wieder ruhig sah, sagte er in eigentümlichem Ton:

»Es ist besser für alle, daß sie fort ist.«

Mouret wurde rot: er stand eine Weile verlegen da, endlich erwiderte er lächelnd:

»Sie haben vielleicht recht. Gehen wir hinunter und sehen wir uns den Verkauf an. Es wird jetzt besser. Gestern sind nahezu hunderttausend Franken hereingekommen.«

Kapitel Ein­hundert­eins

Einen Augenblick stand Denise wie versteinert auf dem Pflaster, den heißen Strahlen der Nachmittagssonne ausgesetzt. Mechanisch drehte sie ihre fünfundzwanzig Franken siebzig in der Tasche hin und her und fragte sich, was sie anfangen, wohin sie gehen solle. War es möglich, daß man einen Menschen so von einer Minute zur andern hinausstieß in diese ungeheure Stadt, ohne Stütze, ohne jede Hilfe? Sie mußte doch von etwas leben, mußte irgendwo schlafen! Um endlich wenigstens vom »Paradies der Damen« loszukommen, wandte sie sich nach der Rue de la Michodière.

Glücklicherweise stand Baudu nicht vor seiner Tür; der »Vieil Elbeuf« lag wie ausgestorben hinter seinen finsteren Schaufenstern. Sie hätte es nie gewagt, sich bei ihrem Onkel zu zeigen, denn seit ihrem Weggang tat er, als kenne er sie nicht, und in dem Unglück, das er ihr vorausgesagt hatte, wollte sie ihm nicht zur Last fallen. Plötzlich bemerkte sie einen gelben Zettel auf der anderen Seite der Straße: »Möbliertes Zimmer zu vermieten«. Das Haus sah sehr dürftig aus, und gleich darauf erkannte sie es auch mit seinen beiden niedrigen Stockwerken, seiner rostfarbenen Fassade, eingepfercht zwischen dem »Paradies der Damen« und dem ehemaligen Haus Duvillard. Auf der Schwelle seiner Regenschirmhandlung stand der alte Bourras mit seinem Prophetenhaupt und betrachtete, die Brille auf der Nase, den elfenbeinernen Knauf eines Spazierstockes. Er vermietete die beiden oberen Stockwerke, um einen Teil seiner eigenen Kosten wieder hereinzubringen.

»Sie haben ein Zimmer frei?« fragte Denise.

Er hob seine von dichten Brauen beschatteten Augen und war überrascht, als er sie vor sich stehen sah. Er kannte alle Mädchen vom »Paradies der Damen«. Nachdem er Denise mit ihrem ärmlichen Kleidchen und ihrem braven Äußeren eine Weile betrachtet hatte, sagte er:

»Das ist nichts für Sie.«

»Was kostet denn das Zimmer?« fragte Denise.

»Fünfzehn Franken monatlich.«

Sie wollte es sehen und betrat den dunklen Laden. Da er sie noch immer erstaunt ansah, erzählte sie ihm, daß sie aus dem »Paradies der Damen« ausgeschieden sei und ihrem Onkel nicht zur Last fallen wolle. Der Alte entschloß sich endlich, aus einem Hinterstübchen, das ihm als Küche und Schlafstätte diente, den Schlüssel zu holen. Von hier konnte man durch ein Fenster auf einen kleinen, dunklen Hof blicken, in den kaum ein Sonnenstrahl fiel.

»Ich gehe voraus, damit Sie nicht fallen«, sagte Bourras und betrat den feuchten Gang, der neben dem Laden hinlief. Unter fortwährenden Mahnungen stieg er die Treppe hinauf. Es war stockdunkel, erst im ersten Stock konnte Denise bei dem matten Licht eines Fensters, das auf den Hof ging, die geborstenen Stufen, die von Schmutz starrenden schwarzen Wände, die alten, schlecht schließenden, farblosen Türen erkennen.

»Wenn noch eines dieser Zimmer hier frei wäre«, sagte Bourras, »so wären Sie gut aufgehoben; aber die sind immer von solchen Damen bewohnt … «

Im obersten Stock wohnte vorn ein Bäckergeselle, das zweite Zimmer war zu vermieten. Bourras öffnete die Tür, damit Denise es bequem besichtigen konnte. Gleich in der Ecke stand das Bett und ließ gerade so viel Raum frei, daß eine Person vorbeigehen konnte. Am anderen Ende des Zimmerchens standen eine kleine Nußbaumkommode, ein Tisch aus schwarzem Fichtenholz und zwei Stühle. Wenn ein Mieter zu Hause kochen wollte, konnte er eine kleine Feuerstelle im Kamin benutzen.

»Mein Gott«, sagte der Alte, »es ist keine Prachtwohnung, aber das Fenster geht auf die Straße.«

Denise sah überrascht zur Decke auf, wo über dem Bett in rußigen Zügen das Wort »Ernestine« zu lesen war. Offenbar hatte hier eine Vorgängerin mit einer blakenden Kerze ihren Namenszug hingemalt. Der Alte folgte ihrem Blick und meinte:

»Ja, wenn man alles instandsetzen lassen wollte, das würde viel Geld kosten … Nun haben Sie das Zimmer also gesehen.«

»Ich werde hier schon gut aufgehoben sein«, erklärte das junge Mädchen.

Sie bezahlte die Miete für einen Monat voraus und ließ eine Stunde später durch einen Dienstmann ihren Koffer holen.

Es folgten zwei Monate schrecklicher Not. Da sie für Pépé die Pension nicht mehr bezahlen konnte, nahm sie ihn zu sich und ließ ihn auf einem alten Kanapee schlafen, das ihr Bourras lieh. Sie brauchte täglich genau dreißig Sous, die Miete inbegriffen; dabei lebte sie selbst von trockenem Brot, um nur dem Kleinen etwas Fleisch geben zu können. Die ersten zwei Wochen ging es noch leidlich; sie hatte ihre Wirtschaft mit zehn Franken begonnen, später hatte sie das Glück, die Krawattenhändlerin aufzuspüren, die ihr ihre neunzehn Franken bezahlte. Dann aber kam die bittere Not. Vergebens stellte sie sich in den verschiedenen Warenhäusern vor — in der toten Zeit standen überall die Geschäfte still, man vertröstete sie auf den Oktober; mehr als fünftausend Angestellte, die gleich ihr entlassen waren, lagen ohne Beschäftigung auf der Straße. Nun suchte sie kleine Arbeiten zu finden; da sie aber Paris nicht kannte, verstand sie nicht an der richtigen Stelle nachzufragen und nahm Aufträge an, die die Mühe nicht lohnten und die ihr auch nicht immer bezahlt wurden. An manchen Abenden gab sie nur Pépé eine Suppe und sagte, sie habe außerhalb schon gegessen. Zuweilen kam Jean und klagte sich als Bösewicht an, der an all dem Unglück schuld sei; sie war dann gezwungen, zu lügen und ihre traurige Lage zu verheimlichen; ja sie fand sogar bisweilen Mittel, ihm ein Vierzigsoustück zuzustecken, um ihm zu beweisen, daß sie noch etwas ersparen könne. In Gegenwart der Kinder weinte sie niemals. An Sonntagen war das enge Kämmerchen von der Heiterkeit der unbekümmerten Jungen erfüllt. War dann Jean zu seinem Lehrherrn zurückgekehrt und Pépé eingeschlafen, so verbrachte sie eine schlaflose Nacht in der Sorge über den morgigen Tag.

 

Dazu gesellten sich noch andere Unannehmlichkeiten. Die beiden Damen, die im ersten Stock wohnten, empfingen häufig sehr späte Besuche; zuweilen irrte sich ein Herr und stieg bis zum zweiten Stockwerk hinauf, wo er Denises Tür mit Faustschlägen bearbeitete. Da Bourras ihr gesagt hatte, sie möge nur ruhig bleiben und nicht antworten, vergrub sie ihren Kopf in das Kissen, um die Flüche der Männer nicht mehr zu hören. Dann wieder suchte ihr Nachbar, der Bäcker, mit ihr in Verbindung zu treten. Er kam erst am Morgen heim und lauerte ihr auf, wenn sie Wasser holen ging. Er machte sich sogar Löcher in die Wand, um sehen zu können, wie sie sich wusch; sie mußte daraufhin all ihre Kleider längs der Wand aufhängen. Noch mehr litt sie unter den Zudringlichkeiten auf der Straße, den fortwährenden Belästigungen der Passanten. Sobald sie hinunterging, um eine Kerze oder dergleichen zu kaufen, hörte sie rohe Worte von Männern, die sie oft bis in den dunklen Hof verfolgten, ermutigt durch das schmutzige Aussehen des Hauses. Warum hatte sie denn auch keinen Geliebten? Die Leute staunten darüber und fanden ihr Gehabe lächerlich. Sie mußte doch eines Tages nachgeben. Sie konnte sich selbst nicht erklären, wie es kam, daß sie widerstand, fortwährend bedrängt vom Hunger und von all den Begierden um sie her.

Eines Abends hatte Denise nicht einmal mehr Brot, um es in Pépés Suppe zu schneiden. Als sie heimkam, folgte ihr ein Herr. Vor dem Hauseingang wurde er frech, und sie schlug ihm in einer Anwandlung von Ekel die Tür vor der Nase zu. Oben sank sie zitternd auf einen Stuhl. Der Kleine schlief. Was sollte sie antworten, wenn er erwachte und zu essen verlangte? Sie hätte doch nur die Bewerbungen der Männer anzunehmen brauchen, und ihre Not hätte ein Ende gehabt, sie hätte Geld, Kleider, ein schönes Zimmer besessen. Es hieß schließlich, daß alle Mädchen darüber einmal hinwegkommen müßten; eine Frau konnte in Paris von ihrer Arbeit allein nicht leben. Aber ihr innerstes Wesen lehnte sich gegen eine solche Lebensweise auf.

In ihrer Erinnerung klang ein altes Lied auf von der Braut eines Matrosen, die durch ihre treue Liebe vor den Gefahren des Wartens bewahrt wird. Trug denn auch sie eine solche Liebe im Herzen, daß sie so standhaft war? Sie dachte noch immer an Hutin, aber es war eine unangenehme Erinnerung. Sie sah ihn am Morgen und am Abend unter ihrem Fenster vorübergehen. Er war jetzt Zweiter und ging nicht mehr in Gesellschaft der anderen. Er schaute niemals auf, und es war ihr, als schmerze sie die Eitelkeit dieses jungen Mannes; sie blickte ihm häufig nach, da sie keine Überraschung zu befürchten brauchte. Als sie aber merkte, daß auch Mouret jeden Tag vorüberging, befiel sie ein Zittern, sobald er sich näherte, und sie verbarg sich mit hochklopfendem Herzen. Er brauchte nicht zu wissen, wo sie wohnte; sie schämte sich dieses Hauses und litt bei dem Gedanken, daß er schlecht von ihr denken könnte, obgleich sie wußte, daß sie einander wohl schwerlich wieder begegnen würden.

Übrigens stand Denise noch immer unter dem Eindruck ihres bewegten Lebens im »Paradies der Damen«. Nur eine einfache Wand trennte sie von ihrer ehemaligen Abteilung. Auch bestimmten Begegnungen konnte sie nicht ausweichen. Sie war schon zweimal mit Pauline zusammengetroffen, die ihr ihre Dienste anbot und trostlos war, ihre Freundin unglücklich zu wissen; sie mußte Pauline sogar ihre Wohnung verheimlichen, damit diese sie nicht besuchte oder zu Baugé einlud. Noch sorgfältiger verschwieg sie ihre Lage vor Deloche; er spähte ihr nach, kannte alle ihre Nöte, wartete auf sie unter den Hauseingängen. Eines Abends wollte er ihr dreißig Franken aufdrängen, die Ersparnisse seines Bruders, wie er sagte. Diese Begegnungen führten dazu, daß sie vom »Paradies der Damen« nicht loskam, sich fortwährend mit dem Leben dort beschäftigte.

Niemand kam zu Denise herauf. Sie war daher sehr erstaunt, als es eines Tages an ihre Tür klopfte. Es war Colomban. Sie empfing ihn stehend. Er stotterte verlegen einige Worte, fragte sie, wie es ihr gehe, und erzählte vom »Vieil Elbeuf«. Bereute der Onkel seine Härte und hatte er ihn hergeschickt? Als sie den jungen Mann offen fragte, wurde er noch verlegener. Nein, nicht sein Chef habe ihn geschickt, sagte er, sondern er sei gekommen, um mit ihr über Claire zu sprechen. Er faßte allmählich Mut und fragte sie um Rat in der Meinung, daß ihm Denise bei ihrer ehemaligen Kollegin nützlich sein könnte.

Aber das war nun vollends verfehlt. Zu seiner Verzweiflung machte sie ihm auch noch Vorwürfe, daß er wegen eines so herzlosen Mädchens Geneviève kränke. Dennoch wiederholte er seine Besuche und war glücklich, wenn er sich mit jemandem unterhalten konnte, der mit Claire im gleichen Haus gearbeitet hatte. Denise selbst lebte durch diese Gespräche noch mehr im »Paradies der Damen«.

Gegen Ende September war ihre Not aufs äußerste gestiegen. Pépé war an einer bösen Erkältung erkrankt, sie hätte ihn mit Fleischbrühe füttern müssen und hatte nicht einmal Brot. Als sie eines Abends bitterlich schluchzte in einer jener fürchterlichen Stimmungen, die ein junges Mädchen in die Gosse der Großstadt oder in die Seine treiben, erschien der alte Bourras mit einem Brot und einem Topf voll Fleischbrühe.

»Nehmen Sie«, sagte er; »das ist für den Kleinen. Weinen Sie nicht so, das stört die übrigen Mieter.«

Als sie ihm schluchzend dankte, fügte er hinzu:

»Seien Sie doch still! … Kommen Sie morgen zu mir: ich habe etwas zu tun für Sie.«

Bourras beschäftigte keine Arbeiterinnen mehr, seit das »Paradies der Damen« den schrecklichen Schlag gegen ihn geführt hatte, eine Schirmabteilung einzurichten. Er machte von da an alles selber, um seine Kosten zu verringern. Seine Kundschaft hatte indessen dermaßen abgenommen, daß es ihm selbst manchmal an Arbeit fehlte. Er mußte daher für Denise, als sie am nächsten Morgen in seinem Laden erschien, sozusagen etwas erfinden. Er konnte seine Mieter doch nicht Hungers sterben lassen.

»Ich werde Ihnen täglich vierzig Sous geben«, sagte er; »wenn Sie was Besseres finden, können Sie es ja annehmen.«